Streit um die Ostukraine: „Das sind keine Terroristen“
Die Auseinandersetzungen im Donbass sind ein innerukrainischer Konflikt, sagt der Kiewer Soziologe Vlodomir Ishchenko. Er fordert sofortige Verhandlungen.
taz: Herr Ishchenko, handelt es sich bei dem Krieg in der Ostukraine um einen Konflikt zwischen dem Westen und dem Osten des Landes oder um eine Aggression Russlands?
Vlodomir Ishchenko: Es handelt sich um einen internen Konflikt. Der Westen und der Osten der Ukraine ticken sehr unterschiedlich, was Geschichte und das Verhältnis zur EU und Russland angeht. Nach dem Sturz von Janukowitsch haben Zehntausende in Donezk und Lugansk demonstriert und versucht, Gebäude zu besetzen. Das ist eine authentische, nicht von außen gesteuerte Bewegung. Sie war in Donezk und Lugansk erfolgreich, in Charkow nicht. Dieser Konflikt wurde im April von russischen freiwilligen Militanten gewaltsam eskaliert. Ich glaube nicht, dass reguläre russische Truppen involviert sind – anders als auf der Krim.
Igor Strelkow, Führer der Donbass-Miliz, soll für den russischen Geheimdienst arbeiten.
Strelkow hat schon in den 90er Jahren nationalistische Artikel in russischen Zeitungen veröffentlicht. Er ist ein Überzeugungstäter, eine Art Che Guevara des russischen Chauvinismus. Es ist möglich, dass im Donbass Agenten im russischen Auftrag unterwegs sind und dass Russland insgeheim Waffen liefert. Doch es gibt auch andere Akteure. Dort mischen lokale Oligarchen mit – und vor allem russische, gut trainierte, kriegserfahrene Freiwillige, die eine extrem nationalistische Agenda verfolgen.
Also keine gezielte, gesteuerte russische Intervention?
Es gibt dafür keinen Beweis. Es ist gar nicht in Russlands Interesse, den Donbass wie die Krim zu annektieren. Moskaus Ziel ist es, die Region in einen Zustand andauernder Instabilität zu versetzen. Russland will eine fügsame Regierung in Kiew – und nicht den verarmten Donbass versorgen müssen. Meinungsumfragen in Russland zeigen, dass trotz der Propaganda im dortigen TV nur rund 20 Prozent einen Anschluss des Donbass wollen.
Viele Ukrainer fürchten trotzdem, dass sich im Donbass das Krim-Szenario wiederholt.
Das ist unwahrscheinlich. Es gibt dort ein paar tausend Bewaffnete und die Anti-Maidan-Aktivisten, die beide schwer kontrollierbar sind. Die russische Regierung scheut Unkontrollierbares. Mit dem Donbass würde sie eine Revolution importieren, statt sie zu exportieren.
lebt in Kiew und ist Soziologe. Er ist der stellvertretende Direktor des Zentrums für Gesellschaftsforschung in Kiew und Dozent an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie. Er schreibt unter anderem für den Guardian.
Präsident Poroschenko hat für diese Woche einen Waffenstillstand angekündigt. Ist das ein ernsthafter Versuch, Frieden zu erreichen?
Ich fürchte nein. Ich glaube erst an einen Waffenstillstand, wenn die ukrainische Armee aufhört zu schießen. Poroschenko hat sich zudem eindeutig gegen eine Föderalisierung gewandt. Ohne die ist ein politischer Kompromiss aber unmöglich.
Würden die Separatisten denn einen Waffenstillstand akzeptieren?
Ich vermute ja. Schon weil sie militärisch hoffnungslos unterlegen sind.
Poroschenko will nicht mit Terroristen, wie er sie nennt, verhandeln …
Es ist verquer, die Separatisten dort als Terroristen zu bezeichnen. Was verbindet die Paramilitärs in Donezk mit der Hisbollah oder al-Qaida? Sie unterscheiden sich im Niveau von Gewalt, in der Ideologie, in der Kampfform. Von Terroristen zu sprechen ist Propaganda, nichts weiter.
Ist der Konflikt in der Ostukraine militärisch lösbar?
Nein. Wenn die Ukraine weiter Krieg führt, bedeutet das: mehr zivile Opfer, mehr Hass, mehr Unterstützung für die Paramilitärs im Donbass, eine Spirale der Gewalt. Die Alternative ist zu verhandeln. Jetzt sofort und ohne Vorbedingungen.
Ist eine weitere Eskalation unausweichlich?
Nein. EU, USA und IWF können Druck auf Poroschenko ausüben, wenn sie wollen. Die Ukraine ist hochverschuldet und völlig abhängig vom Westen. Janukowitsch konnte noch versuchen, Russland und den Westen gegeneinander auszuspielen. Das ist jetzt vorbei. Die Investitionen schrumpfen, gleichzeitig kostet der Krieg Geld. Der Westen kann Druck ausüben.
Die westlichen Regierungen haben aber das Krim-Szenario und Putins neoimperiale Politik vor Augen.
Bei der Krim liegt die Sache anders. Die Annexion der Krim ist eine inakzeptable Aneignung fremden Territoriums. Ich bin sehr dafür, dass der Westen deswegen harte, strikte Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt.
An welches Ziel sollen diese Sanktionen geknüpft werden?
Erstens: Rückzug der russischen Truppen. Dann ein international überwachtes Referendum, in der die Bewohner der Krim frei über ihre Zukunft entscheiden können. Die Krim muss nicht zwingend zur Ukraine gehören, falls eine Mehrheit dort etwas anderes will. Zudem müssen die Interessen der Krimtataren verlässlich berücksichtigt werden. Aber dazu wird es wohl nicht kommen.
Warum?
Weil die westlichen Staaten sehr interessiert sind, weiterhin Gas aus Russland zu beziehen.
Das russische TV inszeniert die Maidan-Bewegung und die Regierung in Kiew aggressiv als „Faschisten“. Wirkt diese Propaganda?
Die Darstellung in russischen Medien ist völlig überzogen und hat natürlich Auswirkungen. Aber viele Anführer der Maidan-Bewegung haben sich nie vom „Rechten Sektor“ distanziert. Einige Minister haben sich nie von der rechtsextremen Bandera-Ideologie und Nazi-Kollaborateuren distanziert. Das sind Tatsachen, keine Erfindungen. Auch nicht, dass die neue Regierung in Kiew Russisch den Status als besondere Regionalsprache aberkennen wollte …
… wozu es nicht kam.
Aber das hat im Osten Angst ausgelöst. Es gibt eine äußerst aggressive Art von Maidan-Unterstützern, über die Ostukraine zu reden. Juri Luzenko, Ex-Innenminister unter Juschtschenko, hat sie als Kartoffelkäfer bezeichnet, weil dort viele Schwarz-Orange tragen, die Farben der Weltkriegsveteranen. Wir Ukrainer wissen, was man mit Kartoffelkäfern macht, denn wir haben ganze Sommer auf dem Land bei unseren Großeltern damit verbracht, als Schädlingsbekämpfer Kartoffelkäfer zu vernichten. Luzenko ist kein Rechtsradikaler, sondern ein normaler Politiker, auch wenn er heute nicht mehr so wichtig ist. Es gibt andere, die genauso reden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Syrische Geflüchtete in Deutschland
Asylrecht und Ordnungsrufe
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Doku über deutsche Entertainer-Ikone
Das deutsche Trauma weggelacht
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Schwarz-Grün als Option nach der Wahl
Söder, sei still!