Streit über russische Deserteure: Zivilisatorisches Versagen
Wer nicht kämpft, kann nicht töten – nicht nur deshalb sollte jeder, der nicht für Russlands Präsident Putin sterben will, überall aufgenommen werden.
O b die jungen Männer, die seit Wladimir Putins Verkündung der Teilmobilmachung Ende September ihre sieben Sachen packen, um Russland zu verlassen, wohl je etwas von Boris Vian gehört haben? Gut möglich, schließlich wurde sein „Le Déserteur“ in Dutzende Sprachen übersetzt, auch ins Russische. Jedenfalls kommt einem bei den Nachrichten über die Zehntausende Russen, die versuchen, sich der Zwangsrekrutierung für den Ukrainekrieg zu entziehen, das legendäre Chanson des französischen Schriftstellers aus dem Jahr 1954 in den Sinn: „Bevor die Hähne kräh’n / Verrammel ich die Türen / Ich will mein Leben spüren / Und mach’ mich auf den Weg“, wie Wolf Biermann Vian ins Deutsche übersetzt hat. „Monsieur le President / Ihr seid für’s Blutvergießen? / Allez! Lasst Eures fließen / Das wär ’ne gute Tat!“
Wer nicht in der Ukraine kämpft, der kann nicht in der Ukraine töten. Allein schon deshalb sollte jeder, der sich nicht von Putin verheizen lassen will und durch Flucht die Kampfkraft und -moral der russischen Truppen schwächt, überall mit offenen Armen aufgenommen werden. Zahlreiche europäische Staaten haben jedoch stattdessen ihre Grenzen für russische Kriegsverweigerer geschlossen. Was für ein zivilisatorisches Versagen!
Solch inhumanes wie unvernünftiges Vorgehen wünscht sich der neue ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev auch von der Bundesrepublik. Es wäre „falsch von Deutschland, russische Deserteure aufzunehmen“, hat er verkündet. Schließlich wollten die sich bloß „vor dem Militärdienst drücken“ und „nur nicht im Krieg sterben“. Damit liegt Makeiev ganz auf der Linie seines Vorgängers Andrij Melnyk, der bekundet hat, er hielte es für eine „katastrophale Entscheidung“, wenn russischen Männern Asyl in der Bundesrepublik gewährt würde, „NUR weil sie (…) keinen Bock auf ihre eigene Ruhestätte in der Ukraine haben“.
Im Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.“ Doch nach der international gängigen Rechtsauffassung gibt das leider den wehrfähigen Menschen noch nicht das Recht, sich zum Schutz ihres Lebens einem Krieg durch Flucht zu entziehen. Selbst wenn sie sich dem militärischen Wahn eines verbrecherischen Regimes verweigern wollen, reicht das als Asylgrund alleine nicht aus. „Selbstverständlich ist jemand kein Flüchtling, nur weil er aus Furcht, kämpfen zu müssen, oder aus Abneigung gegen den Militärdienst desertiert ist oder den Dienst erst gar nicht angetreten hat“, ist dazu im Handbuch des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft zu lesen. So unmenschlich es ist: Die Furcht vor Strafverfolgung und vor Bestrafung wegen Desertation oder der Weigerung, einer Einberufung Folge zu leisten, stellen keinen Grund dar, um Anrecht auf Asyl zu haben.
Kriegsverweigerung ist ein Menschenrecht. Auch wenn sie als solches nicht allgemein anerkannt wird. Aber warum nicht? Weil Desertation in der ganzen Welt als strafbare Handlung geahndet wird – nicht nur in autoritären Regimen. Fahnenflüchtlinge will man nirgendwo haben. Weshalb auch Boris Vians grandioses „Le Déserteur“ mehrere Jahre – und zwar während des Algerienkrieges – in Frankreich verboten war. „Der Deserteur ist in allen Armeen der schlimmste Feind, schlimmer als der Feindsoldat, denn er widersteht dem Befehl zum Töten und nimmt lieber den eigenen Tod in Kauf“, schrieb einst der Schriftsteller Gerhard Zwerenz, der einzige Deserteur, der je dem Bundestag angehörte. Dabei ist selbst ein „gerechter“ Krieg immer noch ein Krieg, niemand sollte dazu gezwungen werden, gegen seinen Willen in ihn zu ziehen. Das gilt übrigens auch für jene Ukrainer zwischen 18 und 60 Jahren, die seit Kriegsbeginn ihr Land nicht mehr verlassen dürfen, um für die Verteidigung herangezogen werden zu können. Kein Staat hat das Recht, Menschen zum Töten anderer Menschen zu zwingen.
Gleichwohl ist die Diskussion über die russischen Kriegsverweigerer eine besonders aberwitzige. Denn sie ist nicht nur zynisch, sondern steht auch im Widerspruch zur Rechtsauffassung des UNHCR. Danach gibt es für Deserteure und Militärdienstflüchtlinge durchaus einen Flüchtlingsschutz, wenn sich „die Art der militärischen Aktion, mit der sich der Betreffende nicht identifizieren möchte, von der Völkergemeinschaft als den Grundregeln menschlichen Verhaltens widersprechend verurteilt wird“.
Deutschland steht in einer besonderen historischen Verantwortung, nicht nur den russischen Deserteuren und Militärdienstverweigerern Schutz zu gewähren. Denn es sollte nie vergessen werden, wie unfassbar lange es gedauert hat, bis dieser Staat jene nicht mehr als Aussätzige betrachtet hat, die einst nicht für Hitlers Wehrmacht kämpfen wollten. Über 30.000 sogenannte Fahnenflüchtige, „Wehrkraftzersetzer“ oder „Kriegsverräter“ hat die Nazi-Militärjustiz zum Tode verurteilt, mehr als 20.000 wurden hingerichtet, Tausende kamen in Konzentrationslagern und Strafbataillonen ums Leben. Weniger als 4.000 deutsche Deserteure überlebten den Zweiten Weltkrieg. Und die Überlebenden mussten sich in der Bundesrepublik als „Feiglinge“, „Verräter“ und „Volksschädlinge“ beschimpfen lassen. Erst 1998 hob der Bundestag einen Teil der Unrechtsurteile auf. Es dauerte weitere vier Jahre, bis das deutsche Parlament die Deserteure rehabilitierte. Schließlich wurden 2009 pauschal die Urteile wegen „Kriegsverrats“ aufgehoben.
2018 starb mit 96 Jahren Ludwig Baumann, der letzte Wehrmachtsdeserteur. Von den Nazis zum Tode verurteilt, hatte er Jahrzehnte für seine Rehabilitierung kämpfen müssen. Zu seiner Motivation, als 20-jähriger Marinegefreiter zu desertieren, sagte Baumann einmal: „Die Wahrheit ist: Ich wollte nicht töten. Und ich wollte leben.“ Das reicht als Grund. Das muss reichen. Auch heute.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pro und Contra Letzte Generation
Ist die Letzte Generation gescheitert?
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Die Linke im Bundestagswahlkampf
Kleine Partei, großer Anspruch
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich