Illustration: eine Frau klopft gegen den Limburger Dom ,der unter einer Käseglocke steckt

Illustration: Yvonne Kuschel

Sexualisierte Gewalt und Kirche:„Die haben Mauern hochgezogen“

Ein Fall von sexueller Belästigung im Bistum Limburg wirft die Frage auf. Wie ernst nimmt es Bischof Georg Bätzing mit der Aufarbeitung?

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22.5.2021, 18:37  Uhr

Frauen, die sexuell belästigt werden, wird unter anderem Folgendes empfohlen: Sprich über das Erlebte, geh zur Polizei, erstatte Anzeige, informiere Vorgesetzte, wenn die Belästigung im Arbeitsumfeld stattfand. Nimm Zeu­g*in­nen mit in heikle Gespräche, sichere Beweise, die den Übergriff dokumentieren oder andeuten.

Sarah Nafisi hat all das getan, nachdem sie im vergangenen Sommer sexuell belästigt wurde. Und trotzdem erfährt sie keine Gerechtigkeit. Denn sie hat einen mächtigen Gegner: die katholische Kirche.

Die katholische Kirche zeigt sich seit einiger Zeit bemüht, ihre eigene Geschichte von sexuellem Missbrauch aufzuarbeiten. Die systematische Vertuschung soll zu Ende sein. Jetzt sei die „Zeit der Ehrlichkeit“, hat Bischof Georg Bätzing kürzlich gesagt. Er verspricht öffentlich „Entschiedenheit im Umgang mit dieser dunklen, bis heute wirksamen Vergangenheit“. Bätzing ist der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und er ist Bischof von Limburg, also genau von jenem Bistum, in dem Sarah Nafisi sexuell belästigt wurde.

Der Fall wirft die Frage auf, ob das Bistum tatsächlich so entschieden vorgeht – oder dann doch ausweicht, verschleppt, schweigt, wenn es konkret wird.

Die Grenzen

Die katholische Kirche mag ein mächtiger Gegner sein, aber Sarah Nafisi ist gewappnet. Sie hat ein Jura­studium abgeschlossen, hat sich eingelesen ins Sexualstrafrecht. Sie ist zur Polizei gegangen und durch die Instanzen der katholischen Kirche. Und doch zeigt ihre Geschichte auch, wie Frauen, die nach einer solchen Tat augenscheinlich alles richtig machen, immer wieder an Grenzen stoßen.

Sarah Nafisi heißt anders; sie will nicht, dass diese Geschichte sie ihr Leben lang begleitet, deswegen steht in diesem Text nicht ihr richtiger Name. Nafisi ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, ihre Eltern stammen aus Iran. Sie ist 29 Jahre alt und lebt in Frankfurt am Main. Nafisi spricht mit fester Stimme, sie redet schnell und viel; wenn sie spricht, hört man die Juristin durch, mit einem klaren Kompass für Recht und Unrecht. Als sie das Gefühl bekommt, dass die Kirche ihr Unrecht getan hat, recherchiert sie im Internet nach vertrauenswürdigen Journalistinnen. Sie erstellt eine anonyme Mailadresse und kontaktiert eine taz-Kollegin.

Die taz hat über Wochen immer wieder mit Nafisi gesprochen. Sie hat Gespräche geführt im Umfeld von Nafisi und im Umfeld der Gemeinden, in denen der Beschuldigte gearbeitet hat. Sämtliche Dokumente, die in diesem Text erwähnt werden, Protokolle, Mails, SMS, liegen der taz vor.

Der Kirchenmann

Neben ihrem Studium hat Sarah Nafisi viele Jahre für ein kirchliches Schulprojekt gearbeitet. Sie selbst ist nicht religiös, weder muslimisch noch katholisch. Aber das Projekt gefiel ihr: Kinder aus dem Stadtteil, die Probleme in der Schule oder zu Hause haben, bekommen kostenlos Nachhilfe. Als Leh­re­r*in­nen arbeiten dort vor allem junge Frauen, oft sind es Studierende.

Geleitet wird das Projekt von dem Pastoralreferenten der Gemeinde. Pastoralreferenten haben eine theologische Ausbildung, sind aber keine Priester und leben nicht zölibatär. Sie sind Seelsorger, für die Jugendarbeit zuständig und die Erwachsenenbildung.

Der Mann, der Nafisi belästigt haben soll, ist auch Fachkraft zur Prävention von sexueller Gewalt. Als solcher hatte er unter anderem den Auftrag, für das Bistum ein Schutzkonzept zur Prävention von sexualisierter Gewalt zu erarbeiten.

Er soll für diesen Text Christian C. heißen. In dem Nachhilfeprojekt, für das auch Nafisi arbeitete, hat er die Fäden in der Hand: Er hält den Kontakt zu den Sponsoren, stellt neue Leh­re­r*in­nen an. Er unterschreibt ihre Arbeitsverträge, ist also so etwas wie ihr Vorgesetzter. Nett und aufgeschlossen sei er gewesen, erzählen Frauen, die mit ihm gearbeitet haben.

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Auch Nafisi hat guten Kontakt zu Christian C. Sie arbeitet viel in dem Projekt, vernachlässigt ihr Studium teilweise dafür. Aber im Frühsommer, nach der ersten Coronawelle, gerät sie in eine Krise. Sie steht kurz vor dem Abschluss ihres Studiums, ist durch wichtige Prüfungen gefallen, kommt mit den Kom­mi­li­to­n*in­nen nicht zurecht. Von ihrer Familie fühlt sie sich unverstanden, ihre beste Freundin ist weit weg. Sie bekommt Probleme mit ihren Ohren, Gleichgewichtsstörungen, schließlich muss sie ins Krankenhaus. Psychosomatisch, sagen die Ärzte.

In dieser Zeit schreibt Christian C. ihr Mails und SMS: „Wäre schön, wenn wir uns mal sehen und wenn es nur im Video ist“, „Du bist ein wertvoller Mensch und ich schätze dich sehr“, „Wenn du Unterstützung brauchst, kannst du mich anrufen“. Er schreibt vom Tod seines Onkels, gratuliert Nafisi zu einer bestandenen Prüfung, wünscht ihr Kraft. „Das war nicht ungewöhnlich“, erzählt Nafisi heute. „Er hatte zu all meinen Kolleginnen ein freundschaftliches Verhältnis. Für uns war er ein Kirchenmann: sehr emphatisch und immer freundlich.“ Das bestätigen auch andere Frauen, die in dem Projekt gearbeitet haben.

Nafisi sucht professionelle Hilfe für ihre Krise, eine Psychotherapie kommt aber nicht infrage. Sie weiß noch nicht, was sie mit ihrem Jurastudium anfangen will, im Falle einer Verbeamtung könnte eine Psychotherapie ein Nachteil sein. Aber das, was C. ihr anbietet, klingt für sie nach einem guten Ersatz: Als Seelsorger unterliege er der Schweigepflicht, habe er ihr erzählt. In einer Mail schreibt er ihr: „Ich habe damals Hilfe von anderen angenommen und professionelle Hilfe gesucht. Alleine geht so etwas selten.“

Sie braucht Hilfe, er bietet sie an. Privat oder als Seelsorger?

Nafisi hat keine Erfahrung mit kirchlicher Seelsorge. C. habe ihr erklärt, dass es dafür kaum Regeln gebe, die Hauptsache sei Vertrauen. Wenn es ihr leichter falle, außerhalb der Kirche zu sprechen, dann könnten sie sich auch in einem Café treffen.

Im Juni treffen sie sich dort zum ersten Mal. Zu Beginn des Gesprächs, so gibt Nafisi es später im Bistum zu Protokoll, habe C. auf seine Schweigepflicht hingewiesen, er trat als Seelsorger auf. Sie reden über Nafisis Probleme mit der Uni, der Familie, mit Beziehungen und Freundinnen.

Ein „blöder Vorfall“

Einige Tage später treffen sie sich wieder. Es fällt Nafisi schwer zu sprechen. Christian C. habe gesagt, wenn es sie entspanne, könne sie ein Glas Wein bestellen. Das tut sie, er auch. Christian C. erzählt dieses Mal auch aus seinem Privatleben, von den Problemen mit seiner Tochter, von seiner Beziehung, seiner Laufbahn in der Kirche. „Ich dachte, er macht das, um mir zu helfen, mich zu öffnen“, sagt Nafisi.

Doch dann habe er etwas erzählt, das sie irritiert habe: Frauen gegenüber sei er vorsichtig. In seiner alten Gemeinde habe es einen blöden Vorfall gegeben, eine angebliche sexuelle Belästigung. Er sei tanzen gewesen mit Bekannten. Dabei habe er eine der Frauen an der Brust gestreift – die habe daraus eine Belästigung gemacht, weil er ihre Liebe nicht erwidert habe. Ein Disziplinarverfahren habe es gegeben, Supervision habe er machen müssen. „Ich habe ihm die Opferrolle voll abgenommen“, sagt Nafisi.

Nach dem Treffen schickt C. ihr eine Mail: Sie habe doch erzählt, dass ihre Freundin eine Wohnung suche. Er habe da eine Idee, sie könne seine haben, als Untermieterin, schreibt er: beste Lage, 90 Quadratmeter. Das kann die Freundin nicht bezahlen, antwortet Nafisi. „Ich habe in meinem Leben viel Glück gehabt …“, schreibt C. und bietet die Wohnung für 700 Euro an, weit unter dem Marktpreis. Nafisi lehnt ab.

Es gibt keine Zeugen – aber gute Gründe, ihrer Version zu glauben

Mitte August treffen sie sich erneut in einer Bar. Anschließend laufen sie ein Stück zusammen und kommen an seiner Wohnung vorbei. Ob Nafisi sie sehen wolle, er habe sie ihr doch angeboten. Nafisi möchte nicht, sie möchte nach Hause. „Aber ich wollte nicht unhöflich sein. Er hatte sich meine Probleme angehört, hatte so ein großzügiges Angebot gemacht, da wollte ich nicht einfach abhauen“, erzählt sie. Nicht eine Sekunde habe sie gedacht, dass er ihr etwas tun würde. „Er ist doppelt so alt wie ich, war für mich immer wie eine väterliche Vertrauensfigur.“ Sie klingt zweifelnd, wenn sie das heute erzählt. Sie kann nicht verstehen, wie sie so naiv sein konnte.

Sie fahren mit dem Aufzug hoch, betreten die Wohnung, er schließt hinter ihnen ab. So erzählt sie es der taz, so gibt sie es später bei der Missbrauchsbeauftragten des Bistums zu Protokoll, so erzählt sie es der Polizei. Christian C. führt sie durch die Wohnung, zeigt ihr Bücher, spricht über Kunst. Sie fühlt sich unwohl, möchte schnell wieder aus der Wohnung. Aber sie erinnert sich, dass er die Tür abgeschlossen hat. Sie läuft mit, bis sie vor einem Zimmer mit einem Bett stehen.

Plötzlich tritt C. auf sie zu, umarmt sie, sie spürt sein Glied zwischen ihren Beinen. So erzählt sie es der taz und der Polizei. Sie ist wie versteinert. C. streichelt ihre Wange, über ihr Gesäß, ihre Seite, ihre Brüste, er sagt, sie sehe so traurig aus. Nafisi bekommt Angst, beginnt zu zittern, ein Fiepen setzt in ihrem Ohr ein, so erinnert sie sich. C. sagt, sie solle sich auf das Bett setzen. Das tut sie, weil sie Angst hat, in Ohnmacht zu fallen.

C. legt seine Hand auf ihr Schlüsselbein und sagt bestimmt, aber nicht aggressiv, sie solle sich zurücklegen. Dann küsst er sie auf den Mund.

SMS von Seelsorger Christian C. nach dem Übergriff

„Hej […], ich war blöd und besoffen. Es tut mir leid“

„Da überkam mich der Ekel“, sagt sie heute. Sie reißt sich aus ihrer Versteinerung, springt auf und rennt zur Tür. Der Schlüssel steckt, sie dreht ihn um, die Tür geht auf, sie rennt die Stufen runter. Auf der Straße rennt sie weiter, bis sie vor einer Polizeiwache steht. Sie weint und zögert. Nach einer Weile tritt sie ein und macht eine Aussage.

Für das, was in der Wohnung passiert ist, gibt es keine Zeugen. Es gibt nur die Erzählungen von Sarah Nafisi und von Christian C. war für die taz nicht zu erreichen. Aber es gibt gute Gründe, ihrer Version zu glauben: Sie hat sie mehrmals und immer gleich verschiedenen Stellen erzählt, der Polizei, dem Bistum, der taz. Sie hat sie Freundinnen erzählt, mit denen die taz gesprochen hat. Und es gibt SMS von Christian C., die darauf hindeuten, dass in seiner Wohnung etwas passiert sein muss, von dem auch er denkt, dass es falsch war.

Während Sarah Nafisi nach dem Übergriff bei der Polizei sitzt, klingelt ihr Handy. C. ruft immer wieder an, schreibt SMS: „Hej […], ich war blöd und besoffen. Es tut mir leid…“. Kurz darauf: „Komm gut heim…“, Kurz darauf: „Können wir noch mal reden!?“

Der Pfarrer

Der Polizeibeamte nimmt Nafisis Aussage auf. Sie nimmt ein Taxi nach Hause. Aufgelöst ruft sie ihre Freundin an. Sie habe geweint und wirkte durcheinander, erzählt die Freundin später der taz.

Am nächsten Morgen bekommt Nafisi noch mehr SMS von C. „[…] ich entschuldige mich dass ich mich unprofessionell verhalten habe und dabei nicht auf dich geachtet habe. Es tut mir sehr leid.“ Am Nachmittag schreibt er: „Liebe […], ich weiß dass ich einen großen Fehler gemacht habe und dich enttäuscht habe. Das tut mir aufrichtig leid. Wenn du irgendwann wieder mit mir kommunizieren könntest, würde ich mich freuen.“ Am nächsten Tag: „[…] ich schäme mich so dass ich dich verletzt und enttäuscht habe. Einfach nur scheisse von mir. Kannst du gar nicht gebrauchen…“

Sie antwortet nicht. Stattdessen kündigt sie ihren Job als Nachhilfelehrerin und holt sich Beistand. Ein Rechtsanwalt berät sie, sie stellt Strafanzeige. Nafisi spricht mit dem Pfarrer der Gemeinde, er ist der Vorgesetzte von C. Sie nimmt eine Freundin mit, als Zeugin. Es sei ein nettes Gespräch gewesen, erzählt Nafisi der taz. Der Pfarrer habe ihr sofort zu verstehen gegeben, dass er keinen Grund habe, an ihrer Aussage zu zweifeln. Dass ihm leid tue, was passiert sei. Und dass C., der Beschuldigte, den Vorfall bereits am Telefon gestanden habe. Er sei daraufhin sofort freigestellt worden.

So erzählt es auch die Freundin, die bei dem Gespräch dabei war. Der Pfarrer möchte mit der taz nicht sprechen.

Nafisi fühlt sich verstanden, nur eine Sache ärgert sie: Sie fragt den Pfarrer, wie es sein kann, dass ein Mann, der bereits ein Disziplinarverfahren wegen sexueller Belästigung hatte, in einem Job eingesetzt werde, in dem er wieder mit jungen Frauen zu tun habe. Der Pfarrer erwidert, so erzählt es Nafisi, und so bekräftigt es später auch ihre Freundin gegenüber der taz, dass ihm das leid tue. Dass ein Mann mit so einer Geschichte als Seelsorger und als geschulte Fachkraft zur Prävention von sexualisierter Gewalt eingesetzt wurde, sei ein Fehler gewesen.

Die Untersuchung

Das Bistum Limburg gilt als eines, das die Aufarbeitung von sexuellen Übergriffen besonders vorantreibt. Im vergangenen Juni stellte das Bistum sein Projekt „Betroffene hören – Missbrauch verhindern“ vor. Es gibt ein Video von der Präsentation in der Frankfurter Paulskirche im Internet. Eröffnet wird die Veranstaltung von einem Mann, der als Messdiener von einem Kaplan missbraucht und vergewaltigt wurde. Er berichtet von den Schlafstörungen, Depressionen und Suizidversuchen, die ihn seitdem begleiten.

Die Untersuchung, die an jenem Junitag präsentiert wird, ist eine der umfassendsten, die ein deutsches Bistum je zu diesem Thema durchgeführt hat. Unabhängige Fachleute haben dafür die Archive des Bistums durchsucht und 46 aktenkundige Fälle von sexuellem Missbrauch aufgerollt. Sie fanden schwersten sexuellen Missbrauch, traumatisierte Betroffene und Beschuldigte, die keine Reue zeigen. Es gebe keinen Grund, die Täter und Vertuscher zu schonen, sagt Josef Bill vor pandemiebedingt spärlich besetzten Rängen. Aus juristischen Gründen habe man sich aber entschieden, die Namen der Täter nur den Verantwortlichen des Bistums zu nennen, nicht aber öffentlich.

Bill ist Richter im Ruhestand und war an dem Projekt beteiligt. Es ist eine getragene Stimmung in der geschichtsträchtigen Paulskirche. Durch alle Reden weht die Erkenntnis, dass die katholische Kirche große Schuld auf sich geladen hat.

Das Bistum Limburg will die Ausbildung von Seelsorgern überarbeiten, die Position von Frauen stärken, klerikale Machtstrukturen aufbrechen. Eine „Kultur des Hinsehens“ etablieren, „sexualisierte Gewalt bestmöglich verhindern, Vertuschung und Bagatellisierung unmöglich“ machen, so steht es auf der Webseite.

Die Leugnung

Drei Monate nachdem all das öffentlich beklatscht wird, geht Sarah Nafisi durch die Instanzen des Bistums. In den Wochen nach dem Übergriff habe sie sich wie in einer Seifenblase gefühlt, merkwürdig abgekapselt von der Welt. Sie googelt wieder und wieder den Namen von Christian C. – wo kam er her, was war das für ein Delikt in seiner alten Gemeinde, wo ist er jetzt?

Sie meldet den Übergriff der Missbrauchsbeauftragten im Bistum. Auch bei diesem Gespräch ist eine Freundin als Zeugin dabei, ein Protokoll wird angefertigt, dass alle Anwesenden unterschreiben. „Die Gesprächsatmosphäre war anders als bei dem Pfarrer, kühler und distanzierter“, sagt Nafisi. Aber eine Sache habe ihr Hoffnung gemacht: Die Missbrauchsbeauftragte erzählt, dass Christian C. gegenüber dem Pfarrer den „Übergriff vollumfänglich zugegeben“ habe. So steht es auch in dem Protokoll.

Fünf Wochen später erhält Nafisi eine Mail von dem Personaldezernenten des Bistums. Was dort steht, kann sie kaum glauben: Der Beschuldigte C. sei angehört worden. Er bestreite den Kuss und die Berührungen. Die Treffen habe er als privat betrachtet, da beide aus ihrem Privatleben erzählt hätten, Alkohol getrunken wurde und ein Gespräch in der Privatwohnung stattgefunden habe. „So mussten wir hier zum Schluss kommen, dass es möglicherweise zum Eindruck eines seelsorglichen Gesprächs gekommen sein mag, dies aber von Seiten Herrn […] nicht intendiert war.“

Dieser Satz ist zentral – denn wenn das Bistum die Gespräche zwischen Christian C. und Sarah Nafisi als Seelsorge anerkannt hätte, dann hätte das anlaufen können, worauf die katholische Kirche sehr stolz ist, die „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- oder hilfebedürftiger Erwachsener durch Kleriker und sonstige Beschäftigte im kirchlichen Dienst“. Sie regelt, wie die Kirche sexuellen Missbrauch und Übergriffe aufarbeitet: transparent für die Betroffenen zum Beispiel und mit arbeitsrechtlichen Folgen für den Täter.

All das aber, so geht es aus der Mail des Bistums hervor, wird in Nafisis Fall nicht passieren. Er könne verstehen, schreibt der Personaldezernent, dass Nafisi die Entscheidung nicht nachvollziehen könne. Allerdings stehe „Aussage gegen Aussage“. Herr C. sei vom Bistum dafür sensibilisiert worden, „dass er künftig darauf achtet, dass bei seinen privaten Treffen kein falscher Eindruck im Hinblick auf seinen Beruf entsteht“. Außerdem werde man nach einem neuen Betätigungsfeld für ihn suchen.

Sarah Nafisi ist noch heute fassungslos, wenn sie über diese Mail spricht: „Wenn Christian C. den Kuss und die Berührung bestreitet, wieso weist das Bistum dann trotzdem auf den ‚privaten Kontext‘ hin? Und wenn das alles so privat war, wieso hat sich C. für sein ‚unprofessionelles Verhalten‘ entschuldigt? Wieso suchen sie einen neuen Job für ihn, wenn doch angeblich nichts passiert ist?“

Nafisi reiht die Fragen stakkatohaft aneinander. Sie hat sie, so wirkt es, in ihrem Kopf in den letzten Monaten immer wieder abgespult.

Auf Anfrage der taz schreibt der Pressesprecher des Bistums, Stephan Schnelle: „Die Verantwortlichen im Bistum Limburg haben sich intensiv mit den Beschuldigungen befasst.“ Man habe den Beschuldigten angehört, Einblick in die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten genommen und eine eigene Prüfung durchgeführt. Die Verantwortlichen des Bistums seien so zu der Schlussfolgerung gekommen, dass es sich bei den Treffen „um private Begegnungen handelte und nicht um seelsorgliche Situationen“, „um einen Vorgang unter zwei Erwachsenen außerhalb eines dienstlichen Kontextes“.

Eine Frau wird in eine Wohnung gelockt, darüber ein Kreuz, Illustration

Illustration: Yvonne Kuschel

Dass der Beschuldigte Christian C. sich gegenüber Sarah Nafisi für sein „unprofessionelles Verhalten“ entschuldigt habe, sei dem Bistum bekannt. Aber: „Da es sich bei ‚unprofessionellem Verhalten‘ um einen weitgefassten und interpretierbaren Begriff handelt, ist uns nicht bekannt, was der Absender in dem Kontext damit konkret meinte.“

Nur ist das mit den „privaten Begegnungen“ gar nicht so einfach bei Menschen, die für die katholische Kirche arbeiten. Ihre Arbeitsverträge beinhalten eine Klausel, die auch ihr Privatleben betrifft. „Alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“, steht unter Paragraf 4, Absatz 4 „haben kirchenfeindliches Verhalten zu unterlassen. Sie dürfen in ihrer persönlichen Lebensführung und in ihrem dienstlichen Verhalten die Glaubwürdigkeit der Kirche und der Einrichtung, in der sie beschäftigt sind, nicht gefährden.“ Selbst wenn die Treffen von Christian C. und Nafisi also privat waren – widerspricht C.s Verhalten dann nicht trotzdem seinem Vertrag mit der Kirche?

„Es mag ein Verstoß gegen Loyalitätsobliegenheiten vorliegen“, antwortet der Pressesprecher des Bistums der taz. Auch daher sei C. mittlerweile mit einem anderen Aufgabenfeld beauftragt worden.

„Dass die Kirche die seelsorgliche Beziehung hier komplett verneint, ist ein starkes Stück“, sagt Barbara Hasl­beck. Sie ist katholische Theologin und berät Frauen, die im kirchlichen Raum Gewalt erlebt haben. Im vergangenen Jahr hat sie zusammen mit drei Kolleginnen das Buch „Erzählen als Widerstand“ herausgegeben. Darin berichten 23 Frauen von dem spirituellen und sexuellen Missbrauch, den sie erlebt haben. Das Buch hat eine Debatte vorangebracht, die seit kurzer Zeit zaghaft in der katholischen Kirche anläuft: dass auch Erwachsene Opfer von sexuellen Übergriffen in der Kirche werden.

Das Muster

Lange hat sich die Kirche nur mit dem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Die erste große Studie zum Thema, die sogenannte MHG-Studie, machte das Ausmaß ansatzweise klar. Ein Konsortium aus Ex­per­t*in­nen aus Mannheim, Heidelberg und Gießen – daher der Name MHG-Studie – hat dafür die Personalakten von über 38.000 Klerikern untersucht, die zwischen 1946 und 2014 in den deutschen Bistümern tätig waren. Die Ergebnisse brachten Erschütterndes zutage: Mehr als 3.677 Kinder und Jugendliche wurden in dieser Zeit Opfer von sexuellem Missbrauch, die meisten waren Jungen. 1.670 Täter haben mutmaßlich missbraucht, Priester, Ordensmänner und Diakone, das entspricht gut 4 Prozent aller Kleriker, deren Personalakten untersucht wurden. Ex­per­t*in­nen sind sich sicher, dass die tatsächlichen Zahlen höher sein dürften.

Angestoßen von der Studie und der Diskussion darüber berichten nun auch immer mehr erwachsene Frauen von ihren Erfahrungen. „Es melden sich nicht nur Nonnen“, sagt Barbara Hasl­beck, „Es sind ganz verschiedene Frauen darunter, junge, alte, konservative, liberale.“ #Metoo, so scheint es, ist in der Kirche angekommen.

Sie fühlt sich von der Kirche nicht ernst genommen. Das sei schlimmer als der Übergriff selbst

Barbara Haslbeck will sich kein endgültiges Urteil über den Fall von Sarah Nafisi anmaßen, sie kennt ihn nur aus der Schilderung der taz. Aber sie sagt, vieles daran erinnere sie an Geschichten, die sie immer wieder gehört habe. Dass hier ausgerechnet eine vermeintliche Seelsorgesituation zu dem sexuellen Übergriff geführt habe, überrascht sie nicht. „Eine klassische Strategie von Tätern ist es oft, Frauen in der Situation der Krise an sich zu binden.“ Dabei spielt es für Haslbeck keine Rolle, in welchem Rahmen die Gespräche stattgefunden haben. „Der Täter hat den Vertrauensvorschuss, er begegnet der Frau in seiner Rolle als Kirchenmann. Und als solcher nutzt er ihre Verletzbarkeit und Unsicherheit aus.“

Der Übergriff, den Sarah Nafisi erlebt hat, ist im Vergleich zu vielen anderen Fällen von sexualisierter Gewalt in der Kirche weniger schwerwiegend. Dennoch stellt sich die Frage: Wenn die Kirche schon bei einem solchen Fall so intransparent vorgeht, wie geht sie dann erst mit den schweren Fällen um?

Sarah Nafisi fühlt sich von der Kirche nicht ernst genommen. „Wie die Kirche mit mir umgegangen ist, war für mich schlimmer als der Übergriff selbst“, sagt sie heute.

Eine Entschuldigung habe sie sich gewünscht, irgendein Signal der Anteilnahme. „Stattdessen haben die ihre Mauern immer weiter hochgezogen.“

Der Personaldezernent des Bistums macht ihr mit seiner Mail deutlich, dass er die Kirche nicht in der Verantwortung sieht – und das, obwohl Christian C. den Übergriff anfänglich gestanden hatte. Sarah Nafisi schreibt dem Bistum zurück. Auf fünf DIN-A4-Seiten erklärt sie, wie sie sich die Ermittlungen des Bistums gewünscht hätte: Aussagen gegenüberstellen, Beweismaterial sichern, Zeugenaussagen hinterfragen. Die Mail liest sich wie ein Plädoyer im Gerichtssaal.

Der Personaldezernent antwortet, das Bistum sei keine gerichtliche Ermittlungsbehörde. Sollte die Staatsanwaltschaft zu Erkenntnissen kommen, würde das Bistum dienstrechtliche Aspekte betrachten.

Der Polizist

Drei Wochen später erhält Nafisi einen Brief der Staatsanwaltschaft: Das Verfahren wurde eingestellt. Eine Straftat konnte nicht nachgewiesen werden. Der Beschuldigte, Christian C., hatte in jener Nacht in seiner Wohnung keine Gewalt gegen Nafisi angewendet. Er hat Nafisi nicht gedroht und war nicht aggressiv. Gegenüber der Polizei verweigerte er die Aussage.

Es ist die zweite große Enttäuschung für Nafisi: dass sie nicht nur an der Kirche, sondern auch an der staatlichen Strafverfolgung scheitert.

Denn es ist nicht nur die Absage der Staatsanwaltschaft, die Nafisi wütend macht. Vielmehr ärgert sie sich über den Polizisten, bei dem sie nach dem Übergriff ihre Aussage gemacht hatte. Am Tag danach rief er sie auf ihrem Handy an. Er wisse, habe er gesagt, dass er sich auf dünnes Eis begebe, wenn er eine Frau in einem laufenden Sexualverfahren anflirte. Aber er wollte ihr nur seine Privatnummer anbieten. Sie wiegelt ab, so erzählt sie es der taz. Am Abend schreibt er ihr von eben jener Privatnummer Whatsapp-Nachrichten, die der taz vorliegen: „Hii… anstatt einer Email [Polizeiemoji].“ Sie antwortet, sie wolle das hier auf einer professionellen Ebene belassen.

Das Nachspiel

Drei Monate lange ruht die Geschichte. Im Februar schreibt Nafisi eine Mail an ihre Kolleginnen aus dem Nachhilfeprojekt und erklärt, warum sie gekündigt hat.

Es antwortet ihr die Frau, die mittlerweile das Nachhilfeprojekt leitet: „Es tut mir sehr leid, was dir passiert ist“, schreibt sie, und dass sie voll hinter Nafisi stehe. Christian C., schreibt sie, sei aus der Kirchgemeinde ausgeschieden und habe keinen Kontakt mehr zu der Gemeinde. Er werde auch zukünftig nicht in einer anderen Kirchengemeinde arbeiten.

Der Pfarrer, der am Anfang so empathisch war, antwortet mit einer Stellungnahme an alle, die vom Bischöflichen Ordinariat abgesegnet wurde. In Stichpunkten zählt er auf: Der Vorfall sei regelkonform an das Bistum gemeldet worden, die Treffen zwischen Nafisi und C. seien privat gewesen, die Staatsanwaltschaft habe das Verfahren eingestellt, ein Disziplinarverfahren gegen Christian C. habe es in seiner früheren Gemeinde nicht gegeben.

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Viele Nachhilfelehrerinnen erfahren erst durch diese beiden Mails, warum Christian C. das Projekt so plötzlich verlassen hat. Gemeinsam schreiben einige einen Protestbrief an den Pfarrer. Sie seien „entsetzt“ über den „Vertrauensbruch“, fühlten sich „von den Verantwortlichen des Projekts im Dunkeln gelassen“. Den Beschluss des Ordinariats, die Treffen zwischen Nafisi und C. seien privat gewesen, können sie nicht nachvollziehen: „Wir standen in einem professionellen Verhältnis zu Herrn […]. Inwieweit kann es für uns erkennbar sein, dass Herr […] seine dienstliche Rolle als Seelsorger für private Intentionen missbraucht?“ Es stelle sich ihnen außerdem die Frage, wieso sie als Nach­hil­fe­leh­re­r*in­nen vor ihrer Einstellung ein Führungszeugnis nachweisen mussten, während der Leiter des Projekts trotz eines Eintrags in seiner Personalakte wegen eines Disziplinarverfahrens wegen sexueller Belästigung so einen Job habe kriegen können.

Angesprochen auf das Disziplinarverfahren in der Gemeinde, in der Christian C. gearbeitet hat, bevor er das Schulprojekt übernahm, antwortet das Bistum der taz: Aus ihrer Sicht habe es sich bei diesem Vorgang nicht um einen sexuellen Übergriff gehandelt. Deswegen habe das Bistum keinen arbeitsrechtlichen Anlass gesehen, den Tätigkeitsbereich des Beschuldigten einzuschränken.

Spricht man mit Menschen, die in dieser ehemaligen Gemeinde von C. aktiv sind oder waren, heißt es: Das sei schon komisch gewesen mit ihm. Er sei auf einmal weg gewesen, das habe viele gewundert. Er sei so ein netter Mann gewesen, vor allem bei Frauen sehr beliebt. Warum er gehen musste, darüber sei nicht gesprochen worden. In seinem Abschiedsbrief im Gemeindeblatt bittet er jene, denen er „auf die Füßen getreten“ sei, um Nachsicht. Das kann man dort heute noch so nachlesen.

Christian C. hat mittlerweile einen neuen Job im Bistum, als Seelsorger in einem Männergefängnis. Sarah Nafisi sagt, wenn jemand ihr erzählen würde, dass er oder sie in der Kirche einen sexuellen Übergriff erlebt habe, würde sie der Person empfehlen, das der Kirche nicht zu melden. Die Steine, die sie einem in den Weg lege, seien zu massiv.

Christian C. ist ein Pseudonym. Der beschriebene Pastoralreferent trug in einer früheren Fassung ein anderes Pseudonym, das dem einer real existierenden Person glich. Wir haben es daher geändert.

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