Sexualisierte Gewalt gegen Frauen: Seit Köln ist alles wieder da
Ja, es gibt importierten Sexismus unter Migranten. Wir dürfen die Gründe dafür nicht verschweigen, nur weil wir Angst vor Rassismus haben.
Ich bin eine Frau und links. Seit den Ereignissen in Köln habe ich ein Problem, weil ich mich in den Debatten nicht mehr vertreten fühle.
Die politische Linke sagt, sexualisierte Gewalt dürfe nicht nur dann thematisiert werden, wenn sie von Migranten ausgeht. So schreiben es die Initiatorinnen des #ausnahmslos-Aufrufs, den auch Familienministerin Manuela Schwesig unterstützt. Sie verweisen vom Konkreten ins Allgemeine. Sie verschleiern, was mir passiert ist.
Die politische Rechte wiederum nutzt die Ereignisse, um Vorurteile gegen Flüchtlinge zu schüren. Sie organisieren Bürgerwehren. Sie haben mein Thema usurpiert.
Aus Furcht, den Rassismus zum Lodern zu bringen, wenn sie das Thema Sexismus entfachen, wollen die Linken nun nicht wahrhaben, dass es ein Problem gibt: einen extrem patriarchal gefärbten Import-Sexismus. Das könnte sich als gefährlicher Irrtum erweisen. Wer aus Rücksicht vor Flüchtlingen die Gewalt an Frauen verschleiert, hierarchisiert Opfergruppen – und schadet am Ende beiden.
Ich schreibe das, weil mich die jüngsten Missbrauchsfälle berühren. Sie haben längst verdrängte Erinnerungen geweckt. Düstere. Intime.
Es war während meines Studiums in Frankreich. Ich wohnte in einem heruntergekommenen Heim. Männer und Frauen mussten sich Duschen, Waschräume und Toiletten auf dem Gang teilen. Dort machte ich zum ersten Mal unangenehme Erfahrungen mit jungen Männern aus den Maghreb-Staaten. Sie schauten nicht. Sie starrten. Klopften minutenlang an meine Zimmertür. Warteten vor meiner Duschkabine. Lauschten vor der Klotür. Vielleicht berührt es mich deshalb auch so, wenn ich heute Berichte über sexuelle Gewalt in den Flüchtlingsheimen lese.
Meine Eltern haben mich zur Neugier und Weltoffenheit erzogen. Ich bin in fremde Autos gestiegen, habe Reisenden meine Couch angeboten. Deshalb war ich arglos, als ich an der Fakultät in Frankreich die Einladung eines Professors zu einem Abendessen annahm. Ich war dem Mann, Mittvierziger, noch vor Semesterbeginn im Büro des Universitätsdirektors begegnet. Er war Gastdozent aus Marokko. Und, wie er behauptete, Mitglied der dortigen Königsfamilie.
Beim Essen fachsimpelten wir lange, seine Vorlesungen mussten beeindruckend sein. Etwas machte mich trotzdem stutzig: Er bestand darauf, die Rechnung zu bezahlen.
Er fragte mich, ob ich noch zu einem Tee kommen würde. In mir sträubte es sich. Aber ich wollte nicht unfreundlich sein. Und was sollte schon bei einem Professor passieren?
Nicht nein zu sagen – das war der Fehler meines Lebens.
Im Zimmer stand eine große Couch. Er legte ein rotes, herzförmiges Kissen darauf und dämmte das Licht. Ich sagte: „Es ist spät, ich sollte gehen.“ Er redete auf mich ein, ich flehte: „Ich möchte gehen, wirklich.“
Da drückte er mich auf die Couch. Als ich wieder aufstehen wollte, saß er schon auf mir. Er presste sein Gewicht gegen meinen Körper, meine Hüfte. Ich rief „Nein, nein, nein“, er machte einfach weiter, drehte mich auf den Rücken. Er verhakte seine Beine mit meinen. Ich schrie, „Hilfe, Hilfe“. Niemand hörte, antwortete, klopfte.
Ich hatte noch nie sexuelle Erfahrungen gemacht.
„Je t’aime“, rief er, „ich liebe dich.“
Er schob seine Hand unter meine Bluse, unter meinen BH. Ich konnte ein Bein befreien, trat ihn, trat ihn wieder, wieder. Schließlich konnte ich entkommen. Ich sprang vom Bett, rannte zur Tür, drückte die Klinke. Abgeschlossen. Ich war eingesperrt.
Pure Panik stieg in mir auf.
„Lassen Sie mich raus, lassen Sie mich raus“, schrie ich. Wieder redete er auf mich ein. Dass ich ein und alles für ihn sei. Und dass ich ihn sehr verletzt habe.
Minuten waren Stunden. Irgendwann schloss der Professor doch auf. Ich rannte das Treppenhaus hinunter, in die Finsternis, weg. Nur weg.
Ich sah ihn nie wieder.
Ich weinte nicht. Nicht in jener Nacht. Nicht am nächsten Morgen. Nicht an vielen anderen Tagen, an denen ich mich danach sehnte.
Ich habe weder meiner Familie noch dem Hochschuldirektor davon erzählt. Ich ging nicht zur Polizei, sondern zum Psychologen. Ich gab nie eine Anzeige auf. Wem würde man glauben – der Studentin? Dem Professor? Ich schämte mich. War ich nicht selbst schuld? Ich war einem fremden Mann ins Zimmer gefolgt. Nach einem Abendessen. Das er bezahlt hatte.
Wie blöd muss man sein?
Das Schlimmste waren die Zweifel, die sich in mein Bewusstsein bohrten. Ich wechselte die Straßenseite, wenn ich Araber sah. Ich mied ihre Viertel.
Ich ekelte mich vor mir selbst: Begann ich plötzlich, in jedem Araber einen potenziellen Vergewaltiger zu sehen? Bin ich zur Rassistin geworden?
Sexualisierte Gewalt
Meine Gegenstrategie war eine andere. Ich wollte eine bessere Staatsbürgerin werden. Ich lernte Deutsche mit arabischem Migrationshintergrund kennen. Sie erzählten von täglichen Diskriminierungen. Sie wurden meine Freunde. Ich sagte mir, „mein“ Täter hätte genauso gut ein gebürtiger Franzose oder Deutscher sein können.
Als Angela Merkel rief „Wir schaffen das“, war ich zur Stelle. Ich half in einer Flüchtlingsunterkunft. Ich habe Betten aufgebaut, Kleider verteilt. Einem Sechsjährigen, der mit seiner Familie aus dem Irak kam, habe ich Stiefel gereicht. Sein Lächeln werde ich nie vergessen. Ich bin stolz, Teil dieser Willkommenskultur zu sein.
Diese Menschen fliehen vor Krieg, Terror, Folter. Wahr ist aber auch: In vielen ihrer Herkunftsländer herrschen fragwürdige Frauenbilder.
Wir dürfen die Gründe für Sexismus nicht verschweigen, nur weil wir Angst vor Rassismus haben. Beides sind sogar ideell benachbarte Konfliktfelder: Sie „verdichten falsche Annahmen zu einem Mythos“, hieß es schon 1964 in einem Positionspapier einer Studentenorganisation in Tennessee. Der Sexismus-Begriff wurde während der US-Bürgerrechtsbewegung geprägt – der Geschlechterkampf ist ein originär linker.
Wie also lässt sich über diesen aus Fluchtländern mitgebrachten Sexismus sprechen, ohne in die Rassismusfalle zu tappen? Die Antwort: Man muss von patriarchalischen Strukturen sprechen.
Alice Schwarzer will uns weismachen, dass die sexuelle Gewalt auch religiös begründet sein kann – in einem männlichkeitsdominierten Islam, der Frauen unters Kopftuch zwingt. Doch die Vergewaltigungen in Indien oder die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung in Eritrea, wo laut Terre des Femmes 89 Prozent der Frauen beschnitten, aber nur etwa ein Drittel der Bevölkerung Muslime sind, zeigen, dass diese Analyse zu kurz greift.
Das Problem ist vielmehr, dass einige Migranten ihre frauenverachtenden Riten und Geschlechtervorstellungen nach Deutschland mitbringen.
Ich will klar sagen: Mein Engagement in der Flüchtlingsunterkunft hat mir geholfen, meine Erfahrungen besser einzuordnen. Nie habe ich dort eine übergriffige Situation erlebt. Es war ein bisschen wie Therapie.
Als ich dachte, die Sache endlich überwunden zu haben, holte sie mich im November dann doch noch einmal ein. Ich stand in der U-Bahn, las Nachrichten auf meinem Handy. Da wurde ich von zwei jungen Männern bedrängt, schwarze Haare, dunklerer Teint, einer mit Bierflasche. Sie sprachen Arabisch. Ich wollte ausweichen, aber sie keilten mich ein. Keiner der Fahrgäste kam mir zu Hilfe. Der mit der Bierflasche begrapschte meine Brüste, der andere lachte. Erst an der nächsten Haltestelle konnte ich im Gedränge entwischen.
Seitdem ist alles wieder da. Diese Bilder. Das rote Herzkissen. Das Misstrauen. Und, seit Köln, dieser Selbstekel.
Ich vertraute mich einer Freundin an. Ich beschrieb den Vorfall, ließ aber die Herkunft der Täter weg. Vorsichtig fragte sie: „Was waren das denn für Typen?“ Ich zögerte. „Na ja . . . Araber.“
Sie schwieg wieder. Dann sagte sie: „Das kenne ich aus Paris. Da ist das ganz normal, dass Frauen in bestimmten U-Bahn-Linien belästigt werden. Einer Freundin von mir hat man zwischen die Beine gefasst, eine Mitbewohnerin wurde durch ein ganzes Viertel verfolgt.“
Meine Freundin verwies auch auf einen Bericht des französischen Gleichstellungsrats vom vergangenen Jahr. Demnach wurden 100 Prozent der Pariser Frauen, die den öffentlichen Nahverkehr nutzen, schon einmal Opfer von sexueller Belästigung.
Wir waren beide überrascht, dass wir ähnliche Erfahrungen gemacht hatten, aber auch, dass wir fürchteten, durch die Verknüpfung der Täter mit einem Herkunftsmerkmal Ressentiments zu schüren.
Meine Freundin sagte, das Einzige, was helfe, sei, den Blick zu senken. „Du darfst ihnen keine Sekunde in die Augen schauen.“
„Das kann es auch nicht sein. Dass ich meine Freiheit aufgebe.“
„Bei mir hat es funktioniert. Was ist denn die Alternative?“
Tja. Die Linken mögen über den Ratschlag der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker spotten, eine Armlänge Abstand zu halten. Aber wenn ich die Wahl habe, auf meine Würde zu pochen oder belästigt zu werden, entscheide ich mich das nächste Mal dafür, auf den Boden zu schauen.
Meine Freundin erzählte mir noch etwas: Ihre Schwester, eine Lehrerin, führt Jugendliche zum Fachabi. Einige ihrer arabischsprachigen Schüler, sagte sie, würden Ehrenmorde verteidigen. Eine Referendarin sei neulich als „deutsche Schlampe“ beschimpft worden. Die anderen Schüler hätten zustimmend genickt.
„Mit diesem Männer- und Frauenbild müssen sich Lehrerinnen, Sozialarbeiter, Polizistinnen schon seit Jahren herumschlagen“, sagte der Psychologe Ahmad Mansour der Süddeutschen Zeitung. Dass „Männer aus dem arabischen patriarchalen Raum Frauen verachten und als Freiwild betrachten“, sei für ihn nicht neu. In der Dimension wie in Köln aber schon. Mansour ist übrigens selbst ein Beispiel dafür, dass auch arabische Männer gegen Rollenbilder junger Migranten kämpfen. Mit seinem Projekt „Heroes“ will er sexualisierter Gewalt vorbeugen.
Verdopplung des Sexismus
Die muslimische Publizistin Khola Maryam Hübsch schrieb nach den Köln-Übergriffen in der taz, dass das Leitbild des „triebhaften Orientalen“ gebraucht werde, „um den westlichen Mann trotz durchsexualisierter Massenkultur als besonders zivilisiert und aufgeklärt darstellen zu können“.
Was sie damit sagt, ist doch: Der orientalische Sexist hilft dem deutschen Sexisten. Dürfen wir Frauen uns also auf eine Verdopplung des Sexismus gefasst machen?
Das Anliegen der Feministinnen ist ja richtig: darauf hinzuweisen, dass es den Alltagssexismus schon immer in Deutschland gab. Auf der Straße. Im Büro. In Abhängigkeitsverhältnissen. Doch der linke Fingerzeig auf Arbeitsplatz, Oktoberfest und Karneval als Orte des Sexismus hilft nicht weiter, wenn wir vor der Einwanderungsgesellschaft stehen. Als es um die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche ging, fiel Kinderrechtlern doch auch nicht ein, erst einmal Übergriffe an Schulen zu besprechen.
Beim Kampf gegen den importierten Sexismus könnte man sich auch linke Lösungen vorstellen: Mehr Integrationskurse. Frauenförderung. Gleichstellungsprojekte. Eine Wertedebatte im Islam. Und: Endlich einen Vergewaltigungsparagrafen, der seinen Namen verdient.
Dafür brauchen die Linken aber den Mut, die Ursachen zu benennen. Im Moment überlassen sie die Debatte den Hardlinern – und das Handeln den Rechtsextremen. Wenn aber Pegida für Frauenrechte marschiert, wenn AfD-Politikerinnen über Schießbefehle reden und Rechtsterroristen sie mit Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte ausführen, dann ist das, als würde man mich erneut auf diese Couch drücken.
Für uns Opfer sexueller Gewalt könnte die Lage kaum schlimmer sein. Wir werden rechts instrumentalisiert – und links liegen gelassen.
Die Identität von Maya Müller ist der taz bekannt. Sie möchte anonym bleiben, da sie fürchtet, sonst nur noch als Opfer betrachtet zu werden. Diesen Text schickte sie für den taz-Blog „Heimweg“. Dort veröffentlicht die taz Berichte von LeserInnen über sexualisierte Gewalt. Ihre Zuschriften an heimweg@taz.de werden von den Redakteurinnen Steffi Unsleber und Waltraud Schwab vertraulich behandelt und nur nach Rücksprache veröffentlicht. Bisher haben uns 125 Frauen ihre Geschichten geschickt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin