Selenski zum Raketeneinschlag in Polen: Übers Ziel hinaus
Der ukrainische Präsident hat für den Einschlag in Polen schnell die Russen verantwortlich gemacht. Damit hat er seiner Sache keinen Gefallen getan.
K aum jemand würde bestreiten, dass der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in den fast neun Monaten von Russlands Angriffskrieg gegen sein Land bislang eine gute Figur gemacht und einen kühlen Kopf bewahrt hat. Doch mit seinen Äußerungen, die beiden Raketen, die am Dienstag versehentlich in Polen eingeschlagen sind, könnten gar nicht anders denn russischer Provenienz sein, ist er über das Ziel hinausgeschossen. Zu derart vorschnellen Interpretationen haben sich auch andere hinreißen lassen. Obwohl die Faktenlage noch unklar war, glaubten sie sofort zu wissen, wo die Schuldigen zu suchen sind: Klar, die Russen waren es.
Derartige Einlassungen sind nicht nur nicht hilfreich, sondern sogar kontraproduktiv. Denn Selenskis Vorverurteilung ist Wasser auf die Mühlen all derer, die die Ukraine bezichtigen, die Nato um jeden Preis in diesen Krieg hineinziehen zu wollen. Und die Kyjiw, selbst um den Preis von sehr weitreichenden Zugeständnissen, am liebsten schon heute am Verhandlungstisch sähen. Dieses Szenario ist genauso abwegig wie die Tatsache unstrittig, wer für diesen Krieg und dessen Folgen verantwortlich ist: Russland.
Mittlerweile ist Selenski übrigens etwas zurückgerudert und hat die Beteiligung ukrainischer Spezialisten an den Ermittlungen zur Causa Polen angekündigt. Das ist richtig und macht überdies den großen Unterschied zu Russland deutlich. Da ist Kooperation bislang Mangelware. So ist die Aufklärung über den Abschuss des Jets MH17 2014 über der Ostukraine nur ein Beispiel dafür, dass Moskau nicht gewillt ist, an Ursachenforschung mitzuwirken. Das dürfte auch in Zukunft so bleiben.
Die Nato-Staaten, allen voran auch Polen, tun gut daran, sich vornehm zurückzuhalten. Dennoch muss die Frage, welche Schlüsse aus den jüngsten Ereignissen zu ziehen sind, dringend beantwortet werden. Denn in einem Krieg kommt es leider auch immer zu sogenannten Kollateralschäden – für die unbeteiligten Betroffenen und deren Angehörige, wie jetzt in Polen, sind sie eine Tragödie. Ihr könnten weitere folgen …
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen