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Schwarz-roter KoalitionsvertragKommissionen als Ritualobjekte

Wer im Koalitionsvertrag nach Sozialpolitik sucht, dessen Augen bleiben immer wieder an einem Wort hängen: „Kommission“. Das verheißt nichts Gutes.

Der Koalitionsvertrag steht: Markus Söder (CSU), Friedrich Merz (CDU), Lars Klingbeil (SPD) und Saskia Esken (SPD) (v.l.n.r.) Foto: Florian Gaertner/imago

D ie Ereignisse am Mittwoch ließen mich an jenes Fest des Dorfes denken, bei dem eine reich geschmückte Heiligenfigur nach einem uralten Ritus von den stolzesten Jünglingen durch die Gassen getragen wird. Nur einmal alle vier Jahre ist sie zu sehen, die mythische Heilige im goldverzierten Schrein, die Jüngeren kennen sie nur aus Erzählungen der Großmütter. Aus dem dichten Gedränge heraus sind für viele nur die fast blinden Scheiben des Schreins zu erspähen. Doch halt: Da ist ja gar keine Figur! Zwischen den Brokatstoffen ist – nichts.

Na gut, 144 Seiten Koalitionsvertrag sind nicht nichts. Aber wer zum Beispiel etwas Interesse an Sozialpolitik mitbringt, dessen Augen bleiben im Text vor allem an einem Stichwort hängen: Kommission. Die gesundheitspolitischen Vorhaben sollen bis Frühjahr 2027 von einer Kommission „in der Gesamtwirkung“ betrachtet werden, es werden dann auch „Ableitungen“ getroffen. Eine Kommission soll über die Finanzierung einer Pflegereform nachdenken. Eine Kommission wird bis Mitte der Legislaturperiode eine neue Kenngröße für die Rente „prüfen“. Eine Kommission soll über Transparenz und Zusammenlegung von So­zial­leistungen nachdenken.

Sie haben richtig gezählt: Es sind vier Kommissionen, über deren Zusammensetzung, Gründungstreffen und interne Verwerfungen die Öffentlichkeit sich dann freuen darf, bevor die Regierung beschließt, welchen Teil der Arbeitsergebnisse sie wahrnehmen möchte und was davon sie versenkt. Um hier schon einmal einen Tipp zu platzieren: Kommissionen, die erst zur Mitte der Legislaturperiode etwas vorlegen sollen, haben wenig Chancen, überhaupt noch Termin und Ort für eine Vorstellung so zu legen, dass dort auch jemand vorbeischaut.

Das war natürlich bei der Hartz-Kommission des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder vor 23 ­Jahren anders: Schröder brauchte die Kommission, um die für den Fall einer Wiederwahl längst geplanten Kürzungen für Arbeitslose von ausgewählten Experten umfächeln zu lassen. Da musste es schon eine Feierstunde im Französischen Dom auf dem Berliner Gendarmenmarkt sein, um der Sache ausreichend Weihe zu verleihen. Samt Glockengeläut, das die vielen Millionen NiedriglöhnerInnen vielleicht noch im Ohr haben, die dann viele Jahre warten mussten, bis ein Mindestlohn sie halbwegs aus der Armutszone lupfte.

Privatisierung zulasten der gesetzlich Versicherten

Umso aufmerksamer wurde ich deshalb, als ein aufgeräumt wirkender Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz am Mittwochabend im „heute journal“ sagte: „Wir haben das Wort Eigenverantwortung im Vertrag stehen.“ Denn das bedeutet aus dem Arbeitgeberdeutschen übersetzt: Privatisierung von Sozialleistungen zulasten der gesetzlich Versicherten. Tatsächlich findet sich der Eintrag im Kapitel Pflege, Zeile 3.482: „Anreize für eigenverantwortliche Vorsorge“ werden von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe geprüft – und dies noch 2025.

wochentaz

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Gespannt bin ich also auf die Vertreter von CDU/CSU, die auf eine Kapitalbasis in der Pflegeversicherung drängen; die Versicherungskonzerne haben schließlich auch ihre Erwartungen. Gespannt bin ich auch auf die Vertreterinnen der SPD, die noch mal flink im Koalitionsvertrag von 2021 nachschlagen: Stimmt, da wollten wir doch auch schon eine freiwillige, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen finanzierte Vollversicherung! Übrigens wollte dazu auch die Ampel schon eine Kommission eingesetzt haben, von der man dann aber nie mehr hörte.

War der Schrein mit der mythischen Heiligen etwa vor vier Jahren auch schon leer? Aber wozu Heilige – beim Ritual ist der Vorgang selbst das Entscheidende. Das also, was Gemeinschaft und Sicherheit in der Kon­ti­nui­tät stiftet.

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Ulrike Winkelmann
Chefredakteurin
Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.
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6 Kommentare

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  • Hat Merkel das nicht perfektioniert, in dem sie Kommission/Arbeitsgruppen ins Leben gerufen hat, die sich dann nur alle ein bis zwei Jahre treffen. Da kann man dann immer sagen "ist in Arbeit" und sich drauf verlassen, dass man nichts ändern muss und kann alle notwendigen Reformen verschleppen.



    Ein schlechtes Zeichen für uns, denn scheinbar will die Koalition einfach irgendwie weiterwurschteln und die echten Probleme nicht angehen.

    • @Axel Schäfer:

      Man will für das, was man tut oder läßt, keine Verantwortung übernehmen. Begreift also immer noch nicht, daß sich die Leute nicht mehr für dumm verkaufen lassen wollen. Denn egal, wen man ihnen als Sündenbock hinstellen will: Die Entscheidung treffen/trifft nicht die oder der, sondern die Regierung. Völlig frei nach eigenem Gutdünken, selbst wenn der angeblich "Schuldige" an der Katastrophe das genaue Gegenteil gewollt und empfohlen hat.

  • Wenn es im Zusammenhang mit Kommissionen wenigstens eine kritische Opposition geben würde. Franziska Brandner wünscht sich gerade im Zeit-Interview einen "Adenauer-Moment", hat also absolut nichts aus dem blinken hin zur CDU vor der Bundestagswahl gelernt.

    Sie preist den aktiven Bürger, der in Linnemann-Manier anpacken soll, wo der Staat es nicht könne, anders gesagt: sie gibt das Schleifen des Sozialstaats zugunsten neoliberaler Konzepte frei.

    Zitat Brandner

    Der Markt kann und konnte noch nie alles richten, der Staat auch nicht – das zu erkennen, ist grüne Tradition und das geistige Erbe von Bündnis 90. Es gibt eine dritte Kraft, ohne die es in der gelebten Demokratie nicht geht: die Bürgerinnen und Bürger. Denen müssen wir den Weg frei machen, ihre Potenziale zu entfesseln, die Dinge selbst anzupacken, wo der Staat nicht alles verordnen soll oder kann. Und in Bildung investieren als Grundlage für den mündigen Bürger.

    • @Lindenberg:

      Zitat: "Wenn es im Zusammenhang mit Kommissionen wenigstens eine kritische Opposition geben würde."

      Wozu? Guter Tradition folgend wird hierzulande alles, was von der Opposition kommt, im Plenum niedergestimmt. Und das auch, wenn der Antrag gut und richtig war. In so einem Fall kann es allenfalls passieren, daß die Regierung den Antrag ein halbes Jahr später auf den Kopierer legt, um sich selbst mit den fremden Federn zu brüsten.

  • Gute Analyse.



    Schlechte Aussichten.



    spd wird alles abnicken.



    Und nichts bewirken.



    4 (+?) verlorene Jahre.

  • Schröder hat dann, das haben vielleicht einige aus dem Blick verloren, auf wesentliche Empfehlungen der Kommission gepfiffen. Peter Hartz hätte vielleicht einen Rechtsanspruch gehabt, sich mit dem dann tatsächlich installierten Format nicht in Verbindung bringen zu lassen. Keine Ahnung, weshalb er den nicht verfolgte.

    Also wird man davon ausgehen müssen, daß hier Traditionen gepflegt werden sollen: Wo "Kommission" dransteht, ist etwas in petto, für das die Herrschaften in der ersten Reihe keine Verantwortung übernehmen möchten.

    Nur: So hat das schon einmal nicht funktioniert. Und die SPD ist jetzt, wo ihr Stimmenanteil seitdem halbiert ist, noch viel weiter von einer Position entfernt, in der sie sich noch so eine Nummer leisten könnte - geschweige denn zwanzig.