Schwarz-roter Koalitionsvertrag: Kommissionen als Ritualobjekte
Wer im Koalitionsvertrag nach Sozialpolitik sucht, dessen Augen bleiben immer wieder an einem Wort hängen: „Kommission“. Das verheißt nichts Gutes.

D ie Ereignisse am Mittwoch ließen mich an jenes Fest des Dorfes denken, bei dem eine reich geschmückte Heiligenfigur nach einem uralten Ritus von den stolzesten Jünglingen durch die Gassen getragen wird. Nur einmal alle vier Jahre ist sie zu sehen, die mythische Heilige im goldverzierten Schrein, die Jüngeren kennen sie nur aus Erzählungen der Großmütter. Aus dem dichten Gedränge heraus sind für viele nur die fast blinden Scheiben des Schreins zu erspähen. Doch halt: Da ist ja gar keine Figur! Zwischen den Brokatstoffen ist – nichts.
Na gut, 144 Seiten Koalitionsvertrag sind nicht nichts. Aber wer zum Beispiel etwas Interesse an Sozialpolitik mitbringt, dessen Augen bleiben im Text vor allem an einem Stichwort hängen: Kommission. Die gesundheitspolitischen Vorhaben sollen bis Frühjahr 2027 von einer Kommission „in der Gesamtwirkung“ betrachtet werden, es werden dann auch „Ableitungen“ getroffen. Eine Kommission soll über die Finanzierung einer Pflegereform nachdenken. Eine Kommission wird bis Mitte der Legislaturperiode eine neue Kenngröße für die Rente „prüfen“. Eine Kommission soll über Transparenz und Zusammenlegung von Sozialleistungen nachdenken.
Sie haben richtig gezählt: Es sind vier Kommissionen, über deren Zusammensetzung, Gründungstreffen und interne Verwerfungen die Öffentlichkeit sich dann freuen darf, bevor die Regierung beschließt, welchen Teil der Arbeitsergebnisse sie wahrnehmen möchte und was davon sie versenkt. Um hier schon einmal einen Tipp zu platzieren: Kommissionen, die erst zur Mitte der Legislaturperiode etwas vorlegen sollen, haben wenig Chancen, überhaupt noch Termin und Ort für eine Vorstellung so zu legen, dass dort auch jemand vorbeischaut.
Das war natürlich bei der Hartz-Kommission des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder vor 23 Jahren anders: Schröder brauchte die Kommission, um die für den Fall einer Wiederwahl längst geplanten Kürzungen für Arbeitslose von ausgewählten Experten umfächeln zu lassen. Da musste es schon eine Feierstunde im Französischen Dom auf dem Berliner Gendarmenmarkt sein, um der Sache ausreichend Weihe zu verleihen. Samt Glockengeläut, das die vielen Millionen NiedriglöhnerInnen vielleicht noch im Ohr haben, die dann viele Jahre warten mussten, bis ein Mindestlohn sie halbwegs aus der Armutszone lupfte.
Privatisierung zulasten der gesetzlich Versicherten
Umso aufmerksamer wurde ich deshalb, als ein aufgeräumt wirkender Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz am Mittwochabend im „heute journal“ sagte: „Wir haben das Wort Eigenverantwortung im Vertrag stehen.“ Denn das bedeutet aus dem Arbeitgeberdeutschen übersetzt: Privatisierung von Sozialleistungen zulasten der gesetzlich Versicherten. Tatsächlich findet sich der Eintrag im Kapitel Pflege, Zeile 3.482: „Anreize für eigenverantwortliche Vorsorge“ werden von einer Bund-Länder-Arbeitsgruppe geprüft – und dies noch 2025.
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Gespannt bin ich also auf die Vertreter von CDU/CSU, die auf eine Kapitalbasis in der Pflegeversicherung drängen; die Versicherungskonzerne haben schließlich auch ihre Erwartungen. Gespannt bin ich auch auf die Vertreterinnen der SPD, die noch mal flink im Koalitionsvertrag von 2021 nachschlagen: Stimmt, da wollten wir doch auch schon eine freiwillige, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gleichermaßen finanzierte Vollversicherung! Übrigens wollte dazu auch die Ampel schon eine Kommission eingesetzt haben, von der man dann aber nie mehr hörte.
War der Schrein mit der mythischen Heiligen etwa vor vier Jahren auch schon leer? Aber wozu Heilige – beim Ritual ist der Vorgang selbst das Entscheidende. Das also, was Gemeinschaft und Sicherheit in der Kontinuität stiftet.
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