SPD-Vorsitzende Saskia Esken: „Migration löst viele Probleme“
Der Staat muss mehr Verantwortung für bessere Chancen für Kinder übernehmen, sagt SPD-Vorsitzende Esken. Sie fordert ein Sondervermögen für Bildung.
Das Interview findet im Büro von Saskia Esken in der Parteizentrale statt. An der Wand des Büros hängt ein großes Foto. Es zeigt Saskia Esken und Malu Dreyer, die auf die drei FDP-Minister:innen Bettina Stark-Watzinger, Marco Buschmann und Christian Lindner einreden.
taz: Frau Esken, auf diesem Foto erklären Sie der FDP gerade, wie gute Bildungspolitik geht?
Saskia Esken: Nein, das muss ich der FDP nicht erklären. Das Foto ist während der Koalitionsverhandlungen entstanden. Da haben wir immer eher über die großen Linien gesprochen. Zu den größeren Projekten, die wir dort vereinbart haben, gehört sicher auch das Startchancen-Programm für Schulen in schwieriger Lage.
Das erst 2024/2025 starten soll. Der Eindruck ist doch: Beim Thema Bildung kommt die Ampel nicht voran. Überall fehlt Personal, ein Viertel der Viertklässler:innen kann nicht richtig lesen und rechnen, die Schulen sind marode.
ist seit 2019 eine der beiden Bundesvorsitzenden der SPD. Sie ist staatlich geprüfte Informatikerin und arbeitete in der Softwarentwicklung. Vor ihrer Kandidatur für den Bundesparteivorsitz war Esken vor allem als Netzpolitikerin aktiv.
Natürlich kann man immer sagen: too little, too late. Aber Bildung ist in erster Linie Aufgabe der Länder. Weil wir als Ampel aber auch die große Aufgabe sehen, für mehr Bildungschancen und gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen, gehen wir da jetzt rein. Wir initiieren ein Startchancenprogramm, mit dem wir vom Bund für 4.000 Schulen über 10 Jahre eine Milliarde Euro pro Jahr bereitstellen, die die Länder durch entsprechende Programme doppeln können.
Hat die Haushaltssperre Auswirkungen auf das Startchancen-Programm?
Die aktuelle Sperre ist eine temporäre, rein technisch notwendige Maßnahme, die Sicherheit und Handlungsfähigkeit gibt, bis wir geklärt haben, auf welchem Weg wir künftig die Finanzierung der dringend anstehenden Aufgaben im Klima- und Transformationsfonds organisieren. Gleichzeitig werden wir zügig Klarheit darüber herstellen, wie wir die finanziellen Spielräume für einen handlungsfähigen Staat sichern, der aktiv die Zukunft unseres Landes und unserer Kinder gestaltet und unterstützt.
Wie sollte man das 60-Milliarden-Loch stopfen?
Da wir uns durch die Folgen der Coronapandemie und militärische Konflikte in einer fortdauernden krisenhaften Situation befinden, halte ich es für notwendig, die Schuldenbremse für 2023 und 2024 auszusetzen. Darüber hinaus wird durch die riesigen Aufgaben des Klimawandels, der Digitalisierung und des demografischen Wandels, die viele Haushaltsjahre und alle staatlichen Ebenen umfassen, immer deutlicher, dass wir eine Reform der Schuldenbremse brauchen – in ihrer derzeitigen Form droht sie zu einer Bremse für Modernisierung, Gerechtigkeit und Wohlstand zu werden.
Die FDP will Sozialausgaben kürzen, Sie die Schuldenbremse aussetzen. Zerbricht die Ampel im Streit um den Umgang mit dem Urteil?
Wir haben bislang auf die Krisensituationen mit guten Antworten reagiert und werden auch jetzt gemeinsam Lösungen finden, die für die Stabilität und den Zukunftsmut unseres Landes erforderlich sind.
Zurück zum Startchancenprogramm. Damit erreichen sie 10 Prozent der Schüler:innen. Ist das der große Wurf?
Das ist schon ganz gut. Trotzdem: In der Frage der Bildungsgerechtigkeit braucht es einen größeren Wurf. Deshalb schlagen wir als SPD einen Deutschlandpakt für Bildung vor, für einen Aufbruch und eine enge Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen, der alle Kinder erreicht, die Unterstützung brauchen.
Im Antrag für den SPD-Parteitag im Dezember heißt es, alle Kinder sollten zum zweiten Geburtstag einen Kitaplatz angeboten bekommen. Die SPD fordert regelmäßige Entwicklungstests in Kitas und Grundschulen und verbindliche Förderung. Der Staat soll sich stärker kümmern?
Der Staat muss da viel stärker rein, muss Verantwortung übernehmen. Und zwar dafür, dass unsere Zukunft gelingt. Und die gelingt eben nur, wenn die Potenziale aller jungen Menschen auch wirklich ausgeschöpft werden. Bund, Länder und Kommunen müssen gemeinsam entscheiden und handeln, damit das gelingt.
Was derzeit nicht der Fall ist?
Der hohe Anteil von Schülern und Schülerinnen, die die Mindeststandards im Lesen, Schreiben, Rechnen und Zuhören nicht erreichen, ist in den vergangenen 10 Jahren von 20 auf 25 Prozent nochmal massiv gestiegen. Da gibt es doch offenkundig einen Handlungsdruck. Gestiegen ist allerdings auch der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die in armutsgefährdeten Haushalten aufwachsen oder in Haushalten, in denen nicht oder nicht genügend gut Deutsch gesprochen wird. Das sind genau die Schülerinnen und Schüler, die durchs Raster fallen. Und die dann auch die weiterführende Schule viel zu häufig ohne Abschluss verlassen. Da wird es schwierig mit einer Ausbildung, mit der gesellschaftlichen Teilhabe und auch mit der politischen Mitwirkung. Deswegen müssen wir den Fokus ganz gezielt auf die frühe Bildung und die Basiskompetenzen richten.
Die SPD schlägt vor, dass sich die Bundesländer auf ein gemeinsames pädagogisches Gesamtkonzept einigen. Was stellen Sie sich darunter vor?
Es geht darum, dass Bund, Länder und Kommunen sich zusammentun und Maßnahmen verbindlich vereinbaren, um diese Nachteile frühzeitig auszugleichen. Das kann im Rahmen einer nationalen Bildungskommission passieren, die übrigens auch schon im Koalitionsvertrag vereinbart ist.
Aber bis jetzt nicht getagt hat. Kommt die noch?
Ich bin zuversichtlich, dass die Bundesbildungsministerin das bald voranbringt.
Wie nehmen Sie denn die Bereitschaft der Länder wahr, sich beim Thema Bildung stärker reinreden zu lassen?
Es geht nicht darum, sich gegenseitig reinzureden, sondern um Zusammenarbeit – auch zwischen den Ländern.
Bisher lief es immer anders. Die Länder sagen, der Bund soll Geld geben, aber keine Vorschriften machen. Und der Bund will nur Geld geben, wenn er mitbestimmen kann, wofür es ausgegeben wird.
Es geht nicht darum, dass eine Seite Geld gibt und die andere macht. Alle müssen machen. Wir müssen die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Gemeinden besser hinbekommen. Das findet übrigens auch die sehr große Mehrheit der Bürger:innen.
Woher kommt das Personal für den Deutschlandpakt? Schon jetzt fehlen überall Lehrer:innen und Erzieher:innen.
Wir müssen pädagogische Berufe attraktiver gestalten, auch finanziell, sodass man dort lange und zumindest nahe Vollzeit arbeiten kann. Wir haben zurzeit eine sehr hohe Teilzeitquote, denn die pädagogischen Berufe sind in den letzten Jahren immer weiblicher geworden. Wenn die Lehrerinnen Kinder bekommen, sind sie genauso in der Betreuungsfalle wie andere Mütter auch. Wenn wir es nicht schaffen, mehr Betreuungsangebote zu schaffen, wird es schwierig.
Das ist ein bisschen das Henne-Ei-Problem. Muss man nicht auch auf Zuzug aus dem Ausland setzen?
Am Ende müssen wir in allen Fragen des Fachkräftemangels auf die Stärkung der Potenziale im Land, aber auch auf Zuzug aus dem Ausland setzen. Das Problem ist, wir erkennen ausländische Berufserfahrungen und Qualifikationen kaum an. Es kann doch nicht sein, dass eine Frau aus dem außereuropäischen Ausland, die dort eine Grundschule geleitet hat, hier noch einmal eine Ausbildung machen muss und es am Ende zur Kinderpflegerin reicht. Viele Arbeitskräfte, die aus dem Ausland zu uns kommen, arbeiten prekär im Niedriglohnsektor und unter ihrer Qualifikation. Da müssen wir besser werden.
Der jetzige Diskurs dreht sich aber nicht um bessere Integration, sondern vor allem darum, wie man Menschen schneller wieder abschiebt. Die Jusos haben Ihnen vorgeworfen, die SPD setze dem nichts entgegen. Haben sie recht?
Deswegen ist es mir so wichtig, dass wir über die Frage zu mehr Ordnung in der Fluchtmigration nicht wieder in eine Debatte kommen, dass Migration die Mutter aller Probleme sei. Tatsächlich ist die Migration eine Lösung für viele unserer Probleme. Die Migrantinnen und Migranten, die hier in unserer Mitte leben und arbeiten, haben es nicht verdient, als Problem angesehen zu werden.
Aber genau das denken viele Menschen. Selbst der Kanzler spricht davon, man müsse jetzt in großem Stile abschieben. Finden Sie das auch?
Wir müssen jedenfalls schneller entscheiden, wer bleiben darf und wer wieder gehen muss, ja. Es gibt Asylbewerber, die nicht bleiben können, und da müssen wir Rückführungen auch wirklich durchführen. Das ist notwendig, damit wir jenen, die bleiben können und denjenigen, die zukünftig noch kommen, diesen Schutz auch gewähren können. Außerdem sind geltende und dann auch umgesetzte Regeln für das Vertrauen der Menschen in den Rechtsstaat wichtig.
260.000 Menschen sind ausreisepflichtig, von denen 210.000 eine Duldung haben. Bleiben 50.000. Sie hätten auch fordern können, diesen Menschen den Spurwechsel in einen Job zu ermöglichen. Warum nicht?
Den Spurwechsel haben wir doch schon lange beschlossen. Er heißt Chancenaufenthaltsrecht und gehört zu unserer migrationspolitischen Gesamtstrategie. Und die lautet: Wer Schutz sucht und politisch verfolgt wird, bekommt Asyl. Wer bisher geduldet wurde, der soll auch eine Integrationsperspektive entwickeln können. Wer aber mit der Intention einer wirtschaftlichen Perspektive kommt – und das ist in keiner Weise verwerflich –, sollte eben nicht die Fluchtroute wählen, die ohnehin gefährlich und teuer ist. Denn dafür haben wir das Fachkräfteeinwanderungsgesetz geschaffen.
Der Spurwechsel gilt nur für jene, die bis 29. März schon hier waren, für alle, die danach kamen, nicht. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz muss erst mal anfangen zu wirken. Wie wollen Sie den Diskurs, bei dem Abschiebung im Mittelpunkt steht, wieder drehen?
Am Ende muss es uns gelingen, darzustellen, dass unser Land auf Migration und gelingende Integration angewiesen ist. Dass Infineon (deutscher Chiphersteller; d. Red.) gegenüber den Medien darauf hinweist, dass sie ihre Fachkräfte nur innerhalb der Werkstore beschützen können und dass die das Land wieder verlassen, wenn sie draußen Anfeindungen ausgesetzt sind – das ist doch ein Alarmsignal. Jenoptik (Technologieunternehmen aus Jena; d. Red.) macht mit einer ganz starken Kampagne unter dem Motto #bleiboffen deutlich, dass ohne Zuwanderung dem Unternehmen, aber auch unserer Gesellschaft was fehlen würde. Wir müssen verstehen, dass wir Zuwanderung und eine Willkommenskultur brauchen, damit unser Wohlstand erhalten bleibt.
Das Wort Willkommenskultur wird aber auch von Politiker:innen kaum noch gebraucht. Aus Angst vor dem gesellschaftlichen Klima und dem Shitstorm von rechts?
Für mich ist Angst in der Politik kein treibender Faktor. Es geht darum, deutlich zu machen, dass wir auf Zuwanderung angewiesen sind, dass wir seit vielen Jahren Einwanderungsland sind und dass wir jetzt Integrationsgesellschaft werden müssen.
Noch einmal zurück zum Thema Bildung. Sie wollen ein Sondervermögen für Bildung. Der nächste Schuldentopf?
Nein, denn das Geld dafür soll ja nicht vom Kreditmarkt kommen. Unsere Idee eines gemeinsamen Sondervermögens soll von Bund und Ländern aus Steuermitteln gemeinschaftlich aufgebaut und bewirtschaftet werden. Dafür wollen wir zum einen sehr hohe Erbschaften und Schenkungen höher besteuern und zum anderen die Einkommenssteuer so reformieren, dass kleine und mittlere Einkommen entlastet und sehr hohe stärker in die Verantwortung genommen werden. Die Länder sollen einen Teil ihrer Mehreinnahmen aus der Erbschafts- und Schenkungssteuer in das Sondervermögen einbringen, während der Bund einen Teil seiner Mehreinnahmen aus der Reform der Einkommensteuer beisteuert. So können wir den Deutschlandpakt Bildung mit 10 Milliarden Euro pro Jahr ausstatten.
Höhere Steuern – Sie wollen 2025 also nicht mehr mit der FDP regieren!?
Ich zähle auf die Kraft des Arguments. Ich bin sicher, dass auch die Hochvermögenden und Bezieher sehr hoher Einkommen verstehen, dass eine gelingende Bildung für alle Kinder und Jugendlichen die wichtigste Bedingung für künftigen Wohlstand ist und deshalb jeden Cent wert.
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