SPD-Kultusminister über Heimat: „Sie huldigen dem Kapitalismus“
Mathias Brodkorb ist Anti-Nazi-Aktivist und SPD-Kultusminister in Mecklenburg-Vorpommern. Ist sein Heimatprogramm eine Anbiederung an die AfD?
taz: Ich bin im Westerwald aufgewachsen und meinen Eltern bis heute dankbar, dass sie mir nicht den hässlichen dortigen Dialekt beigebracht haben. Nun wollen Sie Niederdeutsch als Zweitsprache in den Schulen fördern. Muss das sein, Herr Brodkorb?
Mathias Brodkorb: Sehen Sie, da fängt es schon an. Niederdeutsch ist kein Dialekt, sondern eine Regionalsprache.
Was ist der Unterschied?
Ein Dialekt ist eine örtliche Abweichung von der Hochsprache, eine Mundart, eine Regionalsprache hat dagegen grammatikalische und etymologische Besonderheiten, die sich auf eine ganze Region erstrecken – etwa ganz Norddeutschland. Aber eine Gegenfrage: Warum fanden Sie den Dialekt so furchtbar?
Ästhetisch ist der fast schlimmer als Sächsisch. Ich finde, die geistige Enge der Gegend spiegelt sich in dem Dialekt wider.
Ich verstehe Ihre Frage trotzdem nicht. Es hätte historisch auch ganz anders ausgehen können. Das Niederdeutsche war mal in Nordeuropa eine sehr weit verbreitete Sprache. Am Ende war es eher ein Zufall, dass sich Hochdeutsch durchgesetzt hat. Das ist ja keine Frage von Qualität gewesen.
39, ist seit 2011 Minister für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Mecklenburg-Vorpommern. Der gebürtige Rostocker gilt als eine der großen Nachwuchshoffnungen der SPD. Von 1994 bis 1997 war er zunächst Mitglied der PDS, später Mitbegründer der Anti-Nazi-Webseite „Endstation Rechts“. Tote Sprachen kennt er schon aus dem Studium: Er hat Philosophie und Altgriechisch an der Universität Rostock studiert.
Aber die Entscheidung ist längst gefallen.
Warum dem historischen Zufall huldigen?
Warum machen Sie denn die Niederdeutsch-Förderung?
Da gibt es verschiedene Gründe. Zunächst biografische: Bei uns in der Familie haben meine Großeltern ganz selbstverständlich Niederdeutsch gesprochen. Ich habe mich davor im Unterschied zu Ihnen auch nicht geekelt. Mit neun bin ich nach Österreich zu meinem Vater gezogen und bin in eine Welt hineingeworfen worden, wo eine Volkskultur samt einer nicht hochdeutschen Sprache Alltag ist. Da glaubt niemand, höherwertiger zu sein, nur weil er des Hochdeutschen mächtig ist.
Und die politischen Gründe?
Die Niederdeutsch-Pflege ist bei uns Verfassungsauftrag und Folge der EU-Charta der Regionalsprachen. 25 Jahre nach der Wende gibt es außerdem eine Identitätssuche der Menschen. Ein starkes Interesse daran, sich der eigenen Wurzeln zu besinnen. Das wird natürlich durch die Flüchtlingsthematik verstärkt. Man kann es sich so lange leisten, sich nicht zu fragen, wer man ist, wie man eine Selbstverständigung darüber nicht nötig hat.
Dazu braucht man das Niederdeutsche?
Brauchen tut man es nicht.
Aber es hilft?
7,5 Millionen Euro will Mecklenburg-Vorpommern bis 2020 in sein Heimatprogramm stecken. Unter dem Titel „Meine Heimat – mein modernes Mecklenburg-Vorpommern“ stellte es Minister Brodkorb im April 2016 der Öffentlichkeit vor. Dazu gehört auch eine sogenannte Heimatkiste für Kindertagesstätten, in der Bücher, Spiele und Anleitungen für regionale und internationale Tänze enthalten sind. Niederdeutsch wird freiwilliges reguläres Schulfach.
Es kann eine Möglichkeit sein, sich seiner selbst zu vergewissern. Sprache und Literatur repräsentieren auch eine Form von Mentalität. Die ist hier erkennbar anders als in München oder Köln.
Vergrößern Sie mit Ihrem Heimatprogramm nicht die Integrationsanforderungen an Flüchtlinge? Die wollten ja nicht nach Mecklenburg-Vorpommern, sondern nach Deutschland. Und jetzt sollen sie nicht nur Deutsch lernen, sondern sich auch in einen regionalen Kulturkontext integrieren, weil die Bevölkerung das erwartet.
Das halte ich für intellektuelle Pseudoprobleme. Wenn bei uns ein Flüchtling zur Schule geht, muss er derzeit neben dem Deutschunterricht zwei Fremdsprachen wählen. Die eine wird Englisch sein. Bei der zweiten kann er sich etwa zwischen Russisch und Französisch entscheiden. In Zukunft kann er sich auch aussuchen, ob er stattdessen Niederdeutsch macht. Ich behaupte: Wenn er sich für Niederdeutsch entscheidet, werden seine Integrationschancen besser sein, als wenn er Russisch lernt.
Niederdeutsch nutzt ihm gar nichts, wenn er irgendwann nach Berlin umzieht.
Das ist eine interessante Perspektive. Würden Sie sich als links empfinden?
Ja.
Ich finde diese funktionalistische Verengung des Humanen bedenklich. Also nur zu fragen, über welche unspezifischen Kulturtechniken jemand verfügen muss, um im kapitalistischen Globalzusammenhang vernünftig zu funktionieren, egal an welche Stelle der Welt der liebe Gott diese „funktionierende Maschine“ hinsetzt. Vielleicht wollen die Flüchtlinge ja gar nicht mehr weg, wenn sie erst Niederdeutsch können.
Ihre Niederdeutsch-Förderung ist also eine antikapitalistische Politik?
Das zum gelebten Antikapitalismus zu erklären wäre überzogen. Ich habe nur gesagt, dass Ihre funktionalistische Position dem Kapitalismus huldigt.
Vielleicht habe ich ja einen Berliner Blickwinkel. So denkt man: Was der Brodkorb mit seinem Heimatprogramm macht, ist eine Kapitulation vor AfD und NPD und ihrem Heimatgedusel.
Es liegt natürlich nahe zu vermuten, dass wir damit panisch auf den AfD-Aufstieg reagieren. Ist aber Blödsinn. Wir haben an diesem Projekt seit zwei oder drei Jahren gearbeitet, da war von der AfD in dieser Dimension und Programmatik überhaupt nicht die Rede. Der Landestourismusverband unterstützt uns, weil Tourismus auch von Unterschieden zwischen den Regionen lebt. Der Landesjugendring hat in seine Wahlprüfsteine in diesem Jahr erstmals den Punkt „Heimat“ aufgenommen. Ihrer Logik zufolge müsste das auch der Landesjugendring wegen der AfD gemacht haben.
Im Landtagswahlkampf heimattümelt es hier in Schwerin auch bei fast allen außer SPD und Grünen. Die Linkspartei wirbt auf Plakaten mit „Aus Liebe zu Mecklenburg-Vorpommern“, die CDU mit „Einer von hier, einer für uns“.
Selbst die Grünen werben mit „MV im Herzen“. Daran sehen Sie: Unser „Heimatprogramm“ ist keine Wahlkampfsache. Deswegen ist es auch nicht auf den SPD-Plakaten. Im Übrigen halten Sie die von Werbeagenturen erdachten Claims offenbar für substanzieller als wir Politiker.
Angenommen, morgen geht die taz pleite und ich muss aus beruflichen Gründen nach Schwerin. Dann fühle ich mich von CDU, Linken und auch Grünen nicht umworben.
Warum?
Weil man bei der CDU besser von „hier“ ist, um zu kandidieren. Bei Linken und Grünen: weil ich gern über die Politik des Landes, in dem ich arbeite, entscheiden, aber M-V nicht lieben würde. Solche Wähler wollen die Parteien offenkundig nicht.
Ich drehe es mal um: Angenommen, ich ginge nach Berlin. Wenn ich von Berliner Parteien erwarten würde, dass sie mir das Lebensgefühl von Mecklenburg-Vorpommern präsentierten, wäre das eine unrealistische Erwartung. Umgekehrt ist es genauso. Sie sind offenbar ein Linker mit planetarischem Anspruch – alles muss nach einem Modell funktionieren. Aber dann unterschiede sich Berlin ja gerade nicht von Schwerin. Wie langweilig das wäre! Wenn in Australien im Busch ein unberührtes Naturvolk gefunden wird, steht die gesamte Linke auf, um es vor dem Imperialismus zu beschützen. Die dürfen nicht Coca-Cola trinken und müssen weiter im Lendenschurz laufen. Auch wenn der Vergleich jetzt etwas hinkt: Wenn in Deutschland Trachtenvereine ihre kulturellen Traditionen pflegen wollen, gelten sie aus linker Sicht plötzlich als rückständig. Das ist doch bigott – und überheblich. Im Übrigen haben Sie vielleicht auch einen falschen Eindruck.
Der wäre?
Worum es mir nicht geht, ist – und das unterscheidet unser Programm deutlich von NPD oder AfD – Mecklenburg-Vorpommern zu einem großen Kulturarchiv zu machen, wo die Menschen quasi die Archivare sind.
Sondern?
Das Aufeinandertreffen von Modernität und Tradition. Kulturelle Entwicklung bedeutet eine Adaption bestehender Kulturbestände unter neuen Aspekten. Es gibt immer Umwandlungsprozesse.
Das ist auch wunderbar intellektuell. Verstehen Ihre Mecklenburger, dass zur Tradition Neues dazukommen muss?
Natürlich. Etwa wenn ich sage: „Schauen Sie sich Ihre Tracht an. Es ist nicht wahrscheinlich, dass sich junge Frauen so was im Hochsommer anziehen. Aber wie wäre es denn, wenn wir mal einen Modewettbewerb machten und Trachten modern durchdeklinieren würden, sodass sie zu moderner Alltagskleidung passen und sogar schick aussehen?“ Allen ist klar, dass heutige Mädchen nicht so rumlaufen möchten, aber man daraus vielleicht was machen kann. Was ja in München ganz normal ist.
Was ist mit Bayerisch und Fränkisch? Soll das dort auch an Schulen und Unis gelehrt werden?
Da ich keine Außenpolitik betreibe, äußere ich mich nur zu Dingen, die Mecklenburg-Vorpommern betreffen. Die Bayern sind klug genug, selbst zu entscheiden. Für Sie wird sich Folgendes vielleicht ganz schlimm anhören: Wir haben an der Uni Rostock einen Lehrstuhlinhaber für Niederdeutsch und in Greifswald zukünftig ein Kompetenzzentrum für Niederdeutsch. Die Wissenschaftler freuen sich darüber. Sie sagen: Endlich ist Schluss mit dem Kulturimperialismus. Gut: So drücken sie sich nicht aus, aber so fühlen sie sich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Christian Lindner
Die libertären Posterboys
Außenministerin zu Besuch in China
Auf unmöglicher Mission in Peking
Olaf Scholz’ erfolglose Ukrainepolitik
Friedenskanzler? Wäre schön gewesen!
Rücktrittsforderungen gegen Lindner
Der FDP-Chef wünscht sich Disruption
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht