SPD-Generalsekretärin über Wahlen: „Die Demokratie ist sozial gespalten“
Wahlen drohen zur Exklusivveranstaltung für die Mittel- und Oberschicht zu werden, sagt SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi. Politische Parteien müssten eingreifen.
taz: Frau Fahimi, seit Jahren sinkt die Wahlbeteiligung. Besorgt Sie das?
Yasmin Fahimi: Die wachsende Politikverdrossenheit sehe ich schon als Gefahr für unsere Demokratie. Nehmen Sie nur die Landtagswahl in Bremen: Wenn gerade mal die Hälfte der Wahlbeteiligten noch zur Wahl geht, ist das ein Alarmsignal.
Warum? Parlamente funktionieren doch auch, wenn nur wenige gewählt haben.
Eine offene Gesellschaft muss von möglichst vielen Bürgern akzeptiert werden, das festigt sie nach innen und außen. Denn Demokratie braucht Legitimation. In Bremen hat jeder Zweite entschieden: Der Staat interessiert mich nicht. Aber der Staat regelt nun mal viele Aspekte unseres Zusammenlebens.
Die 47-Jährige ist seit Januar 2014 Generalsekretärin der SPD. Die Chemikerin und Gewerkschafterin. Seit 1986 ist sie Mitglied der SPD.
Studien belegen, dass gerade arme und bildungsferne Menschen nicht wählen. Sind Wahlen überhaupt noch repräsentativ?
In der Tat gibt es einen Zusammenhang: Je prekärer das Milieu, desto niedriger die Wahlbeteiligung. Wahlergebnisse liefern deshalb längst kein repräsentatives Abbild der Gesellschaft mehr. In Bremen gingen die zehn Prozent der Bürger mit den höchsten Haushaltseinkommen doppelt so häufig zur Wahl wie die zehn Prozent mit den niedrigsten Einkommen.
Warum wählen abgehängte Milieus nicht mehr?
Viele Menschen fühlen sich von der Gesellschaft ausgeschlossen. Sie haben die Hoffnung verloren, dass Politik ihr Leben spürbar verbessern könnte. Sie fragen sich, warum sie sich an der Demokratie noch beteiligen sollen.
Was bedeutet das?
Wahlen drohen zur Exklusivveranstaltung für die Mittel- und Oberschicht zu werden. In Deutschland können wir diesen Trend bereits beobachten. Deshalb sehe ich alle Parteien in der Pflicht, etwas dagegen zu unternehmen.
Sie haben bereits mit Generalsekretären der anderen Parteien über Rezepte gesprochen. Welche Vorschläge machen Sie?
Als Generalsekretärin der SPD bin ich überzeugt, dass wir mehr Elemente direkter Demokratie brauchen. Sie zeigen den Menschen, dass sie Politik unmittelbar beeinflussen können. Und wir müssen Politik wieder stärker am Alltag der Menschen andocken. Zwei Beispiele: Es gibt Jugendparlamente auf kommunaler Ebene, in denen junge Leute Entscheidungen treffen. Und es gibt in vielen Schulen Juniorwahlen, die parallel zu Bundestagswahlen durchgeführt werden.
Die Jugendlichen dürfen ihren Schuldirektor wählen?
(lacht) Leider nicht. Die Juniorwahlen spielen die Bundestagswahl nach. Die Schülerinnen und Schüler engagieren sich in Parteien, wählen Spitzenkandidaten, es gibt Live-Debatten im Klassenzimmer. Am Schluss wählen alle Schüler, das Ergebnis wird verglichen mit dem Ausgang der Bundestagswahl.
Was bringt diese Simulation?
Einerseits merken Jugendliche sehr schnell, dass Politik verdammt spannend sein kann. Und sie politisieren sich und ihre Eltern. Plötzlich wird beim Abendbrot zu Hause über Politik diskutiert. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Wahlbeteiligung bei den Familien, deren Kinder an solchen Projekten teilnahmen, deutlich höher lag.
Sie haben vor einiger Zeit vorgeschlagen, Wahlen an anderen Orten als im Wahllokal möglich zu machen...
Ich bin dafür, dass wir den Wahlzeitraum ausweiten. Statt nur am Sonntag könnten die Bürger am ganzen Wochenende wählen, von Freitag bis Sonntag. Und ich finde, wir sollten Wahlen stärker ins Alltagsleben integrieren. Wählen muss wieder eine Selbstverständlichkeit werden. Da hilft es, seine Stimme unkompliziert in mobilen Wahlkabinen in Fußgängerzonen oder an Bahnhöfen abgeben zu können.
Für die Vorschläge haben Sie damals viel Häme geerntet. Warum eigentlich?
Einige sparten mit Häme nicht, von vielen anderen erhielt ich jede Menge Zuspruch.
CSU-Generalsekretär Scheuer lästerte, Sie hielten die Wähler für „bequem und faul“.
Ach, der Herr Scheuer. Mit meinen Vorschlägen die Demokratie zu stärken, habe ich jedenfalls mehr Aufmerksamkeit für das Thema geweckt als alle wohlfeilen Appelle an Wahlsonntagen zuvor.
Ich habe eine These, warum Sie aus der Union so scharf kritisiert wurden.
Oh, jetzt wird es interessant.
Die niedrige Wahlbeteiligung stabilisiert die Mehrheiten der Union. Vielleicht wollen CDU und CSU das gar nicht ändern?
Nein, denn so zynisch blickt selbst die Union nicht auf die Demokratie. Ich bin überzeugt, dass alle Demokraten ein Interesse daran haben, dass sich möglichst viele an Wahlen beteiligen.
In Bremer Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit lag die Wahlbeteiligung bei 31 Prozent. Im reichen Villenviertel Bremen-Horn lag sie bei 77 Prozent. CDU und FDP schafften hier Traumergebnisse.
Es ist richtig: Unsere Demokratie ist sozial gespalten. Gut gestellte Milieus sind in Wahlergebnissen überrepräsentiert. Davon profitieren eher Parteien des konservativen Spektrums, während die SPD oder die Linkspartei darunter leiden. Traurig für uns, aber wahr.
Angela Merkel verdankt ihre Kanzlerschaft auch einer Strategie namens „asymmetrische Demobilisierung“.
Wenn Sie das sagen.
Die CDU versucht Wähler links der Mitte von der Urne fernzuhalten, indem sie Themen wie den Mindestlohn kopiert. Warum sollte sie hohe Wahlbeteiligungen fördern?
Umso mehr freue ich mich, dass CDU und CSU sich jetzt an der parteiübergreifenden Initiative beteiligen wollen. Mir ist wichtig, dass wir nicht nur reden, sondern auch zu guten Ergebnissen kommen. Ich bin sehr dafür, Pilotprojekte in einzelnen Bundesländern zu testen.
CDU-Generalsekretär Tauber sagt, das Nichtwählen könne Ausdruck der Zufriedenheit mit einer Regierung sein. Stimmen Sie zu?
Ganz und gar nicht. Die Ergebnisse der Studien belegen: Frustrierte Menschen bleiben zu Hause. Sie versprechen sich nichts mehr von Parteien und sind resigniert. Das ist ja gerade die Gefahr. Nur Wohlhabende können sich einen schwachen Staat leisten, weil sie ihre Kinder auf Privatschule schicken und viele Angelegenheit mit Geld regeln können. Arme und Schwache brauchen hingegen einen starken, einen funktionierenden Staat. Leider entziehen gerade ausgerechnet die, die ein Interesse am Staat haben müssten, der Demokratie ihr Vertrauen.
Was kann die SPD gegen Merkels Demobilisierung tun?
Wir müssen deutlich machen, wo die Unterschiede liegen zwischen SPD und Union. Wir müssen eine Politik anbieten, die die Menschen direkt anspricht. Leute sorgen sich um ihre kranken Eltern, um die Schule ihrer Kinder, um ihren Arbeitsplatz oder ihren Kiez. Da müssen wir als SPD wieder genauer hinschauen. Wir müssen diese Gruppen gezielt ansprechen, etwa indem wir unsere Aktivisten auf Spielplätze schicken oder junge Leute zu Azubis in den Betrieb. Wir müssen raus ins Leben – mit dem SPD-Bus aufs Nachbarschaftsfest, mit der Gulaschkanone vor den Betrieb. Das Ortsvereinstreffen unter dem Hirschgeweih allein reicht nicht mehr.
Sind eigentlich arme und abgehängte Menschen eine Zielgruppe für die SPD?
Natürlich, die SPD ist eine Volkspartei. Uns geht es um den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft und um Solidarität. Wir versuchen, den Trend der wachsenden sozialen Spaltung zu stoppen.
Hat die SPD mitgeholfen, Menschen in die Demokratiemüdigkeit zu treiben?
Ich ahne, worauf Sie hinauswollen.
Die Agenda 2010 und die Hartz-Reformen stehen für soziale Kälte, für das Gegenteil also von dem, wofür die SPD historisch warb. Ist das korrekt?
Vieles an der Agenda 2010 war richtig. Die damaligen Sozialhilfeempfänger standen schlechter da als heutige Hartz IV-Empfänger, das sind immerhin 2,9 Millionen Menschen gewesen.1 Aber richtig ist auch, dass die Reformen Fehler hatten. Wir haben zum Beispiel mit dem Arbeitslosengeld II die Lebensarbeitsleistung von Menschen nicht ausreichend genug berücksichtigt. Diese Reformen haben Ängste in der arbeitenden Mitte erzeugt, auch wenn viele dort davon gar nicht direkt betroffen waren.
Als Gerhard Schröder 1998 das Kanzleramt erkämpfte, lag die Wahlbeteiligung bei 82,2 Prozent. Seitdem schrumpft sie, ähnlich sieht es bei SPD-Ergebnissen aus. Ist das Zufall?
Die SPD hat seit Schröder mit einigen Regierungsprojekten ihre eigenen Wähler überproportional gefordert, viele auch frustriert oder verschreckt. Viele haben uns übel genommen, dass wir die Rente mit 67 mitgetragen haben. Solche Wähler müssen wir jetzt mühsam zurückgewinnen.
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