Riot Dogs in der Türkei: Wenn selbst Hunde für den Widerstand bellen
Straßenhunde mischen sich in Istanbul unter die Protestierenden. Doch warum schlagen sich sogenannte Riot Dogs auf eine Seite?

E s regt sich pelziger Widerstand in Istanbul: Der Straßenhund Direniş, ein Labrador-Mischling, nimmt seit Tag 1 vor Saraçhane an den Protesten teil. Spätestens ab dem dritten Tag kannte ihn jeder. Er bellt die Polizisten an, wenn sie Tränengas versprühen, läuft mit den Demonstranten mit und gönnt sich zwischendurch eine kurze Pause – mit Streicheleinheiten inklusive. Als echter Protestprofi ist er inzwischen zum Symbol des Widerstands geworden.
Die Demonstranten feiern Direniş oder auch Kahraman (Held) oder einfach „Köpek“ (Hund) – anscheinend hat er unzählige weitere Namen, weil jeder ihn anders nennt. Sie rufen: „Havla, havla, havlamayan Tayyipçi!“ – auf Deutsch: „Bell, bell! Wer nicht bellt, ist ein Erdogan-Anhänger!“ Eine humorvolle, aber auch tiefpolitische Parole, die zeigt, dass in Istanbul nicht nur Menschen, sondern auch Hunde klare Zeichen setzen können.
Hunde gegen Polizeihelme
Von Straßenhunden, die sich Protesten anschließen, hört man immer wieder. Sie haben sogar einen eigenen Namen: Riot Dogs. In den 2010er Jahren wurde Loukanikos, ein Riot Dog aus Athen, weltberühmt, weil er sich bei Protesten gegen die rigide Sparpolitik der Regierung wacker an die Seite der Demonstranten stellte. Er bellte Polizisten an, wich Tränengas aus und ließ sich nicht vertreiben. Er war kein gezielt trainierter Revolutionshund, sondern einfach ein Straßenhund mit einem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit – oder vielleicht einfach einer tiefen Abneigung gegen Polizeihelme.
Athen und Istanbul sind neben ihrer langen Geschichte, beeindruckenden Architektur und ihrer lebendigen Protestkultur beide für ihre Straßenhunde bekannt. Sie laufen durch enge Gassen, legen sich mitten in den Weg, als gehöre ihnen die Stadt – und irgendwie tut sie das auch. Und wie sich jetzt zeigt bleiben manche dieser Hunde nicht einfach nur stumme Beobachter. Doch was treibt Hunde dazu, sich den Demonstranten anzuschließen? Warum sind Riot Dogs so oft auf der Seite der Protestierenden?
Instinkt gegen Bedrohung
Eine Vermutung ist, dass sich Straßenhunde wegen ihres ausgeprägten sozialen Gespürs den Protesten anschließen. Sie orientieren sich an den Menschen, die ihnen Aufmerksamkeit und Futter geben – und das sind in solchen Situationen meistens die Protestierenden. Wer ihnen Wasser reicht oder kurz den Kopf krault, wird automatisch zum Verbündeten. Polizisten hingegen? Die tragen Helme, sind laut und sprühen mit Dingen um sich, die in den Augen eines Hundes sicher nicht wie freundliches Leckerli-Werfen aussehen.
Das passt auch zu der Theorie, dass die Tiere instinktiv auf Bedrohung reagieren. Hunde sind Meister der Körpersprache und achten auf die Körperspannung und die Lautstärke der Menschen um sie herum. Wer schreit, mit Knüppeln wedelt oder Pfefferspray verteilt, wird als aggressiv wahrgenommen. Wer ruhig bleibt und sich um den Hund kümmert, gehört automatisch zur sicheren Gruppe. Und wenn Direniş eins weiß, dann, dass es keine gute Idee ist, mit Leuten rumzuhängen, die Tränengas versprühen.
Und dann gibt es noch die mythische Erklärung der Demonstranten: Direniş hat den Widerstand im Blut. Es wird sich erzählt, dass seine Vorfahren bereits, während der Gezi-Proteste 2013 Pfefferspray geschluckt haben. Vielleicht wurde ihm also schon mit der Muttermilch beigebracht, dass man Polizisten besser anbellt, bevor sie wieder die ganze Stadt in Nebel hüllen. Vielleicht also ist es genetisches Gedächtnis.
Straßenhunden droht in Istanbul die Tötung
Womöglich ist Direniş Unterstützung einfach nur der Widerstand gegen eine eigene bittere Realität: Straßenhunde in Istanbul haben gelernt, dass sie nicht willkommen sind – zumindest nicht bei denen, die jetzt an der Macht sind. Die Regierung macht nicht nur Jagd auf Demonstranten, sondern auch auf die Straßenhunde. Seit dem vergangenen Jahr erlaubt ein neues Gesetz, Straßentiere zu töten – und wo sie einst selbstverständlich zum Stadtbild gehörten, werden sie nun systematisch ausgelöscht.
Vielleicht verteidigen Riot Dogs keine politische Ideologie. Vielleicht wissen sie nicht, was Demokratie ist oder warum die Menschen auf die Straße gehen. Aber sie wissen eins: Sie wollen frei sein, sich hinlegen, wo sie wollen, mitlaufen, wenn es spannend wird, und sich ihre Streicheleinheiten abholen, wann immer sie Lust haben. Solange es Hunde wie Direniş und Loukanikos gibt, wird der Widerstand weiter bellen – gegen Pfefferspray, Knüppel und Ungerechtigkeit.
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