Reportage von der ukrainischen Kriegsfront: Unter Dauerbeschuss

Trotz Gegenoffensive geraten die ukrainischen Streitkräfte vielerorts unter Druck. Im Serebrjanka-Wald zeigt sich die russische Feuerkraft besonders.

Ein Soldat der 5. Slobozhanka-Brigade steht vor einem zerschossenen Auto

Soldat „Makar“ von der 5. Slobozhanka-Brigade vor seinem Fahrzeug Foto: Juri Larin

SEREBRJANKA taz | Bis auf die Grundmauern zerstörte Wohnhäuser, dazwischen ausgebrannte, verrostete Fahrzeuge und Militärtechnik. Die Gegend, in der seit Monaten ukrainische und russische Soldaten gegeneinander kämpfen, vermittelt Endzeitstimmung. Im Gebiet des seit Monaten umkämpften Waldes von Serebrjanka, südöstlich der russisch besetzten Stadt Kreminna, etwa 80 km nördlich von Bachmut in der Region Luhansk, rücken die ukrainischen Verteidigungskräfte in südliche Richtung vor.

Und genau dort sind die russischen Truppen jetzt zum Angriff übergegangen. Von dem Wald ist nicht mehr viel übrig. Viele Bäume sind verbrannt und haben kein Laub, nur noch die kahlen Stämme ragen in den blauen Himmel. Am Donnerstag ist die Frontlinie nur etwa sieben Kilometer von der Kleinstadt Kreminna entfernt. Vor allem Einheiten der ukrainischen Nationalgarde und der Armee sind hier zur Verteidigung eingesetzt.

Der Wald selber ist für Journalisten nicht mehr zugänglich, da die russischen Streitkräfte ihn pausenlos beschießen und die gesamte Fläche mit Drohnen überwachen. Aber ganz in der Nähe, in einem komplett heruntergebrannten, namenlosen Dorf ist es möglich, mit Soldaten der 5. Slobozhanka-Brigade der ukrainischen Nationalgarde ins Gespräch zu kommen, die hier in der Gegend seit dem Winter unterwegs sind. Die Frontlinie ist nur wenige Kilometer entfernt, aus dem Waldgebiet hört man die nahe Artillerie.

Der Bataillonskommandeur der 5. Slobozhanka-Brigade, ein Oberstleutnant mit Kampfnamen „Kaiman“, erzählt, dass die russischen Soldaten seit einem Monat fast ununterbrochen die ukrainischen Stellungen beschießen. Täglich gebe es Angriffe. Auf russischer Seite stehen Einheiten der Luftlandetruppen und des privaten Sicherheits- und Militärunternehmens (PMC) „Sturm-Z“, die zum Teil aus ehemaligen Häftlingen bestehen. „Die Lage ist wegen der ständigen russischen Angriffe sehr angespannt“, sagt er. Jetzt im Sommer sei es sehr heiß, dazu hätten die Russen viel Artillerie, Infanterie und Ausrüstung zur Verfügung. Der Brigade stehen Fallschirmjäger und PMC-Einheiten von „Sturm-Z“ und „Bars“ gegenüber.

Russland feuert seit Kriegsbeginn Streumunition

„Unsere Jungs halten bis jetzt erfolgreich die Verteidigung aufrecht. Aber es ist schwierig. Die meisten Verluste haben wir durch Artilleriebeschuss.“ Die russischen Kräfte hätten Panzer, Kanonenhaubitzen und viele Mörser und Granatwerfer im Einsatz. Das sind noch alte sowjetische Modelle. „Was ich vorher noch nie gesehen hatte, ist der Tjulpan-Mörser mit einem Kaliber von 240 Millimeter, aus dem 100-Kilogramm-Granaten abgefeuert werden können. Ziemlich unangenehme Angelegenheit“, so „Kaiman“. Der Kommandeur fügt noch hinzu, dass sich die Angriffe der Besatzer im vergangenen Monat verdreifacht haben. Auch der Artilleriebeschuss werde immer stärker.

„Kaiman“ erzählt auch, dass die russische Armee seit dem ersten Tag des Einmarsches in die Ukraine Streumunition abfeuere, während es für die Ukraine von offizieller Seite aus dem Westen immer wieder heißt, dass die Lieferung dieser Munition unzulässig sei. Darüber hinaus setzen die Russen in der Region Kreminna fast täglich auch chemische Kampfstoffe ein.

Ein zerstörtes Haus, nur der Kamin steht noch

Endzeitstimmung: Die Gegend im Serebrjanka-Wald ist weitestgehend zerstört Foto: Juri Larin

„Die Giftgase verwenden die Russen praktisch täglich. Sie werden von Drohnen oder von Artillerie abgefeuert. Vor zwei Tagen zum Beispiel wurden chemische Granaten eingesetzt. Es gab eine Explosion in der Luft und dann strömte gelb gefärbtes Gas von oben herunter.“ Die Wirkung beschreibt „Kaiman“ so: „Man spürt, dass man erstickt, dass einem die Tränen kommen, dass man teilweise das Bewusstsein verliert.“

Die Granaten kämen sowohl bei Angriffen als auch bei Infanteriegefechten zum Einsatz. Neben Artillerie verfügt die russische Armee hier auch über zahlreiche Panzer, taktische Luftfahrzeuge und K-52-Hubschrauber. Auch bei Aufklärungs- und Kampfdrohnen haben die Russen einen Vorteil.

Für die allgemeine Mobilmachung

Und dann wird der Kommandeur emotional: Die ukrainischen Verteidigungseinheiten benötigen seiner Meinung nach ein Vielfaches an Artillerie, gepanzerten Fahrzeugen und Drohnenabwehrsystemen. „Weil es entweder keine oder nicht genügend Ausrüstung gibt, erleiden wir schwere Verluste bei der Infanterie. Die Infanterie muss einen Großteil der Arbeit erledigen, die eigentlich durch vernünftige Ausrüstung hätte erledigt werden können“, sagt er.

Der Kommandeur glaubt, dass eine allgemeine Mobilmachung in der Ukraine dazu beitragen würde, den Krieg zu beenden. „Diejenigen, die bereits in Kampfeinheiten sind, sollten auch an der Front eingesetzt werden. Die anderen müssen zunächst im Hinterland geschult werden. Aber wir müssen die Menschen in Bereitschaft versetzen.“ Für das Warum hat er auch eine Antwort: „Wenn der Gegner unsere Ortschaften einnimmt, werden diejenigen, die nicht in Bereitschaft sind, vom Gegner gewissermaßen aktiviert. Und sie müssen dann ­gegen uns kämpfen. Wir werden dann gezwungen sein, sie zu töten“, sagt er.

Den Einsatz von chemischen Kampfstoffen durch die Russen bestätigt auch der Luftaufklärungsoffizier der Brigade, Unterleutnant Oleksandr, Kämpfer und Abgeordneter des Charkiwer Gebietsrates. „Die Situation ist ständig schwierig, aber unter Kontrolle“, sagt er.

Ein Kompaniechef der 5. Slobozhanka-Brigade der ukrainischen Nationalgarde, ein Oberleutnant mit dem Kampfnamen „Elf“, erklärt die Taktik der russischen Streitkräfte. Die Soldaten griffen in kleinen Gruppen an: Die Hälfte des Trupps, fünf bis sechs Mann, rückten vor, versuchten, die ukrainischen Stellungen zu stürmen, um zu prüfen, welche Waffen die Soldaten hätten. Gelänge es ihnen, weiter vorzudringen, rückten zwei weitere Deckungsgruppen vor, die ihnen während des gesamten Gefechts zur Seite standen, und sichern sich in neuen Stellungen.

„Die Jungs haben einen starken Willen“

Schlüge der russische Angriff fehl, werde ein Teil der Vorhut getötet, der Rest drehe einfach um und ziehe sich zurück. „Elf“ sagt, dass die Russen fast nie ihre Toten einsammelten. Sie kämpften jedoch sehr professio­nell und geschickt und verwenden relativ neue Ausrüstung, darunter T-90-Panzer.

Ein anderer Kommandeur des Bataillons, ein Oberstleutnant der Nationalgarde mit dem Kampfnamen „Baschnja-5“, stellt fest, dass die Moral der ukrainischen Soldaten höher sei, was ihnen ermögliche, sowohl den überlegenen gegnerischen Kräften als auch dem Beschuss zu widerstehen.

„Die Jungs haben einen starken Willen, sie halten durch. Ich habe selbst so einen Fall erlebt: Ein Mann weint, setzt sich aber trotzdem ins Auto und fährt zum Kämpfen. Sie haben Kampfgeist. Im Gegenzug nehmen können die Russen mit ihrer schlichten Menge wuchern. Ich verstehe die russische Mentalität nicht. Sie schicken einfach immer wieder Leute los, zum Teil sind sie nur mit Granaten in die Schützengräben gegangen. Wenn sie getötet werden, kommen gleich die nächsten. Keine Ahnung, was da mit ihrer Moral passiert ist, vielleicht sind sie alle gehirngewaschen“, sagt der Offizier.

Der Kommandeur „Basch­nja-5“ kommt aus der gleichen Kleinstadt wie der Autor, aus dem Gebiet Charkiw. Sie kennen sich schon über zwanzig Jahre, waren Rivalen beim Basketball. Zum Abschied machen sie noch ein gemeinsames Foto. Als Andenken.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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