Kriegstote in der Ukraine:Leben mit dem Sterben
Nahezu jeder in der Ukraine kennt im russischen Angriffskrieg Gefallene. Wie können Hinterbliebene und Gesellschaft mit dem Verlust weiterleben?
9.9.2023, 16:45 Uhr
Eine junge Frau hockt neben einem mit Blumen bedeckten Sandhügel im Staub. Sie hat ihre Knie an den Oberkörper gezogen und spricht leise, ihren Blick auf das Foto eines jungen Mannes in Tarnuniform gerichtet, das an einem dunklen Holzkreuz hängt. Ein Schnapsfläschchen steht auf dem Sand, am zweiten nippt sie. Tränen rollen über ihr rotes Gesicht. Um sie herum flattern im trockenen Sommerwind Hunderte gelb-blaue Ukraineflaggen.
Ein Stück entfernt sitzen zwei ältere Frauen auf der Bank an einem befestigten Grab. Sie haben Salat, belegte Brote und Hochprozentiges dabei. Ein wenig von allem legen sie auf die Steinplatte. Dann essen und trinken sie, erzählen und lachen laut. Am anderen Ende des Gräberfelds fahren Autos vor. Anhalten, aussteigen, bekreuzigen, innehalten, weiterfahren. An vielen Gräbern liegen frische Quarkkäulchen, Schokoriegel, Kaffeegläser oder eben Schnapsflaschen. Die Toten werden häufig besucht.
Russland hat mit seinem Angriffskrieg ein großes Sterben in die Ukraine gebracht. Wie hier auf dem Waldfriedhof in Kyjiw wachsen überall in der Ukraine die Friedhöfe, um die vielen neuen Toten beerdigen zu können.
Zivilist*innen sterben durch Raketen und Drohnen, die Russland täglich auf Orte im ganzen Land abfeuert. Soldat*innen fallen im Kampf an der Front. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt, denn militärische Verlustzahlen werden aus strategischen Gründen nicht veröffentlicht. Eine offizielle Sterblichkeitsstatistik gibt es nicht, doch Soziolog*innen und Mediziner*innen sagen, dass auch Sterbefälle durch Erkrankungen zunehmen: Andauernder psychischer Stress und ein belastetes Gesundheitssystem erschweren Behandlung und Heilung.
Auf den Friedhöfen gibt es neben zivilen Gräbern Kriegsabteilungen. Dort liegen seit 2014 im Donbass Gefallene, seit eineinhalb Jahren auch im sogenannten großen Krieg getötete Soldat*innen. Zwischen den zivilen Toten sind einige Menschen anonym beerdigt, die noch nicht identifiziert sind. Über einen zentralen nationalen Heldenfriedhof in der Hauptstadt wird emotional gestritten.
All diese Toten hinterlassen noch mehr Angehörige mit Trauer, Angst, Schuldgefühlen und Wut. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) meldete auf Grundlage von Statistiken anderer Kriegsgebiete, dass rund 22 Prozent der Kriegsbetroffenen unter psychischer Belastung litten: in der Ukraine etwa 10 Millionen Menschen. Das Gesundheitsministerium rechnet laut einer Bedarfsanalyse gar mit 15 Millionen, die schon jetzt psychologische Betreuung benötigten.
Wie umgehen mit Verlust und Schmerz? Wie weiterleben mit dem omnipräsenten Sterben und Töten, während der Krieg andauert? Die taz hat Betroffene auf Friedhöfen und an Orten traumatischer Erlebnisse sowie eine Traumapsychologin gesprochen. Sie sind sich einig: Dieser Schmerz wird bleiben. Und die Gesellschaft verändern.
Im westukrainischen Lwiw sitzt Alla Tschajka an einem Julimontag am Grab ihres Sohns. Es ist eines von über 400 Heldengräbern auf dem sogenannten Marsfeld, benannt nach den Militäraufmarschplätzen im alten Rom. Täglich werden es mehr, neue Gruben sind bereits ausgehoben. Dieser Ehrenhain für gefallene Soldat*innen grenzt direkt an den historischen Lytschakiwskyj-Friedhof, bekannt für viele habsburgische, polnische, ukrainische Grabstätten verschiedener Epochen.
Routiniert wischt Alla Tschajka den Staub von Holzrahmen, Kreuz und Engellämpchen, pflegt die Blumen, legt Süßigkeiten auf die Steinchen. Das Foto vor ihr zeigt Sohn Taras in Uniform. „Gestern vor einem Jahr habe ich ihn zum letzten Mal persönlich gesehen“, sagt sie. „Danach nur noch per Videocall.“
Alla Tschajka ist jeden Tag auf dem Friedhof, bei jedem Wetter. Sie hat dafür in ihrem Bürojob von Voll- auf Teilzeit gewechselt
Trotz einer Immunkrankheit hatte sich der 29-jährige Jurist im Februar 2022 als Freiwilliger zum Militärdienst gemeldet, kam im Sommer zur Aufklärung an die Front. Seine Mutter unterstützte die Entscheidung: „Er hätte sich nicht melden müssen, aber hielt es für richtig. Ich war und bin stolz auf ihn.“
Am 2. November wurde Taras im Gebiet Donezk bei einer Evakuierung durch russische Artilleriegeschosse getötet. Das sei an der Straße zwischen Lyman und Kreminna gewesen, habe die Mutter später von seinen Kameraden erfahren. Die Gegend gilt bis heute als einer der gefährlichsten Frontabschnitte.
Taras Tschajka hatte vor dem Krieg als Insolvenzverwalter gearbeitet. Seine Einheit schreibt in einem Abschiedspost auf Facebook über ihn: „Er glaubte daran, dass man sich bei allen Streitigkeiten einigen sollte und kann.“ Eine Petition von Kolleg*innen und Verwandten fordert von Präsident Wolodimir Selenski, Tschajka als Helden auszuzeichnen. Am 12. November brachte ihn ein öffentlicher Trauerzug vom Gedenkgottesdienst in der Garnisonskirche über den Markt zum Friedhof.
Alla Tschajka ist seitdem jeden Tag hier, bei jedem Wetter. Sie hat dafür in ihrem Bürojob von Voll- auf Teilzeit gewechselt. Manchmal begleiten sie Taras’ Witwe, seine fünfjährige Tochter oder der Zwillingsbruder Nasar.
Alla Tschajka spricht langsam, gefasst. „Er war schon Kommandeur, wollte an jenem Tag unbedingt selbst fahren − im dritten Auto.“ Das mit dem dritten Fahrzeug im Konvoi ist wichtig. Denn sobald feindliche Truppen das erste Auto einer Kolonne entdecken, können sie ihre Feuerwaffen darauf ausrichten. Das erste und zweite Auto schaffen sie dann meist noch nicht zu treffen, aber weitere – dritte und vierte Fahrzeuge – schon. Ihr Sohn habe sich für seine Kameraden geopfert, sagt die Mutter weinend. Dann lächelt sie: „Manchmal, wenn ich allein zu Hause bin, höre ich noch immer seine Schritte in der Wohnung. Ich träume von Gesprächen mit ihm. Ich weiß, dass er da ist.“
Ein paar Reihen hinter Alla wird eine Diskussion laut. Ein paar Frauen diskutieren über Staatshilfen für Hinterbliebene. Eine Frau erzählt aufgeregt: „Mein Sohn war Minenräumer, bekam einen Auftrag am Abend. Da sprengte ihn eine Mine in die Luft.“ Dennoch habe sie keinerlei Finanzhilfe bekommen, weil ihr Sohn nicht bei direkten Kampfhandlungen getötet wurde. Die Frau weint, ihre Freundin umarmt sie fest.
Alla Tschajka hört kurz zu, zuckt mit den Schultern. „Freundschaften oder Ehen können zerbrechen, aber das eigene Kind zu verlieren, das ist das Schlimmste. Diesen Schmerz kann nichts und niemand wiedergutmachen.“ Auch kein Geld, keine Heldenehren.
Die Trauernden grüßen sich – man kennt sich auf dem Friedhof. „Wie geht’s?“ − „Ganz gut.“ Selten mehr. Alle hättenen mit dem eigenen Schmerz und der eigenen Wut zu tun, sagt Alla. Sie beispielsweise sei wütend, dass sie ihren Sohn verlor, während andere Familien ihre „Männer versteckten“, ihnen Krankheiten bescheinigten oder sie gar illegal ins Ausland gehen ließen.
Ihr einziger Lichtblick: Direkte Verwandte Gefallener dürfen nicht mobilisiert werden, Taras’ Zwillingsbruder − Allas verbleibender Sohn − wird also bleiben. „Zum Glück. Ich will nicht noch einen Sohn hergeben, so wichtig die Verteidigung unserer Ukraine auch ist.“ Dann holt sie ihr Telefon aus der grauen Lederhandtasche und zeigt Selfies von ihrem toten Sohn, Fotos von dessen Frau und Tochter. Schwere Tränen rollen über ihre Sommersprossen. „Wenn ich hier bin, fühle ich, dass Taras noch da ist.“
Bekannte rieten ihr schon, seltener zu kommen. Besser vergessen, sich nicht jeden Tag an den Verlust ihres Sohnes erinnern. Vielleicht mal zum Psychologen gehen. Aber Alla Tschajka ist skeptisch: „Andere hier sind schon abhängig von Psychopharmaka, wie bei Junkies zittern ihre Hände. Ich will Taras auch nicht vergessen, ich muss die Trauer leben. Nur hier bin ich innerlich ruhig.“
Fotos von Misshandelten noch auf dem Handy
500 Kilometer östlich kann Elena Galaka mit innerer Ruhe nichts anfangen. Wie Tschajka ist sie Mitte 40 und Mutter. Galaka lebt in Butscha, dem Kyjiwer Vorort, nach dessen Befreiung im Frühjahr 2022 erstmals abscheulichste Gräueltaten russischer Truppen ans Licht kamen: Folter, Vergewaltigungen, willkürliches Verwunden und Töten. Galaka ist Polizistin und hat jene Kriegsverbrechen mit dokumentiert als Beweise für künftige Prozesse. Fotos und Videos von Misshandelten und Getöteten sind noch immer auf ihrem Handy.
Ihre fünf Kinder hatte Galaka während der Kämpfe zu einer Freundin nach England gebracht. Sie selbst blieb in Kyjiw. Mittlerweile sind alle zurück, leben in einem ruhigen Einfamilienhaus am Wald. Der Blick übern Gartenzaun fällt auf eine Ruine, zerschossen von einer russischen Rakete. Elena wuchs in Butscha auf, damals gehörte es noch nicht zum Kyjiwer Speckgürtel. Unter den Besatzungsopfern und Fronttoten aus Butscha sind ihre Nachbar*innen, Freund*innen, Bekannte.
An einem Julisonntag besucht Elena Galaka nun zum ersten Mal die „Heldenallee“ im Zentrum. Familien konnten Fotos und Kurzbiografien ihrer Gefallenen dafür bei der Stadt einreichen. Auf etwa 20 Posterständern sind insgesamt 800 Personen porträtiert. Galaka kennt fast jedes zweite Gesicht. Da bleibt sie stehen, wischt sich mit dem Handrücken über das geschminkte Gesicht. Schnieft und erzählt: Mit dem einen ging sie zur Schule, ein anderer war der Sportlehrer ihrer Kinder, ein Dritter ein Polizeikollege. Sie alle sind an der Front gefallen.
Sie unterdrückt Tränen, geht mit kräftigen Schritten weiter. „Ich war bisher nie hier. Ich dachte immer, ich halte das nicht aus“, sagt sie, „aber irgendwann muss ich das ja schaffen.“ Dann will sie noch zum Stadtfriedhof. „Der ist jetzt dreimal so groß, so viele Tote gibt es bei uns.“ Hinter Hunderten Gräbern steht eine Ukraineflagge einsam auf einer ungemähten Wiese. „Dieser Platz ist für die kommenden Fronttoten reserviert“, sagt Galaka. „Man erwartet wohl noch einige.“ Wieder schnieft sie. Und stapft zu den Besatzungsopfern. Auf einem Grabtisch mit Tischdecke steht ein frisch gebackener Kuchen.
Viele Kreuze tragen Nummern, die Toten sind noch nicht identifiziert. Offiziell wird von 400 Opfern der russischen Besatzung in Butscha gesprochen. Die Zahlen auf dem Friedhof reichen bis 681. Manche tragen Namen, auch hier kennt die Polizistin einige.
Wenn Elena Galaka durch Butscha fährt, sieht sie überall den Tod, etwa hinter der Sankt-Andreas-Kathedrale, wo Tote aus einem Massengrab geholt wurden. In einer Eigenheimsiedlung zeigt sie: „Wenn vor den Häusern zwei ausgebrannte Autos stehen, dann war zum Zeitpunkt des Einschlags die ganze Familie zu Hause. Also jetzt alle tot.“ Am Bahndamm: „Hier lagen verminte Leichen.“
Das neu eröffnete Café in einem Waldstück ärgert sie besonders. Im Frühjahr 2022 wurden hier Menschen verbrannt. Galaka zeigt das leer stehende Wohnhaus der Opfer in der Nähe: „Hier hat man die Familie erschlagen, dann in das Wäldchen geschleift. Dort angezündet.“ Sie zeigt die Stelle, vergleicht die Perspektive mit Fotos und Videos von damals: ein Haufen gelb-braun-schwarzer Körper mit eitrig-weißen Augenhöhlen, geschmolzenen Kleidungs- und Hautfetzen. Beine und Arme vom Feuer zerfressen. Hände und Füße wie Krallen erstarrt. In offenen Rippen schimmert rotes Blut.
„Jetzt wird hier bis spät gefeiert. Dem Cafébetreiber ist egal, was hier passiert ist.“ Sie habe ihn schon angesprochen, sei laut geworden. Wütend fluchen − das kann sie gut. „Für viele hier ist der Krieg vorbei. Aber das alles geht weiter, nur woanders.“
Elenas Hände zittern, als sie wieder im Auto sitzt. „Puh“, sie atmet schwer, „ich habe nicht erwartet, dass mich dieser Ort so belastet.“ Sie trinkt hastig aus der Wasserflasche, raucht eine E-Zigarette. Wie sie das Erlebte verarbeitet? „Gar nicht, keine Zeit.“ Wie viele andere Fronthelfende und Soldat*innen sagt sie: „Wenn ich jetzt zur Psychotherapie gehe, dann falle ich aus.“ Aber sie müsse einsatzfähig sein: für ihre fünf Kinder, für ihre Polizeisondereinsätze an der Front, für ihre Hilfsfahrten mit Lebensmitteln und Zusatztechnik für die Aufklärungseinheit ihres Lebensgefährten. Diese habe gerade versucht, im Südosten die russische Frontlinie zu durchbrechen.
Elena wartet nervös auf Lebenszeichen. „Ich bin so wütend darüber, was uns diese Monster antun. Ich muss jetzt durchhalten, arbeiten, mithelfen, mitkämpfen, damit wir endlich gewinnen“, sagt sie. „Alles andere dann nach dem Sieg.“
Den richtigen Weg des Trauerns finden
Sich der Trauer ergeben oder den Schmerz verdrängen − was ist richtig? Natürlich will Psychologin Susanna Anhelowa das so einfach nicht bewerten. Sie sagt: „Wir müssen wegkommen von strengen Regeln hin zu einer reflektierten Gedenkkultur. Wichtig ist, dass die Person den für sie richtigen Weg des Trauerns findet.“
Susanna Anhelowa sitzt am Dniprostrand im Kyjiwer Stadtteil Obolon. Rundherum wird gebadet und gepicknickt. Anhelowa ist Psychologin, arbeitet seit 2014 mit traumatisierten Menschen, betreut individuell Patient*innen und seit 2022 auch vom Krieg betroffene Familien mit Kindern in mehrwöchigen NGO-Erholungsprojekten, deren Programm sie mit erarbeitet hat.
Hauptziel der Traumaarbeit ist emotionale Stabilität, auch durch Legitimierung und Akzeptanz aller Gefühle
Jüngst träumte sie von ihrer Arbeit: Sie trat vor eine Gruppe aus rund 30 Personen. „Darunter waren die Lebenden und auch die Toten.“ Alle stellten sich vor, berichteten von ihren Erlebnissen. „Und ich konnte plötzlich die Lebenden und Toten nicht mehr unterscheiden.“ Die Toten blieben Teil des Lebens, sagt sie.
„Beziehungen enden nicht mit dem Tod, sie entwickeln sich auch danach weiter. Und Trauer ist so ein Teil der Liebe.“ Dazu könne dann der regelmäßige Besuch am Grab des Verstorbenen wie bei Alla Tschajka in Lwiw ebenso gehören wie die Arbeitswut bei Elena Galaka in Butscha.
Hauptziel der Trauma-Arbeit sei dann emotionale Stabilität, auch durch Legitimierung und Akzeptanz aller Gefühle. Traurigkeit, Wut, Angst, Hass, Schuld: „Alle diese Emotionen sind normal.“ Leider, so die Psychologin, sei das Trauern noch immer oft von religiösen Vorstellungen geprägt, deren Einfluss in Kriegszeiten wieder zunehme. Viele Menschen suchten da Halt und Orientierung. Doch gepredigt werde Vergebung ohne Raum für Gefühle wie Wut, Hass und Rache.
Viel zu oft schämten sich Betroffene dann für ihre Gefühle. Eltern weinten nur versteckt, damit Kinder es nicht sähen. Diese übernähmen das und weinten auch nur noch heimlich. Das ist das Einzige, was Susanna Anhelowa falsch findet: „Denn so verschließt der Schmerz den Menschen in einer Kapsel, dann vereinzelt man in der Gemeinschaft, die Gesellschaft zerfällt − daran arbeitet der Feind mit seinem Krieg. Das ist auch ein Krieg auf psychologischer Ebene.“ Was sie ihren Patient*innen vermittelt: sich das Weinen erlauben, neue Kontakte knüpfen, um auch Schmerz zu teilen. Dann Kraftquellen und Sinn im eigenen Alltag finden. Dazu kämen Atem- und Muskelübungen für Stresssituationen.
Es helfe, sich der eigenen Rolle als Mutter, Polizistin, Fronthelfende, Soldat, Ehefrau, Journalistin und so weiter bewusst zu werden und darin sinnvolle Aufgaben zu definieren. Zu lernen, in jedem Moment etwas Positives zu entdecken. Viel mehr sei im Krieg auch kaum möglich. Denn der wirke wie eine „Betäubung“, viele Verarbeitungsprozesse blieben eingefroren. Durchhalten sei gefragt. Vor allem unter Soldat*innen, aber auch unter der Zivilbevölkerung.
All das betrifft Susanna Anhelowa als Psychologin auch persönlich. Darum beherzigt sie die Ratschläge, die sie anderen empfiehlt. Zum Beispiel in einem seltenen Schockmoment in der ersten Gruppensitzung mit älteren Frauen über 50 aus den Kriegsgebieten im Osten: „Sie sprachen sofort detailliert darüber, in welchen Zuständen sie die Leichen ihrer Angehörigen gefunden hatten. Wie weit Körperteile auseinanderlagen, wie sehr verkohlt sie waren. Das waren für sie ganz normale Informationen, so zum Kennenlernen.“
Sie spürte, wie sich ihr Magen vor Stress verkrampfte, zweifelte, ob sie dieses Gespräch aushalten werde. „Wenn es schwer wird, frage ich mich: Wer bin ich, was mache ich hier?“ Anhelowas professionelle Rolle fordert, „den Schmerz der anderen nicht als eigenen Schmerz anzunehmen“. Ihre Kraftquelle sei auch dieser Dniprostrand hier, unweit ihrer Wohnung. „Ich schwimme hier morgens und abends, wenn wenig los ist. Im Wasser habe ich das Gefühl, wirklich loslassen zu können.“
Erinnerungskultur statt Heldenmythen
Gesamtgesellschaftlich wünscht sich die Psychologin statt der in den sozialen Netzwerken und auf Straßenplakaten omnipräsenten Heldenmythen eine Erinnerungskultur: „Überall heißt es, Helden sterben nie − aber doch, unsere Helden hier sterben. Jeden Tag, sehr viele.“ Es habe ja schon früher viel Schmerz in der ukrainischen Geschichte gegeben: Holodomor, Repressionen, Zweiter Weltkrieg, Annexion der Krim, Donbasskrieg − „aber der Schmerz wurde in der Geschichte immer von Russland unterdrückt“.
Vor allem zu Sowjetzeiten habe es keine Möglichkeiten gegeben, ukrainischer Opfer zu gedenken. „Dieser Schmerz jetzt wird uns endgültig von den Russen trennen und auch die letzten Verbindungen einiger Sowjetnostalgiker auflösen.“
Und dann, nach dem ukrainischen Sieg, hofft sie, könnten aus dem Schmerz Bewegungen entstehen. „Die gemeinsame Wut müsste man kanalisieren − erst gegen den Feind, dann für die eigene Gesellschaft: für mehr soziale Gerechtigkeit, neue Gesetze, besonders natürlich gegen Korruption.“ Die Regierung von Präsident Selenski versucht tatsächlich, Anstrengungsbereitschaft zu signalisieren: Anfang der Woche erst musste Verteidigungsminister Oleksij Resnikow gehen, nachdem Recherchen von Journalisten nahelegten, dass in seinem Ministerium Gelder veruntreut wurden.
Bedeutung der psychischen Gesundheit erkannt
Der ukrainische Staat hat die Bedeutung der psychischen Gesundheit für die Kriegsgesellschaft indes erkannt. Denn natürlich sind Auswirkungen auf Kampfmoral, wirtschaftliche Entwicklung und Nachkriegsperspektiven zu erwarten. Die First Lady Olena Selenska hat zu ihrem Anliegen gemacht, was sie schon im Mai 2022 in einer Videobotschaft an die WHO erklärte: „Wir kämpfen auch um die mentale Gesundheit unserer Leute. Nachdem sie Besatzung, Front, Beschuss und die Zeit in Schutzbunkern oder in der Fremde überlebt haben werden, brauchen sie Rehabilitation wie physisch Verwundete.“
Selenska initiierte zusammen mit WHO und Gesundheitsministerium das Programm Ty jak? („Wie geht’s dir?“). Es soll psychische Erkrankungen und Therapien von Stigmata befreien. Dazu gehört eine große Medienkampagne in den sozialen Netzwerken und mit unzähligen Plakaten an Bahnhöfen, Straßen und in Metrostationen. Außerdem werden Weiterbildungen von Fachpersonal sowie 20 sogenannte Resilienzzentren für kostenlose und zertifizierte psychologische Hilfe eingerichtet. Die ersten Pilotprojekte haben schon begonnen.
Traumapsychologin Anhelowa kennt das Projekt natürlich, ist aber skeptisch: Die Kampagne bringe mehr Sichtbarkeit und könne die Tabuisierung abschwächen. Aber bisher sei das eher Symbolpolitik, langfristig würden da noch viel mehr Investitionen nötig. Ob der Staat sich das leisten kann und will, müsse sich zeigen.
Sicher ist nur: Der Krieg bringt weiter Tote und Belastung, der Schmerz wird bleiben.
Leser*innenkommentare
Karsten Hofmann
Es wird höchste Zeit die russischen 10.000fachen Mörder endlich zu stoppen und zur Verantwortung zu ziehen. (und ja, auch andere müssen noch angeklagt werden für vergangene Taten.)