Regierungskrise in Thüringen: Ein Bundesland steht still
Wie kommt das Land Thüringen wieder zu einer funktionierenden Regierung?
1. Wie geht es jetzt weiter?
Schwer zu sagen, denn im Thüringer Landtag gibt es derzeit fast täglich Überraschungen. Doch seit am Mittwochmorgen der Versuch gescheitert ist, eine Übergangsregierung unter der früheren CDU-Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht zu bilden, bleiben eigentlich nur noch zwei Optionen: Neuwahlen oder eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung, die mit Hilfe der CDU ins Amt kommt.
Man kann also sagen: Thüringen ist zurück auf „Los“. Da die CDU Neuwahlen unbedingt verhindern will, diese aber ohne ihre Stimmen nicht zu erreichen sind, bleibt eigentlich nur die zweite Variante. Dafür aber müssten vier Abgeordnete der CDU bei einer erneuten Ministerpräsidentenwahl für den Linken Bodo Ramelow stimmen, was ein Beschluss des Bundesparteitags eigentlich untersagt – weshalb die CDU das bisher ausgeschlossen hat. Doch schon an jenem verhängnisvollen 5. Februar, als schließlich FDP-Mann Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD gewählt wurde, hatte Ramelow zunächst zwei Stimmen mehr bekommen, als Rot-Rot-Grün hat.
Am Mittwochnachmittag nun kam eine kleine Verhandlungsrunde von Rot-Rot-Grün und CDU erneut zusammen, bei Redaktionsschluss tagte sie noch. Doch Beschlüsse soll es ohnehin erst am Freitag geben, wenn die große Runde wieder zusammenkommt. Mike Mohring, der allerdings Fraktionschef auf Abruf und an den Verhandlungen selbst nicht beteiligt ist, sagte, die CDU wollte dort einen neuen Vorschlag unterbreiten. Worin dieser bestehe, sagte er nicht.
Doch er betonte, dass Lieberknechts Analyse klug sei und sie richtig zusammengefasst habe, welche Möglichkeiten nun bleiben. Lieberknecht hatte gesagt: „Wer keine Neuwahlen will, muss Bodo Ramelow zu einer Mehrheit im Landtag verhelfen.“ Ramelow jedenfalls ist weiterhin bereit, sich einer erneuten Ministerpräsidentenwahl zu stellen – wenn es dafür eine Mehrheit im Landtag ohne AfD-Stimmen gibt.
2. Warum braucht Thüringen überhaupt eine Regierung?
Die Landesregierung, das sind der oder die Ministerpräsident:in und sieben Minister:innen, die politischen Chefs der Verwaltung. Sie fällen strategische Entscheidungen, entscheiden über Fördermittel und verhandeln mit dem Finanzministerium über den Haushalt (siehe weiter unten).
Außerdem sind sie die Ansprechpartner:innen für die Bundesregierung und ihre Kolleg:innen in den anderen Bundesländern. Während die Verwaltung das Land weiterhin verwaltet, sind diese politischen Posten derzeit unbesetzt. Aktuell gibt es nur ein ordentliches Regierungsmitglied, nämlich Thomas Kemmerich, der sich auch nicht um alles kümmern kann und nach seinem Rücktritt nur mehr geschäftsführend im Amt ist.
3. Was fällt nun alles flach?
Alle politisch-strategischen Entscheidungen, etwa darüber, ob im Harz künftig Gips abgebaut werden soll oder nicht, können nicht getroffen werden. Zudem fehlen Ansprechpartner:innen für die Bundesregierung und die anderen Bundesländer. Thüringens vier Sitze im Bundesrat blieben vergangene Woche leer. Die Verhandlungen mit dem Bund, etwa über die Kosten für Altlasten aus dem Kali- und Salzbergbau, aber auch über ein Aufnahmeprogramm für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge, sind ausgesetzt. Die Öffentlich-Rechtlichen machen sich gerade Sorgen um ihre Rundfunkbeitrage – denn der neue Staatsvertrag kann nur einstimmig von allen 16 Ministerpräsident:innen beschlossen werden.
4. Steht wenigstens der Haushalt?
Für das laufende Jahr gibt es einen Haushalt. Derzeit wird der Haushalt für das Jahr 2021 vorbereitet. Das Thüringer Finanzministerium hat gerade Briefe an alle Ministerien verschickt, die ihren Bedarf anmelden sollen. Normalerweise ist der Bedarf höher als die Ressourcen. Also würden anschließend die Minister:innen verhandeln und einen gemeinsamen Haushaltsentwurf beschließen.
Nach dem gesetzten Zeitplan sollte der im Juni in den Landtag eingebracht werden. Das wird wohl nicht klappen. Wird kein Haushalt verabschiedet, dürfen nur noch gesetzlich festgelegte Aufgaben aus der Staatskasse bezahlt werden. Jegliche Fördermittel an freie Träger fielen weg.
5. Kann der Bund intervenieren?
Auch wenn die Einlassungen der Bundeskanzlerin nach der Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten („Das Ergebnis muss wieder rückgängig gemacht werden“) einen anderen Eindruck erweckt haben mögen: Nein, der Bund darf nicht intervenieren, wenn sich ein Bundesland in einer Regierungskrise befindet. Natürlich dürfen Merkel und andere Bundespolitiker:innen Druck ausüben.
Wie Thüringen aber wieder zu einer funktionierenden Regierung findet, schreibt allein die Landesverfassung vor. Konkret: Entweder der Landtag wählt Ramelow in einem zweiten Versuch doch noch zum Ministerpräsidenten. Oder die Parteien einigen sich auf Neuwahlen. Dazu wäre im Landtag eine Zweidrittelmehrheit der 90 Abgeordneten nötig. Um die wird gerade gerungen (siehe Frage 1).
Im Grundgesetz heißt es entsprechend, dass die Bundesländer ihre inneren politischen Angelegenheiten selbst ordnen – solange die verfassungsmäßige Ordnung des Landes den Grundsätzen von Demokratie und Rechtsstaat entspricht (Artikel 28). Ausnahmen sind Gesetze des Bundes und der EU. Eine – nicht angeforderte – Intervention des Bundes oder gar der Bundeswehr erlaubt das Grundgesetz nur, falls eine „Naturkatastrophe oder der Unglücksfall das Gebiet mehr als eines Landes“ gefährdet (Artikel 35).
Für die CDU mag die Thüringer Regierungskrise ein bundesweiter Unglücksfall sein – laut dem Grundgesetz ist sie es nicht. Ach ja: Für den Fall, dass Höckes AfD eines Tages in Erfurt an der Macht sein und in Thüringen Hand an Demokratie und Rechtsstaat legen sollte, dann darf der Bund nicht nur intervenieren – er muss.
6. Was macht eigentlich der Mann mit der Glatze?
Das wüssten in Thüringen viele auch gerne. In der Staatskanzlei ist der FDP-Mann, der vor zwei Wochen mit den Stimmen seiner Partei, aber eben auch von CDU und AfD zum Ministerpräsidenten gewählt worden ist, selten zu sehen, an der Sitzung des Bundesrates hat er nicht teilgenommen. Auch zu den Gesprächen, die derzeit Rot-Rot-Grün und CDU führen (siehe Frage 1), um einen Ausweg aus dem Schlamassel zu finden, den Kemmerich mit der Annahme seiner Wahl angerichtet hat, ist die FDP trotz Einladung nicht gekommen.
Am Dienstag aber tauchte der 54-Jährige mit der markanten Glatze, der Inhaber einer Friseurkette ist, im Landtag auf. Er hatte auf eine Sitzung des Ältestenrats gedrungen. Dieser kam daher um halb vier zusammen, zwölf Minuten später war die Zusammenkunft vorbei, viele der Mitglieder verließen kopfschüttelnd den Saal. Kemmerich habe ein Statement abgegeben, sagte Landtagspräsidentin Birgit Keller vor der Tür. „Über das Wording befragen Sie ihn bitte selbst.“
Wenig später baut Kemmerich sich vor der Tür auf, breitbeinig und in Cowboystiefeln wie immer, und spricht von Verantwortung und einem transparenten Verfahren, sagt, dass die Landesregierung, die auf Spitzenebene aus ihm allein besteht – MinisterInnen gibt es ja nicht –, arbeitsfähig sei. Und dann spricht er sich gegen Neuwahlen aus: „Wir können nicht so lange wählen lassen, bis das Ergebnis sich einstellt, das uns allen passt.“ Bei seinem Rücktritt hatte er noch für schnelle Neuwahlen plädiert. Laut Umfragen droht der FDP, an der Fünfprozenthürde zu scheitern.
7. Hat Thüringen keine anderen Probleme?
Doch, eigentlich ziemlich viele. Eine alternde Bevölkerung, niedrige Löhne, Lehrermangel – die Liste der Probleme des Freistaats ist auch ohne Regierungskrise lang genug. Die meisten von ihnen sind struktureller Natur: Ein Drittel der Arbeitnehmer sind im Niedriglohnsektor beschäftigt. Laut Paritätischem Armutsbericht lebt fast ein Fünftel der Thüringer Bevölkerung in Armut. Mit einer Armutsquote von 18,9 Prozent liegt der Freistaat damit im Bundesländer-Vergleich auf Platz zwölf.
Auf den hinteren Rängen liegt Thüringen ebenfalls bei der Altersstruktur: Der durchschnittliche Thüringer ist 47,2 Jahre alt. Nur Sachsen-Anhalt hat eine leicht ältere Bevölkerung. Das Thüringer Landesamt für Statistik prognostiziert, dass das 2-Millionen-Einwohner-Bundesland bis 2040 etwa 280.000 Einwohner weniger haben wird.
Eine weitere Herausforderung für Thüringen: der Lehrermangel im Land. Wer diesen verschuldet hat, war ein heiß diskutiertes Thema im Wahlkampf. Fest steht: Der Freistaat braucht mehr Lehrer. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft Thüringen beklagt eine zu hohe Arbeitsbelastung der Thüringer Lehrkräfte und fordert zusätzliche 2.500 unbefristete Stellen.
8. Gibt es denn auch gute Nachrichten aus Thüringen?
Ja, die gibt es. Am vergangenen Samstag haben mehr als 18.000 Menschen in Erfurt gegen die Wahl von Kemmerich zum Ministerpräsidenten demonstriert – und das, obwohl die aufrechten Demokrat*innen der Region zeitgleich damit beschäftigt waren, einen rechtsextremen Aufmarsch in Dresden zu blockieren. Spoiler: Auch das hat geklappt. Die Marschroute der Neonazis wurde erheblich verkürzt.
Gute Nachrichten meldet auch der Thüringen-Stand auf der Grünen Woche. Mehr als 32.000 Bratwürste wurden dort verspeist. Kein Wunder, schließlich sind sie als regionale Besonderheit von der EU geschützt. Erfreuliches hört man zudem aus der thüringischen Baubranche und dem boomenden Gesundheitssektor. Sie beglückten das Bundesland mit einem Wirtschaftswachstum von 0,6 Prozent im ersten Halbjahr 2019. Damit liegt Thüringen über dem Bundesdurchschnitt.
Winterliches Glück melden Landeskinder aus dem russischen Sotschi. Toni Eggert und Sascha Benecken holten WM-Gold im Rennrodeln. Last but not least: Der Thüringer Kopf von Combat 18 ist seine Gruppe los. Der rechtsextreme Zusammenschluss wurde Ende Januar von Bundesminister Horst Seehofer verboten und zerschlagen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül