Raubkunst aus der Akropolis: Gestohlene Götter
Der Parthenon thront über Athen. Doch seit über 200 Jahren fehlt ein Fries: Ein Brite ließ ihn mitgehen. Eine Rückgabe zieht sich. Jetzt tut sich was.
D er Blick aus dem obersten Stock des Athener Akropolis-Museums ist spektakulär, nicht nur für Altertumsforscher. Vor der bodentiefen Fensterfront erhebt sich aus nächster Nähe die Akropolis von Athen. Man erkennt die Propyläen, den Eingangsbereich zum heiligen Bezirk der Stadt auf dem 60 Meter hohen Burgberg, und den oberen Bereich, der mit mehreren Tempeln bebaut ist.
Aus allem heraus erhebt sich der Parthenon, der enorme Tempel, der der Stadtgöttin Athene geweiht war. Dieser Tempel, der im Anschluss an den Sieg über die Perser ab 447 v. u. Zeit durch die Bürger von Athen erbaut wurde, ist bis heute das Wahrzeichen der Stadt.
Um den Tempel aber zog sich im oberen Drittel ein insgesamt 160 Meter langer Fries von Reliefplatten aus Marmor, der die Prozession der AthenerInnen zu den alle vier Jahre stattfindenden Panathenäen, dem großen Fest für die Stadtgöttin Athene, zeigt. Dargestellt sind stolze Bürger, viele von ihnen zu Pferd, die vom griechischen Götterpantheon empfangen werden.
Dieser Fries gehört zu den wichtigsten Kunstwerken der griechischen Antike. Im dritten Obergeschoss des Museums ist er zu Teilen im Original zu sehen, auf einem Band, das der Größe des Parthenon entspricht. Doch an vielen Stellen besteht dieses Band nicht aus den originalen Marmorreliefs, sondern aus billigen Gipsabdrücken, die gar nicht verbergen wollen, dass es sich um Kopien handelt.
Gips in Athen, das Original in London
Die fehlenden Originale, darauf werden die BesucherInnen ausdrücklich hingewiesen, befinden sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Britischen Museum in London. Nur 40 Originalreliefs des Frieses sind in Athen ausgestellt, 56 dagegen in der britischen Hauptstadt. Seit Jahrzehnten, ja eigentlich schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Griechen wieder einen eigenständigen Staat etablieren konnten, wollen sie diese wichtigsten Kunstwerke ihrer Geschichte aus London zurückerhalten. Genauso lange schon weigern sich britische Regierungen, diese Kleinode zurückzugeben.
Erst jetzt, mehr als 200 Jahre nachdem der damalige britische Botschafter in Konstantinopel, Lord Thomas Bruce, 7. Earl of Elgin, einen großen Teil des Frieses und weitere 17 Skulpturen vom Parthenon 1801 nach London entführt hat, ist das Britische Museum bereit, ernsthaft mit Athen über diese Kunstschätze zu reden. Vor wenigen Tagen bestätigte das Museum, das es mit Athen Verhandlungen über eine „neue Partnerschaft“ hinsichtlich der Parthenon-Marmore gebe. Britische Medien berichten, es werde über einen kulturellen Austausch in Form einer Dauerleihgabe geredet, für die Griechenland dann entsprechend andere Kunstwerke an das Britische Museum ausleihen würde.
Das sei das Ergebnis von Gesprächen, die seit einem Jahr auf höchster Ebene geführt würden. Der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis habe sich deshalb mehrfach mit dem Chef des Britischen Museums, George Osborn, dem früheren Finanzminister unter David Cameron, getroffen.
Die 56 Friesplatten und weiteren 17 Marmorskulpturen, darunter die berühmten Pferdeköpfe vom Wagen der Göttin Selene, die demnächst nach Athen zurückgehen könnten, sollen aber nicht restituiert, sondern nur ausgeliehen werden. Seinen Eigentumsanspruch will das Britische Museum nicht aufgeben, wohl auch aus Furcht, dies könnte weitreichende Folgen für andere unter zweifelhaften Umständen ins Britische Museum gelangte Artefakte haben. Das aber, berichten wiederum griechische Zeitungen, könne von Athen nicht akzeptiert werden. London muss den Raub anerkennen, ist die Parole der griechischen Regierung.
Denn der vom Museum behauptete Besitzanspruch für die sogenannten „Elgin Marbles“ ist äußerst umstritten und wird nicht nur von Athen, sondern auch von vielen Fachleuten abgelehnt. Schaut man sich die Umstände dieses „Erwerbs“ durch Lord Elgin genauer an, muss man feststellen: Der Raub der Friesplatten vom Parthenon auf der Athener Akropolis ist sozusagen die Mutter aller Kunstraube, die die europäischen Großmächte im 19. Jahrhundert im Orient begangen haben.
Der Raub von Lord Elgin im Jahr 1801 war nicht nur zeitlich der erste, er enthielt auch bereits alle Zutaten, durch die die Ausplünderung antiker Stätten im heutigen Griechenland, der Türkei, im Irak und Ägypten, um nur die wichtigsten zu nennen, im 19. Jahrhundert ermöglicht wurde. Als damaliger britischer Botschafter in Konstantinopel repräsentierte Lord Elgin das Land, mit dem das Osmanische Reich in Ägypten gemeinsam gegen Napoleon kämpfte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts waren sowohl Ägypten als auch Griechenland noch Teil des Osmanischen Reiches. Die Waffenbrüderschaft in Ägypten war die politische Basis, die es dem britischen Lord ermöglichte, sich selbst zum Raub der wichtigsten Kunstschätze vom damals bereits schwer beschädigten Parthenon zu ermächtigen.
Dabei ist die Behauptung, die in London bis heute angeführt wird, Lord Elgin hätte für sein Vorgehen eine schriftliche Erlaubnis des damaligen Sultans Selim III. gehabt, nachweisbar falsch. Dieser sogenannte Ferman existiert nicht, er konnte deshalb auch nie vorgezeigt werden.
Zuletzt hat der türkische Historiker Orhan Sakin, ein Experte für das Osmanische Archiv in Istanbul, die gesamten dafür in Frage kommenden Bestände noch einmal durchsucht. Das einzige Dokument zu dem Vorgang ist nach seinen Angaben die Kopie einer italienischen Übersetzung eines Briefes, den der damalige Kaymakam von Athen, also der oberste osmanische Beamte der Stadt, an Lord Elgin geschrieben hat. In dem Schreiben geht es darum, dass Lord Elgin die Erlaubnis besaß, Gipsabgüsse zu erstellen, jedoch keinesfalls die 2.400 Jahre alten Kunstwerke vom Parthenon abzuschlagen und nach London zu verschiffen.
Vom Brief des Kaymakam existiert kein Original mehr und von dieser untersten bürokratischen Ebene aufwärts gibt es erst recht kein Dokument. Ein Ferman des Sultans wäre aber unbedingt dem Archiv einverleibt worden, weil diese hohen Erlasse alle sorgfältig dokumentiert wurden.
Raub als Rettung deklariert
Als Rechtfertigung für seinen Kunstraub führte Lord Elgin später ein weiteres Argument an, das europäische Archäologen im 19. Jahrhundert immer wieder bemühten. Er habe die Kunstschätze „retten“ wollen, sie wären in der instabilen Situation des Osmanischen Reiches gefährdet gewesen. Nicht zuletzt verweigert das Britische Museum eine Restitution der Kunstwerke mit dem Argument, das Museum hätte die Exponate 1816 rechtmäßig von Lord Elgin erworben.
Bis das neue Akropolis-Museum in Athen 2009 eröffnet worden war, wurde, wie in vielen anderen Fällen auch, immer wieder angeführt, Athen habe doch gar keine Möglichkeit, die Exponate sachgerecht und für das Publikum zugänglich auszustellen. Die „Elgin Marbles“ sind damit in jeder Beziehung beispielhaft für den Kunstraub europäischer Großmächte im 19. Jahrhundert und den Kampf um die Rückgabe solcher unschätzbar wertvollen antiken Artefakte.
Erste Forderungen, auch von britischen Intellektuellen noch im 19. Jahrhundert, nachdem Griechenland sich nicht zuletzt mit Unterstützung der britischen Marine seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erkämpft hatte, die Kunstwerke nun zurückzugeben, verhallten weitgehend ungehört. Das blutige 20. Jahrhundert mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg bot zunächst auch wenig Raum und Gelegenheit, sich um antike Kunstwerke viele Gedanken zu machen, auch wenn griechische Regierungen in London immer wieder die Rückgabe der „Elgin Marbles“ anmahnten.
Richtig Fahrt nimmt die Debatte um die Rückgabe erst auf, als die Schauspielerin Melina Mercouri im Jahr 1980 Kulturministerin in Griechenland wird und vehement auf eine Restitution drängt. Nicht nur in Athen, auch in London und anderen europäischen Städten werden Rückgabekomitees gegründet.
Perikles in der britischen Hauptstadt?
Kaum eine andere Rückgabeforderung ist ideengeschichtlich so gut begründet wie die Rückgabe des Frieses, der zur Frühgeschichte der Athener Demokratie gehört. Niemand anderes als Perikles, der große Führer der Demokraten in Athen, hat den Bau des Parthenon initiiert, zur Erinnerung an den Sieg der Athener Bürger über Persien. Der künstlerische Leiter des Projekts, der Bildhauer Phidias, war von den Athener Bürgern berufen worden.
Der Fries selbst ist Ausdruck des neu gewonnenen Selbstbewusstseins der Athener Bürger. Es ist selbstverständlich, dass diese Kunstwerke an den Ort ihrer Entstehung und jahrhundertelangen Wirkung gehören und nicht in die Säle eines weit entfernten Museums in einem anderen Land. Gerade für ein demokratisches Land wie Großbritannien sollte das selbstverständlich sein.
Doch die „Elgin Marbles“ gehören gerade wegen ihrer historischen Relevanz und ihrer Schönheit zu den wertvollsten Exponaten, die das Britische Museum in seinen Ausstellungsräumen hat. In den 1930er Jahren wurde ein neuer Saal erbaut, in dem die Friesplatten gezeigt werden. Die Rückgabe wäre deshalb ein herber Verlust, auch wenn man dafür leihweise andere Objekte aus Athen bekäme.
Die großen europäischen Museen wie das Britische Museum, der Louvre in Paris, das Kunsthistorische Museum in Wien und das Pergamonmuseum in Berlin sind Schatzkammern, deren Besitz nach wie vor für das Prestige der Länder wichtig ist und außerdem hohe Besucherzahlen garantiert und damit zum touristischen Konzept der Städte zählt. Doch die sture Zurückweisung einer Rückerstattung von unter zweifelhaften Umständen erworbenen oder sogar gestohlenen Antiken wird zunehmend zu einem Imageproblem.
Der schwankende Boris Johnson
Deshalb haben auch britische Politiker in den letzten Jahren immer wieder geschwankt, wie sie es mit der Frage der Rückgabe der „Elgin Marbles“ halten sollen. Ein gutes Beispiel dafür ist Boris Johnson. Als er noch Journalist war, engagierte er sich mit der für ihn typischen Leidenschaft für eine Rückgabe. Kaum zum Bürgermeister von London gewählt, wollte er davon nichts mehr wissen. Als George Clooney 2014 seinen Film „Monuments Men – Ungewöhnliche Helden“ über die Rettung von Kulturgütern durch eine US-Spezialeinheit im Zweiten Weltkrieg in London vorstellte und dabei für eine Rückgabe der „Elgin Marbles“ an Athen warb, ging Johnson den Schauspieler massiv an. Clooney verfolge wohl eine „Agenda der Beutekunst wie einst Hitler“, warf er demjenigen vor, dessen Frau Amal Clooney sich in einem internationalen Juristenteam mit den Chancen einer juristischen Rückgabeforderung beschäftigte.
Als Boris Johnson dann Premier geworden war und sein in Griechenland regierender konservativer Kollege Kyriakis Mitsotakis wegen der Rückgabe des Frieses vorstellig wurde, tat der britische Regierungschef so, als habe er damit überhaupt nichts zu tun. Da müsse sich der geschätzte Kollege doch bitte an das Museum wenden, ließ er ausrichten.
Doch so langsam dreht sich der Wind. Spätestens seit der französische Präsident Emmanuel Macron sich im November 2017 in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, für die Verbrechen des Kolonialismus entschuldigt und eine Rückgabe der geraubten afrikanischen Kunst angekündigt hat, ist die Debatte um die Restitution fragwürdiger Exponate in europäischen Museen nicht mehr zu stoppen. Noch geht es überwiegend um Kunstraub im kolonialen Zusammenhang, wie die Benin-Bronzen, von denen Deutschland jüngst einen Teil an Nigeria zurückgegeben hat. Doch auch andere antike Kunstwerke, wie eben die „Elgin Marbles“ in London oder der Pergamonaltar in Berlin, geraten zunehmend in den Fokus.
Im letzten Jahr haben die Vatikanischen Museen und das Archäologische Museum von Palermo kleine Stücke vom Parthenon, die in ihrem Besitz waren, an Athen zurückgegeben. Damit erhöht sich der Druck auf London, selbst aktiv zu werden. Wie die Zusammenarbeit mit Athen am Ende aussehen wird, ist noch nicht bekannt, aber alle Meldungen deuten darauf hin, dass eine Einigung unmittelbar bevorsteht.
Was wird aus anderen antiken Fundstücken?
Eine solche Einigung wird großen Einfluss auf die Debatte um die Restitution antiker Artefakte auch in anderen Museen in Europa haben. Bei den Benin-Bronzen hat Deutschland anerkannt, dass sie rechtmäßiger Besitz des heutigen Staates Nigeria sind. Im Gegenzug hat Nigeria zugestimmt, dass ein Teil der Bronzen als Dauerleihgabe in Deutschland verbleiben kann, insbesondere im neuen Haus der Kulturen in Berlin. Ähnlich könnte es mit dem Londoner Anteil am Parthenonfries laufen.
In der Debatte wird auch immer wieder über wechselnde Ausstellungen an den jeweils beteiligten Orten gesprochen. So hat beispielsweise die Türkei am Rande der Grabungsstätte von Troja ähnlich wie Griechenland in Athen ein hochmodernes Museum erbaut – in Sichtweite des Tatorts Troja. Der vormalige deutsche Ausgräber in Troja, der 2005 verstorbene Manfred Korfmann, der als letzter Deutscher an Heinrich Schliemanns Entdeckungen im 19. Jahrhundert anknüpfte, hat nach eigenen Aussagen immer davon geträumt, dass alle Exponate, die dort seit Schliemann ausgegraben wurden, wenigstens zeitweise einmal vor Ort gezeigt werden können. In dem neuen Museum wäre genau das nun möglich.
Doch in Deutschland haben die Verantwortlichen bislang wenig Bereitschaft zu Leihgaben gezeigt. Aus Moskau, wohin der berühmte Goldschatz des Priamos am Ende des Zweiten Weltkriegs gelangte und heute ausgestellt wird, kam erst recht nichts.
Eine wie auch immer geartete Rückgabe der „Elgin Marbles“ wird wohl auch die Debatte um die „schönste Berlinerin“, die ägyptische Königin Nofretete, wieder beflügeln. Auch hier hat Kairo mit dem Bau eines neuen, hochmodernen Museums direkt an den Pyramiden von Gizeh vorgelegt. Ägypten will die Büste der Nofretete schon lange zurückerhalten. Berlin wird sich genauso wenig wie London auf Dauer einfach stur stellen können.
Während ein regelmäßiger Wechsel des Ausstellungsortes bei einer Büste wie der von Nofretete oder den eher kleinteiligen Exponaten aus Troja leicht realisierbar wäre, ist die Frage, wo denn der Pergamonaltar stehen soll, nicht so leicht zu lösen. Das monumentale Architekturstück Zeus-Altar ist schwer zu bewegen. Er steht entweder im Berliner Pergamonmuseum, das ja gerade erst für viel Geld aufwendig restauriert und für das 21. Jahrhundert fit gemacht wird, oder auf dem Burgberg in Pergamon.
In der türkischen Öffentlichkeit hat der Zeus-Altar mittlerweile denselben Stellenwert als Paradebeispiel geraubter antiker Kunst wie die „Elgin Marbels“ in Griechenland. Politiker aus der Region, so auch der Oberbürgermeister der Metropole Izmir, Tunç Soyer, haben sich der zivilgesellschaftlichen Kampagne für eine Rückgabe angeschlossen. Sollten die Griechen ihre wichtigsten antiken Artefakte demnächst zurückerhalten, wird das die Debatte in der Türkei noch einmal neu anfachen.
Die Verantwortlichen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz sollten sich darauf einstellen, dass der lapidare Hinweis, beim Erwerb des Zeus-Altars im Jahre 1878 sei alles einwandfrei gelaufen, bald nicht mehr ausreichen könnte. Ganz abgesehen davon, dass eben nicht alles „einwandfrei gelaufen ist“ und die deutsche Seite damals mit Bestechung und massivem politischen Druck nachgeholfen hat, dürfte es einer grünen Kulturstaatsministerin wie Claudia Roth auf Dauer schwerfallen, einfach auf der Politik des 19. Jahrhunderts zu beharren.
Auch deutsche Ausgräber haben mehrfach erklärt, dass der Altar an seinem ursprünglichen Platz unter der Sonne der Ägäis eine ganz andere Wirkung entfalten würde als in einem dunklen Berliner Museum. Da man die Originale heute aber nicht mehr einfach im Freien aufstellen würde, könnten die Berliner Museen zumindest eine gute Kopie in Originalgröße auf dem Burgberg in Pergamon aufbauen – als eine Geste des guten Willens.
Jürgen Gottschlich, Dilek Zaptçıoğlu: „Die Schatzjäger des Kaisers. Deutsche Archäologen auf Beutezug im Orient“. Ch. Links Verlag, Berlin 2021
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