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Rammstein, Punk und MännlichkeitswahnNie wieder 1984

Julian Weber
Kommentar von Julian Weber

Rammstein scheint gedanklich seit 40 Jahren festzustecken. Die Schlagzeilen um Till Lindemann sollten niemanden überraschen. Am wenigsten ihn selbst.

Till Lindemann, als seine Welt noch in Ordnung war. Prag im Juni 2001 Foto: Michal Kamaryt

E in Gimmick der aktuellen Bühnenshow von Rammstein ist die angestrahlte Mundhöhle von Sänger Till Lindemann. Früher hat er sich dafür über ein Loch in der Wange verkabelt, nun kommt das Licht von außen. Leuchten der Menschheit stellt sich deshalb aber nicht ein.

Sollten sich die schwerwiegenden Vorwürfe weiblicher Fans erhärten, die öffentlich gemacht haben, bei Aftershow-Partys der Berliner Band von Roadies zunächst unter Drogen gesetzt und dann zum nichtkonsensualen Sex mit dem Rammstein-Shouter benutzt worden zu sein, dann wäre eine Grenze zum sexuellen Missbrauch und damit zum Strafbaren überschritten. Ist es das Ende des Dumpfbacken-Spektakels?

Die Band hat sich in den rund 30 Jahren ihres Bestehens einen Spaß daraus gemacht, Grenzen auszutesten, und dafür die düsteren Seiten der Existenz nach Verwertbarem abgeklappert. Was als beißende Selbstironie im Nachwende-Berlin begann, mit sechs Losern, denen die Freundinnen weggelaufen waren, wurde zur weltweiten Erfolgsgeschichte mit Konzerttourneen in ausverkauften Stadien, die den Künstlern anscheinend über den Kopf gewachsen ist.

Zwischen Baumarkt, Gangbang und Reichsparteitagsästhetik fand sich im teutonischen Rumgehample noch stets ein Tabubruch, den Lindemann in lieblosen Abzählreimen darstellen konnte. Im Song „Ich tu Dir weh“ aus dem Album „Liebe ist für alle da“ (2010), der wieder in der Setlist steht, heißt es etwa: „Du blutest für mein Seelenheil/Ein kleiner Schnitt und Du wirst geil/Der Körper schon entstellt/Egal, erlaubt ist, was gefällt“.

Im Refrain bekundet Lindemann, dass es ihm keineswegs leid tue, wenn er jemandem Schmerzen bereitet. Aus der Ferne winkt Punk als Kläranlage von Machismo. Frech haben Rammstein die Vorzeichen umgedreht und kreuzen toxische Maskulinität mit Punkdrastik. Till Lindemann trägt gerade einen Irokesen-Haarschnitt, als sei wieder 1984. Punk war die Absage an Machotum, Frauen konnten sich dabei ebenso von Rollenbildern lösen. Anders als in der Exploitationshölle von Rammstein.

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Julian Weber
Kulturredakteur
Julian Weber, geboren 1967 in Schweinfurt/Bayern, hat Amerikanische Kulturgeschichte, Amerikanische Literaturwissenschaft und Soziologie in München studiert und arbeitet nach Stationen in Zürich und Hamburg seit 2009 als Musikredakteur im Kulturressort der taz
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12 Kommentare

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  • "Rammstein-Shouter"



    Nee. Gesang. Meistens clean.

  • vorbei die zeiten ...

    alice cooper und seine billion dollar babies.



    war irgendwie anders.

  • 9G
    90118 (Profil gelöscht)

    Mir gefällt die Musik auch nicht.

    Sind außer Anschuldigungen wirkliche Straftaten erkennbar?

    Falls nicht: Worum geht es hier? Kunstkritik?

    • @90118 (Profil gelöscht):

      Es gibt hier verschiedene Aspekte:



      Es ist offen ob strafbare Handlungen stattgefunden haben, die Zahl der Verdachtsmomente nimmt stetig zu. Auch ohne strafbare Handlungen (oder die Möglichkeit diese Nachzuweisen) geht es hier um einige entscheidende gesellschaftliche Frage.



      "Reicht alleine ein klares Machtgefälle (vor allem in einer patriachalen Gesellschaft) alleine aus um den Mächtigen in eine besondere Verantwortung zu nehmen? Egal welche Beziehung er mit einer weniger mächtigen Person eingeht." Und das hier ein solches Gefälle Vorliegt, ist wohl wenig überraschend? Sechzigjähriger, international erfolgreicher Multimillionär vs. junge Frauen. Eine Gesellschaft die jungen Menschen im Alter von 14 an Wahlen teilzunehmen, ihnen aber mit 16 den Zugang zu alkohol gewährt und 20 jährigen in einer solchen Situtationen, in einem solchen System, etwas wie Schuld zuweist.... Hier geht es wohl um deutlich mehr als Kunstkritik

      • 9G
        90118 (Profil gelöscht)
        @Felix_:

        Dem würde ich mich anschliessen.

        In den Berichten zum Thema ist immer von "Vorwürfen" und nunmehr von "schweren vorwürfen" die Rede.

        Danach geht es random um Herkunft, Ästhetik oder eine Person - jeweils falsch, anrüchig und eben auch sensationstauglich für den unterstellten Endverbraucherverstand.

        Den Autoren dieser "Berichte" geht es nicht um die Betroffenen oder das dahinterliegende, systematische Denken und Handeln.

        Die dicke Hose der Rolling Stones könnte genau so funktioniert haben.

  • Habe nie verstanden, warum dieses primitive und stupide Gegrunze in faschistoider Ästhetik/Optik überhaupt jemals so erfolgreich werden konnte, aber das gilt nicht nur für Rammstein.

    • @Leon Noel:

      "Habe nie verstanden, warum dieses primitive und stupide Gegrunze in faschistoider Ästhetik/Optik überhaupt jemals so erfolgreich werden konnte..."



      Weil es Menschen mit unterschiedlichen Geschmäckern gibt. Das sollten Sie in Ihrem Leben auch schon einmal mitbekommen haben. Und stupides Gegrunze höre ich bei Rammstein eher nicht. Lindemann ist teilweise schon ein interessanter Verbal-Akrobatiker und hat durchaus eigenständige Texte geschrieben, manche grenzwertig und provozierend, manche nicht. Und die Musik ist eben sowas wie Industrial-Metal. Kann man mögen oder eben nicht. Rammstein hat für mich einen ziemlich eigenständigen und unverwechselbaren Stil, und das will in der Musikbranche heutzutage durchaus was heissen. Wie gesagt, Sie müssen es sich ja nicht anhören.

  • Ich bin immer etwas misstrauisch, wenn die angeblichen Missetäter ein bestimmes Alter überschritten haben. Vieelleicht werde da eines Besseren belehrt.

    • @Michael Chlodwig:

      Misstrauisch gegenüber den Missetätern oder gegenüber den Vorwürfen?

  • Rammsteins Textzeilen sind natürlich eine Steilvorlage in jegliche Richtung für Jeden und jede randständige Thematik die man gerne interpretieren oder missinterpretieren will. Selbst schuld, wenn man so mit den Grenzen spielt? Ja sicher und unbedingt! Antizipierte Handlungen in den vorgelegten Songs. Beliebig von Zero to hero und zurück. Ohne diese aktuelle vermutlich zutreffende Grenzüberschreitung hätte man wohlwollend auch davon schreiben können wie Rammstein Extreme unserer Zeit pointiert auf den Punkt bringt, wie den Kannibalen von Rottenburg 'Mein Teil' oder auch derzeit in jeglicher Tagespresse zu lesende Ansätze von SM und Bondage, nur eben 20 Jahre vor der 'die Zeit', Spiegel, TAZ und Co.



    Wie auch immer, die Hochzeit von Rammstein liegt sowieso 20 Jahre zurück, danach herrscht, wie bei allzu vielen Arrivierten eher eine träge Selbstüberschätzung , die dann zu vermeintlicher Unangreifbarkeit führen kann. Von Kohl bis Löw, von Musk bis Putin. Die Rechnung folgt jedoch immer, auch hier. Man bleibt gespannter Beobachter.

    • @Tom Farmer:

      Wie schrieb Tom Tonk dereinst? "Kein Mensch will aggressive, böse Menschen sehen, wie sie ihre Lieder spielen." Allerdings war da wohl eher der Wunsch des Gedankens Vater, wogegen im Grunde ja auch gar nichts zu sagen wäre. Problematisch wird es eben, wenn die Trennung zwischen Bühnenfigur und realer Person nicht (mehr) hinhaut.. da entsteht dann halt oft der Irrglaube an die eigene Omnipotenz. Und das ist keinesfalls apologetisch gemeint, sondern als Verdeutlichung der simplen Tatsache, dass auch die größten Stars keine gülden defäkierenden höheren Wesen sind.

      • @Rein subjektiv betrachtet:

        sehr schön beschrieben .... ich befürchte auch, dass da jemandem sein Ego durchgebrannt ist ...