Proteste gegen die AfD: Da geht noch mehr
Zehntausende gehen gegen den Faschismus auf die Straße. Um dessen Wurzeln zu beseitigen, sollte die Bewegung auch für Umverteilung streiten.
I n der vergangenen Woche ist das demokratische Deutschland aus seiner Schockstarre erwacht. Regungsunfähig hatte die Zivilgesellschaft den Vormarsch der Faschisten zuletzt nur noch passiv zur Kenntnis genommen. Doch die „Correctiv“-Recherche hat die unverhohlene Brutalität offengelegt, wie die Deportation von Millionen Menschen auf einem Geheimtreffen geplant wurde, an dem finanzkräftige Unternehmer, Rechtskonservative der Werte-Union der CDU, prominente AfD-Mitglieder und Führungskader der neonazistischen Szene teilnahmen. Das endlich hat das Fass zum Überlaufen gebraucht.
In Berlin haben in nur einer Woche drei Großkundgebungen mit vielen tausend Teilnehmer:innen stattgefunden. Bundesweit zieht der Kampf gegen den Aufstieg des Faschismus plötzlich wieder Zehntausende auf die Straße. Das Momentum ist gekippt, Antifaschismus ist wieder „in“. Die Hoffnung ist geweckt, dass hier tatsächlich eine Demokratiebewegung entstehen könnte, die die offene Gesellschaft und die demokratischen und rechtsstaatlichen Ideale gegen ihre Feinde zu verteidigen vermag.
Dafür wird es in den kommenden Wochen von entscheidender Bedeutung sein, das gegenwärtige Moment der Entrüstung in eine längerfristig handlungsfähige und schlagkräftige Bewegung zu kanalisieren. Es mag kein guter Stil sein, journalistisch vom Seitenrand belehrende Texte zu schreiben. Doch seien in diesen jungen Stunden der Bewegung einige solidarisch-kritische Punkte angeführt, in der Hoffnung, dass in ein paar Monaten nicht wieder die Antifas allein auf Anti-Nazi-Demos herumstehen.
Protest muss dahin, wo er wehtut
Protestpsychologisch scheint zum Beispiel nicht ideal, dass alle drei Berliner Proteste nicht als Demonstrationen, sondern als Kundgebungen stattfanden – trotz Minusgraden und Schneefall. Denn auf Kundgebungen friert man sich die Füße ab und lauscht passiv Redebeiträgen. Demos sind dagegen eine kollektive Erfahrung: Man läuft zusammen, ruft Sprechchöre, verleiht der Wut gemeinsam Ausdruck. So kanalisiert sich jenes magische Gefühl, dass jede:n Einzelne:n spüren lässt: Hier und jetzt kann Geschichte geschrieben werden, es macht Sinn, an diesem Ort zu sein, gemeinsam mit den Menschen um mich herum.
Ebenfalls bezeichnend ist der Ort der Proteste. Zu allen drei Kundgebungen wurde zu repräsentativen Plätzen mit hohem Symbolgehalt für die Berliner Republik oder das Land Berlin gerufen: dem Kanzleramt, dem Brandenburger Tor, dem Roten Rathaus. Die Wahl dieser Orte zeigt bereits, nach welcher politischen Logik die Proteste organisiert wurden: Es ist die des moralischen Appells, gewissermaßen die einer Petition an die Herrschenden. Stattdessen sollte die Bewegung dahin, wo es weh tut: vor die Parteibüros von CDU und AfD, die sich in ihrer Hetzerei viel zu sicher fühlen – weil sie nicht damit rechnen müssen, auf den entschlossenen Widerstand der Menschen zu treffen.
Nicht zufällig erinnert die bisherige Politstrategie an Fridays for Future, eine der federführenden Organisationen hinter dem Großprotest am vergangenen Sonntag auf dem Pariser Platz. Klimaaktivistin Luisa Neubauer brachte diese Logik mit einem Satz auf den Punkt: „Wir liefern hier die Bilder, vor denen Faschisten Angst haben.“ Es geht um die Produktion eindrucksvoller Szenen für die Abendnachrichten, die Aufmerksamkeit generieren und Politiker:innen von der Sache überzeugen sollen.
Demoverbot für Olaf Scholz
Nur zeigt aber gerade das Scheitern der Klimabewegung, dass die Generierung von Aufmerksamkeit nicht ausreicht, weil es für Veränderung auch den Aufbau von Druck, von Gegenmacht, benötigt. Grundvoraussetzung dafür ist, dass sich kein Olaf Scholz und auch kein:e andere:r Politiker:in der Ampelregierung in die Proteste einreihen darf. Denn so wichtig es nun ist, ein möglichst konsensfähiges Ziel zu formulieren: Die Bewegung kann nur scheitern, wenn sie zu einer stumpfen Verteidigung der Regierung gegen ihre Kritiker:innen degradiert wird.
Denn was beinhaltet das Ziel, die Verteidigung der offenen Gesellschaft? Natürlich einerseits, dass man den Faschismus bitte nicht bekämpft, indem man die Ziele der Faschos umsetzt. Genau diese Politik verfolgen aber inzwischen auch SPD und Grüne, die mitmachen in dem würdelosen Wettstreit, wer die Entrechtung migrantisierter Menschen schneller vorantreibt. Um es klar zu sagen: Wer „im großen Stil“ (Olaf Scholz) und insgesamt schneller (Ricarda Lang) abschieben will, dem muss ein deftiges antifaschistisches Demoverbot ausgesprochen werden.
Aber auch darüber hinaus kann die Verteidigung von offener Gesellschaft und Demokratie nicht bedeuten, die bestehenden Verhältnisse zu bejahen. Theodor W. Adorno hat faschistische Bewegungen einmal als „Wundmale der Demokratie“ bezeichnet, also als Folge davon, dass in der Klassengesellschaft das Versprechen von demokratischer Freiheit und Gleichheit unerfüllt bleibt. Eigentlich ist es eine banale Erkenntnis: Antifaschismus darf kein moralischer Appell bleiben, sondern muss dem Faschismus seine Bedingungen entziehen.
Hunderttausende für Demokratie und Umverteilung
Schon 2004 sprach der Soziologe Colin Crouch von postdemokratischen Verhältnissen. Es folgte die autoritäre Bewältigung der Finanz- und Eurokrise, die deutlich machte, dass die Interessen der Banken und Konzerne die des demokratischen Staatsvolkes im Zweifel übertrumpfen. Erst vor wenigen Tagen hat Oxfam einen neuen Bericht vorgelegt, aus dem hervorgeht, dass sich das Vermögen der reichsten fünf Menschen seit 2020 verdoppelt hat, während 60 Prozent Weltbevölkerung ärmer geworden sind.
Soll die Demokratie verteidigt werden, muss das deshalb bedeuten, sie überhaupt erst wieder richtig herzustellen. Bisher dreht sich die Strategie der neuen Demokratiebewegung aber primär um ein mögliches Parteiverbot der AfD. Und ja: Um die immanente Gefahr einer faschistischen Machtergreifung zu stoppen, kann dieses Mittel eine entscheidende Rolle spielen. Doch um die Millionen von AfD-Wähler:innen in die demokratische Gesellschaft zurückzuholen, muss es darum gehen, konkrete materielle Verbesserungen für die breite Masse der normalen Leute zu erstreiten.
Wäre das nicht ein gutes Etappenziel für die Demokratiebewegung: Dass vielleicht im Sommer in Berlin Hunderttausende zusammenkommen, um für echte Demokratie und Umverteilung auf die Straße zu gehen.
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