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Protest gegen die RentenreformEs riecht nach Dilettantismus

Rudolf Balmer
Kommentar von Rudolf Balmer

Frankreichs Rentenreform verwirrt viele. Die Regierung ignoriert den Protest und riskiert, dass der Zorn eskaliert.

In roten Overalls protestieren Franzosen weiter gegen Macron und seine geplante Rentenreform Foto: Francois Lenoir/reuters

B egonnen hatte diese Reform der Renten in Frankreich mit an sich legitimen Absichten. Das System sollte einfacher, verständlicher und sozial gerechter werden und allen auf Dauer ein minimales Auskommen im Alter garantieren. Wer konnte dagegen sein? Vor einem Jahr noch war darum eine große Mehrheit für eine solche Reform zur Harmonisierung.

Heute hat die Regierung eine Mehrheit gegen sich, Streiks und Blockaden seit Wochen und alle paar Tage Zehntausende von Demonstranten auf der Straße und zusätzliche Berufskategorien, die sich der Mobilisierung anschließen. Nicht erst heute steht fest, dass Emmanuel Macron und seine Regierung diese Reform vermasselt haben.

Damit nicht genug sind nach der Verabschiedung der Gesetzesvorlage im Ministerrat und vor der Parlamentsdebatte die Regierungsmitglieder nicht in der Lage zu erklären, was wirklich vorgesehen ist, und wie sich die von ihr geplanten Umstellungen für die Bürgerinnen und Bürger je nach Situation auswirken werden. Es herrscht große Verwirrung. Bei einer Frage wie der Existenz im Alter, die alle bewegt, ist das verantwortungslos.

Besonders schlimm aber ist, dass die Staatsmacht mit der mangelnden Klarheit die den Verdacht weckt, dass diese „Reformer“ letztlich nicht wissen, was sie tun. Inkompetenz, Dilettantismus oder vorsätzliche Vertuschung? Niemand kann es mit Sicherheit sagen. Der Staatschef scheint indes ebenso sehr wie sein Premierminister entschlossen zu sein, den ungebrochenen Widerstand einfach zu ignorieren – um jeden Preis.

Vielen geht es nicht mehr „nur“ um die Rentenreform

Wer den Streik und die friedliche Kundgebung als Mittel der demokratischen Auseinandersetzung diskreditiert, muss sich nicht wundern, wenn der frustrierte Widerstand zu radikaleren und gewaltsamen Methoden greift. Eine Kraftprobe kann in Frankreich, wie man aus der Geschichte weiß, leicht eskalieren. Der französische Premierminister Edouard Philippe scheint indes zu glauben, dass er mit seiner Kompromisslosigkeit wie einst Margaret Thatcher die Macht der Gewerkschaften brechen könne.

Die Frage stellt sich angesichts der an Arroganz grenzenden Haltung der Staatsmacht und der polizeilichen Repression anlässlich von Demonstrationen, ob es gar die eigentliche Zielsetzung dieser „Reform“ sein könnte, auf längere Zeit die Verteidigung der sozialen Errungenschaften und Rechte zu lähmen. Vorerst liegt der Fehdehandschuh noch auf der Straße. Macrons Gegner fühlen sich bestärkt, vielen von ihnen geht es nicht mehr „nur“ um die Rentenreform.

Anmerkung der Redaktion: Avanti dilettanti – den Rechtschreibfehler in der Überschrift der ersten Version des Artikels bitten wir zu entschuldigen. Wir haben ihn nun korrigiert.

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Rudolf Balmer
Auslandskorrespondent Frankreich
Frankreich-Korrespondent der taz seit 2009, schreibt aus Paris über Politik, Wirtschaft, Umweltfragen und Gesellschaft. Gelegentlich auch für „Die Presse“ (Wien) und die „Neue Zürcher Zeitung“.
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14 Kommentare

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  • Eine Reform des französischen Sozialstaats ist dringend Notwendig und schon lange überfällig. Bei den Parteifunktionären aller Couleur und insbesondere bei der CGT, ebenso bei den Gelbwesten ist vorbeigegangen, dass Frankreich nicht mehr in der Lage ist, das jetzige Rentensystem zu finanzieren. Schauen Sie sich nur mal das Renteneintrittsalter an, Frauen gehen mit 62, Männer mit 63 in Rente und MitarbeiterInnen bei der SNCF können mit 52 bzw. mit 57 in Rente gehen. Ein Blick auf das Renten- und Renteneintrittsalter in Europa macht deutlich, warum diese Reform notwendig ist.



    Spitzenreiter sind Portugal und Irland mit jeweils 66 Jahren. Dahinter folgen die Niederlande (65,2 Jahre) und Polen (65,25 Jahre bei Männern, 60,25 Jahre bei Frauen) – eigentlich noch überflügelt von Deutschland, doch zum Zeitpunkt der Erhebung lag die Regelaltersgrenze noch bei 65 Jahren. Weitere Länder, in denen der Ruhestand mit 65 Jahren beginnt, sind Dänemark, Finnland, Schweden, Spanien sowie Großbritannien (62,5 Jahre bei Frauen) und Österreich (60 Jahre bei Frauen). Danach folgen Estland (63 Jahre bei Männern, 62 Jahre bei Frauen), Tschechien (62,67 Jahre bei Männern, 61,33 Jahre bei Frauen), Italien (62,5 Jahre bei Männern, 62 Jahre bei Frauen), Ungarn (62,5 Jahre), Slowakei (62 Jahre), Griechenland (62 Jahre) und FRANKREICH (61,2 Jahre).



    www.welt.de/wirtsc...der-01c4eedaca.png

    • @D-h. Beckmann:

      Völlig richtig. Ich fürchte eher fangen die Franzosen aber einen Krieg an und nehmen sich wieder Kolonien bevor sie ihren Lebensstil aufgegeben. Bei aller Liebe zu Frankreich, aber da hört es echt auf.

  • In Deutschland leben mit dem Punktesystem der Rentenberechnung rund 20% der Renter*innen unter der Armutsgrenze, die Lebenserwartung der Armen liegt weit unter der der Reichen. Das soll ein gerechteres System sein? Es ist das System des neoliberalen europäischen Projekts, das gesellschaftlichen Reichtum permanent von unten nach oben umleitet. Das Punktesystem ist sehr leicht kontinuierlich immer weiter manipulierbar Richtung niedrigerer Renten und längerer Arbeitszeit, zudem werden die Renten durch das Punktesystem komplett individualisiert, das beste Mittel gegen die Solidarisierung der ärmeren Bevölkerungsschichten.



    Und: Die Folge von Rentenkürzungen ist die Privatisierung der Altersversorgung, ein neuer Schub unter anderem für Immobilienfonds, eine neue Runde der Ausbeutung wird eingeleitet.



    Ja, der Zorn muss eskalieren und es muss endliche eine mindestens europaweite Solidarisierung geben! Für eine humane, demokratische und gerechte Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums!

  • Auch wenn die Überschrift falsch geschrieben ist, hat Rudolf Balmero in der Sache Recht: Es geht mittlerweile un das System Macron an und für sich. Macron, der - je nach Lesart - als Messias oder Napoléon IV gestartet ist, wurde binnen kürzester Zeit als Pappkamerad der eiskalten neoliberalen Pariser Eliten enttarnt. Mit so einer Regierung ist ein Jahrhundertwerk wie eine Rentenreform politisch nicht mehr umsetzbar, egal wie angefeimt und multimedial vernetzt noch taktiert wird. Frankreich steuert auf ein echte Staatskrise zu.

  • Ich teile die Meinung nicht. Der öffentliche Sektor wurde überproportional bevorzugt gegenüber den privaten. Das ist gut an den Renten von Lehrern an staatlichen und privaten Schulen zu sehen. Hier soll Ausgleich geschaffen werden. Zudem rechnet man damit dass in Summe mehr Geld ausgeschüttet werden wird. Die Reform ist also nicht ein Sparprogramm. Allerdings handelt es sich bei einem Teil der Protestierenden teilweise um faule Überpriviligierte Angestellte des ÖD, die meinen das Recht zu haben, für gleiche Arbeit mehr zu bekommen. Und Leute die der Meinung sind, bei steigender Lebenserwartung sei Rente mit 62 (da reden wir nicht von hart arbeitenden Handwerkern) nach wie vor volkswirtschaftlich tragbar. Ich stehe immer für mehr Lohn und Gehalt, aber auch für soziale Fairness und die gibt es in Frankreich nicht.

  • Es mag ja sein, dass Macron und seine Regierung nicht wirklich klug vorgehen, nur was soll mir das jetzt sagen? Ist das Vorhaben nicht trotzdem nachvollziehbar? Zumal es ja zumindest teilweise auch darum geht bestimmte, eindeutig ungerechte, Privilegien für einzelne Gruppen abzubauen. Ist die Straße gerechter und ist es erstrebenswert, wenn die Straße regiert? Die Gelbwesten mit ihrem egoistischen und im Kern unpolitischen Protest waren schon ein sehr diffuser und gleichzeitig militanter, dazu eher rechter als linker Ausdruck von Unzufriedenheit und man sollte sich wirklich dringend fragen, wie die Entwicklung weitergeht, wenn man solchen Bewegungen nachgibt.

  • Dille, dille! Den Dilettantismus schreibt man mit 1 l und 2 t! :-)

  • Als Demokrat würde ich ja mal das Volk befragen und abstimmen lassen, was es so will.

  • Bei der Reform von großen Systemen, in neuerer Zeit, geht es immer um zentrale Macht, um Kontrolle und um viel Geld, gebündelt an einer einzigen Stelle. Solche "Reformen" tragen immer ein Etikett wie einfacher, verständlicher und gerechter, doch entwickeln sich solche "reformierten" Systeme nicht so wie im Polit-Marketing versprochen.

    Was ist am Alten falsch? Der Politik fehlt der zentrale Zugriff!

    • @Alfredo:

      Am Alten System ist falsch, dass den"einfachen Leuten" ein zu gutes Leben versprochen wurde, was aber leider, wie immer in der Geschichte, durch die Konzentration des Vermögens auf sehr wenige Mächtige, dieses Versprechen nicht gehalten werden kann. Da aber niemand es wagt, gegen diese wenigen "Mächtigen" etwas zu tun, wiederholt sich die Geschichte, dass wieder die "einfachen Arbeiter" leiden müssen.

  • "Der französische Premierminister Edouard Philippe scheint indes zu glauben, dass er mit seiner Kompromisslosigkeit wie einst Margaret Thatcher die Macht der Gewerkschaften brechen könne."

    In GB hatten die Gewerkschaften die öffentlich Meinung gegen sich. Die Franzosen sind schlauer.

  • "Das System sollte einfacher, verständlicher und sozial gerechter werden und allen auf Dauer ein minimales Auskommen im Alter garantieren."

    Das ist ja zum Schreien. Was war denn am Alten falsch?

  • Wer hat Korrektur gelesen? Der Schülerpraktikant?



    Dilletantismus mag man vielleicht vermuten hat etwas mit Dill zu tun. Doch das ist leider nicht der Fall. Wer jedoch diesen Begriff als Schlagzeile durchgehen lässt, der ist ein Dilettant.

  • Wieso Dilletantismus?

    Die Rentenkürzung - lasst doch bitte endoich dieses schreckliche Narrativ der "Reform" hinter Euch - wird durchgedrückt. Es geht um Umverteikung zugunsten der französichen Oligarchie. Irgendiwe muss das Geld für die Vermögenssteuersenkung ja wieder reinkommen und müsen die obersten 2% ja mehr Geld machen.

    Und was soll es schon. LePen ist im 2. Wahlgang das große Schreckgespenst (die Schlagzeilen sind dich klar) und alle scharen sich hinter dem tollen Macron.



    Purer pragmatischer Machiavellismus im Gewand der ach so liberalen Demokratie.

    Da werden Demonstranten verletzt und blind geschossen, das Gesetz kommt durch.



    Was wäre im Blätterwald los, wenn das in Moskau passierte?

    Eigentlich schon wieder langweilig, so etwas zu kommentieren.