Protest gegen AfD-Parteitag: Hart im Widerstand
Das Bündnis Widersetzen mobilisiert rund 15.000 Menschen nach Riesa und schafft es, den AfD-Parteitag zu verzögern. Die Polizei reagiert mit Härte.
Nam Duy Nguyen lehnt sich am Bahnsteig in Leipzig nach vorne und hält nach dem Regionalzug Ausschau. Obwohl es erst 4.30 Uhr morgens ist, ist es voll am Gleis. Mehrere Hundert Menschen wollen an diesem Samstag nach Riesa, um gegen den Bundesparteitag der AfD zu protestieren. Das bundesweite Bündnis Widersetzen hatte dazu aufgerufen, ihn mit zivilem Ungehorsam zu verhindern. „Da kommt er“, sagt Nguyen, er klingt etwas aufgeregt. Dabei will der Linke-Politiker die Proteste eigentlich nur als sächsischer Landtagsabgeordneter beobachtend begleiten und sich nicht an Aktionen beteiligen. Die Bahn ist schnell gefüllt, an den Scheiben kondensiert Wasser.
Nguyen ist in Riesa aufgewachsen, mittlerweile lebt er aber in Leipzig. Dort holte er bei der Landtagswahl im vergangenen September eins der beiden Direktmandate, die seiner Partei den Verbleib im Landtag sicherten.
Es ist immer noch stockduster, als der Zug eine Dreiviertelstunde später in Riesa ankommt. Die Polizei wartet bereits mit Hunden auf die rund 500 Aktivist:innen, die sich auf dem Vorplatz sammeln, gelbe Warnwesten anziehen, Banner entrollen, singen und gegen die Kälte antanzen. Nguyen und sein Team organisieren noch schnell, wer in brenzligen Situationen filmt und mit welchem Handy. Ein Problem: Die roten Westen, die sie als parlamentarische Beobachter:innen tragen sollten, sind nicht da. Sie seien im Chaos der Anfahrt verloren gegangen. Stattdessen organisieren sie zwei orange Warnwesten und schreiben mit schwarzem Edding provisorisch „Parlamentarische Beobachtung“ auf den Rücken.
Die Idee hinter der parlamentarischen Beobachtung: Mitglieder von Parlamenten, der Legislative, sollen die Polizei, die Exekutive, bei ihrer Arbeit beobachten, um sich selbst ein Bild zu machen. So kann die eine die andere Staatsgewalt kontrollieren. Zwei Teammitglieder streifen sich die Westen über. Nguyen zieht keine an, er könne sich schließlich als Landtagsabgeordneter ausweisen. Da weiß er noch nicht, dass ihn wenige Stunden später ein Polizist bewusstlos schlagen wird.
Es ist eine der Geschichten von den Protesten am Samstag, die bundesweite Aufmerksamkeit erhalten. Die Mobilisierung für die Proteste und Blockaden gegen den Parteitag der AfD war enorm: Bundesweit hat das Bündnis Widersetzen über 200 Busse aus über 70 Städten organisiert. Schätzungen zufolge demonstrieren etwa 15.000 Menschen. Trotz der Kälte und obwohl die sächsische Kleinstadt für viele schwer zu erreichen war, haben sie es geschafft, mit ihren Straßenblockaden den AfD-Bundesparteitag um zwei Stunden zu verzögern. Für das Bündnis ein Erfolg. So lange wurde noch nie ein Parteitag verzögert.
Um 2 Uhr morgens Freitagnacht steht die Gewerkschafterin Susi Rentzsch, dick eingepackt in pinkfarbener Jacke und Gummistiefeln, auf dem matschigen Vorplatz der Messehallen ICC in Berlin-Charlottenburg und wartet auf den Gewerkschaftsbus: einen von 40 Bussen, die aus Berlin nach Riesa fahren. Jede Stadt kommt in einer Farbe, um „Riesa bunt zu machen“ – die Hauptstädter in Pink.
„An einer so großen Protestaktion habe ich noch nie teilgenommen“, erzählt die 48-Jährige. „Meine Gruppe und ich sind eher ängstlich. Zu wissen, dass man nicht an Blockaden teilnehmen muss, sondern auch nur die Kundgebung besuchen kann, hat die Hemmschwelle gesenkt.“ Rentzsch ist Grundschullehrerin und in der Bildungsgewerkschaft GEW.
Die AfD, die sich als „Arbeiterpartei“ gibt, stehe für Spaltung und Ausbeutung, nicht für Arbeitnehmerrechte, sagt Rentzsch. „Außerdem will die AfD meine Schulklientel ‚remigrieren‘, und sie wollen weniger begabten Kindern keine Chance geben und wieder Förderzentren einrichten. Das führt zur Exklusion“, sagt Rentzsch. Sie liebe Neukölln für seine Diversität, mit der AfD an der Macht würde diese Buntheit verschwinden.
Susi Rentzsch, Grundschullehrerin
Im Gewerkschaftsbus treffen Rentzsch und ihre Gruppe letzte Vorbereitungen: Telefonnummern des Ermittlungsausschusses werden auf die Arme geschrieben, Warnwesten und Wärmesohlen verteilt. Gegen halb sieben marschiert das Demoaufgebot aus Berlin gegen den peitschenden Wind die Bundesstraße hinunter in Richtung Ortseingang. In der Ferne blinkt Blaulicht.
Die sächsische Polizei ist mit einem Großaufgebot vor Ort: nach eigenen Angaben mit mehreren Tausend Einsatzkräften und Unterstützung aus zehn weiteren Bundesländern und von der Bundespolizei. Der Demofinger, wie es im Protestsprech heißt, in Pink wird mit bellenden Hunden, mit Pferden und gepanzerten Fahrzeugen empfangen und sofort festgesetzt. Nach rund eineinhalb Stunden kann der „Finger“ weitergehen.
Nguyen: Angriff ist nur die sichtbare Spitze des Eisbergs
Der Landtagsabgeordnete Nguyen begleitet gegen 10.30 Uhr eine Demonstration, die vom Bahnhof in die Stadt zur Hauptkundgebung vor der WT Arena führt, dem Veranstaltungsort des Parteitags. Als sich an der Rudolf-Breitscheid-Straße eine größere Gruppe aus dem Demozug löst, geht Nguyen mit, um zu beobachten. Eine Polizeikette stoppt die Gruppe nach kurzer Zeit, so erzählt er es später der taz. Nguyen steht seitlich an einem Zaun, als weitere Polizist*innen hinter den Aktivist*innen auftauchen und durch die Menge zur Kette durchwollen, auch mit Gewalt. Laut Nguyen und weiteren Augenzeug*innen schlagen Beamte dabei offenbar willkürlich um sich – und treffen dabei auch den Abgeordneten und einen seiner Mitarbeiter. Nguyen geht bewusstlos zu Boden, sein Mitarbeiter trägt ein blaues Auge davon. Danach brechen beide die parlamentarische Beobachtung ab.
Etwas später behandelt ein Rettungswagen Nguyen in der „Wärmestube“, einem von Aktivist:innen organisierten Rückzugsort auf der Hauptstraße. Er wirkt immer noch geschockt, als er am frühen Samstagnachmittag dort mit der taz spricht. Es sei ein Skandal, sagt er. Am Sonntag schickt er eine Textnachricht: „Dieser Angriff ist aber nur die sichtbare Spitze des Eisbergs.“ In Riesa seien „unzählige“ Menschen von der Polizei verletzt worden.
Trotz des harten Eingreifens der Polizei ist Euphorie spürbar, als gegen 11 Uhr ein Großteil der Demonstrant*innen die zentrale Kundgebung vor der WT Arena erreicht, in der der Parteitag sich wegen der Blockaden verzögert. Die Sonne scheint, die Omas gegen Rechts verteilen Kaffee und Kekse, durchgefrorene Aktivist*innen wärmen sich mit Tee. Auf der Bühne der Initiative „Kein Bock auf Nazis“ werden Reden gehalten, es treten die Punkbands ZSK, Team Scheiße und der Rapper Pöbel MC auf.
Seit 10 Uhr sind die Zufahrten über die Landstraße durch Blockaden praktisch unpassierbar, die Polizei rät, wieder umzukehren. Autofahrer*innen stellen ihre Fahrzeuge ab und laufen zu Fuß bis zu zwei Stunden in die Innenstadt. Dort gleicht die Szenerie einer dynamischen Schnitzeljagd: Antifas eilen durch die Straßen, um eine Blockade nach der anderen zu stärken.
Diese werden teils brachial von der Polizei geräumt. Friedliche Demonstrant*innen werden mit Pfefferspray und Schlagstöcken attackiert. Ein Video auf X zeigt, wie ein Polizeihund auf einen Aktivisten losgelassen wird, weil dieser auf der falschen Straßenseite gelaufen war. Die Polizei ermittelt nun in diesem Fall. Mehrere Videos zeigen, wie Personenschützer*innen von AfD-Parteichefin und Kanzlerkandidatin Alice Weidel mit Pfefferspray und Schlagstöcken auf friedliche Protestierende losgehen, die Weidel den Weg blockieren. Dabei soll einem Sanitäter die Milz gequetscht worden sein. Eine Sprecherin des Elblandklinikums in Riesa bestätigte der taz, dass 15 Personen im Zusammenhang mit den Protesten medizinisch behandelt wurden, darunter auch mindestens zwei Polizist*innen.
Die Polizei spricht von sechs leicht verletzten Beamten. Der Aktionskonsens lautete deutlich: Keine Eskalation! Der taz ist kein Fall von proaktiver, körperlicher Gewalthandlungen seitens der Demonstrant*innen bekannt. Die zuständige Polizeidirektion Dresden registrierte bis zum Redaktionsschluss hingegen 34 Straftaten bei den Protesten unter anderem wegen Körperverletzung, tätlichen Angriffs auf Vollstreckungsbeamte, Nötigung und Sachbeschädigung. Der Dresdner Polizeipräsident Lutz Rodig zieht eine positive Bilanz: Immerhin habe der Parteitag stattgefunden. Tino Chrupalla, Co-Chef der AfD, schien das Vorgehen der Polizei nicht auszureichen. Er forderte im Parteitagssaal eine „AfD-Polizei, die härter durchgreift“.
Als die Sonne untergeht, ist die Stadt voll mit erschöpften und verfrorenen Aktivist*innen. Auch die Gewerkschafterin Rentzsch ist zwar am Ende ihrer Kräfte, aber froh: „Unser Ziel war, Riesa lahmzulegen – und das ist uns gelungen.“ Dass der Parteitag mit zwei Stunden Verspätung starten musste, wertet sie als großen Erfolg. Ihre Hoffnung: dass die AfD ihre Parteitage nicht mehr in Riesa veranstalten kann – und auch nirgendwo anders eine Bühne findet.
Auch Trong Do Duc bewertet die Proteste positiv. Der gebürtige Riesaer hat vor wenigen Wochen die Initiative „Riesa für alle“ mitgegründet. Aktuell sind sie noch zu dritt, aber gemeinsam wollen sie mit den Riesaer:innen gegen rechts mobilisieren. Am Samstag haben sie die „Wärmestube“ organisiert. Aber er mache sich auch Gedanken, sagt er, wie die Proteste bei den Menschen in Riesa ankommen.
Da unterbricht ein Nachbar das Interview und fragt Do auf Vietnamesisch, ob er ihm sagen könne, wie er an den Polizeisperren vorbei raus aus Riesa komme. „Und dann hat er gefragt, was das für Leute in der Stadt seien, die da protestierten? Ich hab ihm erklärt, dass es Protest gegen die AfD ist“, übersetzt Do. Der Nachbar habe gesagt, dann sei er beruhigt.
In Riesa leben 29.000 Menschen. Bei der letzten Landtagswahl bekam die AfD 38 Prozent der Zweitstimmen. „Ich werde mich dafür einsetzen, dass es eine Nachbereitung mit der Stadtgesellschaft gibt“, sagt Do. Es müsse klar kommuniziert werden, dass der Protest friedlich war. „Die Eskalation ging von der Polizei aus.“
Am späten Samstagnachmittag fährt Nam Duy Nguyen mit dem Zug heim nach Leipzig. Polizeipräsident Rodig entschuldigt sich am Abend noch öffentlich bei dem Abgeordneten. Es sei sicher nicht die Intention der Polizei gewesen, einem Abgeordneten und dessen Begleiter zu schaden. Bei verletzten Aktivist*innen entschuldigt sich Rodig nicht.
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