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Im Schnitt mehr als eine Demo pro Tag in der Hauptstadt: Propalästinensischer Protest Ende Juni in Berlin Foto: Babak Bordbar/imago

Propalästinensische SzeneSolidarität sucht Anschluss

Eine Mehrheit der Deutschen sieht Israels Kriegsführung in Gaza kritisch. Doch eine breite Demo-Bewegung gibt es nicht. Warum ist das so?

S hams Al-Sumud lässt sich einen Moment Zeit, ehe er die Frage beantwortet, wie er sich als Palästinenser in Deutschland fühlt. Dann sagt er: „Traurig.“ Er schaut auf das Tempelhofer Feld in Berlin-Neukölln, einen stillgelegten Flughafen, der heute ein Park ist. Es ist wahrscheinlich der einzige Ort der Stadt, an dem man wirklich in die Weite sehen kann. „Ich fühle mich ganz oft, als wäre ich im falschen Film. Der Genozid an unseren Verwandten wird live gestreamt und in Deutschland“, sagt er, werde „nur darüber diskutiert, welche Wörter man noch verwenden darf.“

Al-Sumud trägt eine schwarz-weiße Kufija um seinen Hals gewickelt, ein Symbol des palästinensischen Widerstands, dem er sich verbunden fühlt. Er ist Mitglied bei Palästina Spricht, einer der großen palästinensischen Gruppen, die in Berlin den Protest auf die Straße trägt und so versucht, Familie und Freunde in Palästina zu unterstützen. Al-Sumud will nicht mit Klarnamen in der Zeitung genannt werden.

Seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 trommelt die Palästinabewegung unermüdlich gegen Israels Krieg in Gaza auf die Straße, den kürzlich eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats als Völkermord bezeichnet hat. Allein in Berlin zählt die Berliner Polizei 865 Demonstrationen in den 683 Tagen zwischen dem 7. Oktober und dem 19. August 2025, das ist mehr als ein Protest pro Tag. Plätze und Universitäten werden besetzt, Protestcamps errichtet, Flashmobs und Großdemos veranstaltet. Regelmäßig gehen Szenen brutaler Polizeigewalt in den sozialen Medien viral.

Die Bewegung ist gesellschaftlich isoliert geblieben – und es ist die Frage, welche Rolle die Bewegung selbst dabei spielt. Auf die Straße zog es bisher vor allem migrantische, studentische und antiimperialistische Milieus. Schon am kommenden Wochenende könnte sich das allerdings ändern: Für Samstag rufen NGOs wie Medico und Amnesty mit der Palästinensischen Gemeinde und der Gruppe eye4palestine zu einer Großkundgebung am Großen Stern auf. Auch die Linkspartei organisiert, nach einigem Zögern und parteiinternen Diskussionen, eine Zubringerdemo. Für die Kundgebung am Großen Stern erwarten die Ver­an­stal­te­r:in­nen 50.000 Teil­neh­me­r:in­nen.

Solidarität für Palästina

Das Bündnis

Gegen das andauernde Töten in Gaza ruft ein Bündnis aus der Palästinensischen Gemeinde Deutschland, der Gruppe eye4palestine, Amnesty Deutschland und Medico International in Berlin auf die Straße. Der Aufruf, der explizit überparteilich bleiben will, spricht von Genozid und positioniert sich klar gegen die israelische Regierung.

Die Linke

Die stellen ihren eigenen Protest auf die Beine, der allerdings zur Großkundgebung „All Eyes on Gaza“ führen soll. Los geht der Linken-­Protest „Zusammen für Gaza“ um 14.30 Uhr am Neptunbrunnen am Alexanderplatz.

Die Musik

Die Großkundgebung des Bündnisses startet um 17 Uhr am Großen Stern, vauf der Straße des 17. Juni. Das Programm ist bunt. Neben Reden gibt es auch viele Musikacts, darunter sind etwa die Künstlerin Aya Samra und die Rapcrew K.I.Z. (tk)

Es könnte die größte palästinasolidarische Demonstration bisher bundesweit werden. Auch, dass mit den Linken eine im Parlament vertretene Partei für Gaza auf die Straße mobilisiert, ist in Deutschland neu – im Gegensatz zu Ländern wie Spanien, Großbritannien oder Frankreich, in denen die großen linken Gewerkschaften und Parteien schon kurz nach Beginn der israelischen Bombardierung von Gaza anfingen, für Palästina zu mobilisieren. Der DGB dagegen äußerte sich bisher nur sehr vorsichtig und auch die Linken positionieren sich längst nicht so klar wie andere Linksparteien Europas.

Tatsächlich gibt es auch in der Linken mit Blick auf den kommenden Samstag vereinzelten Unmut darüber, dass sich die Partei dem Aufruf des Demobündnisses angeschlossen hat. Dieser grenzt sich zwar von den Kriegsverbrechen aller Seiten ab und fordert auch die Freilassung der israelischen Geiseln. Aber er erwähnt eben nicht explizit den Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober, bei der über 1.200 Israelis getötet und mehr als 200 Menschen als Geiseln verschleppt wurden. Im Aufruf schreiben die Veranstalter:innen, man wolle sich angesichts der „Massentötungen“ und der „systematischen Zerstörung“ in Gaza auf Kritik an der israelischen Regierung und ihren Un­ter­stüt­ze­r:in­nen fokussieren.

Für die Linken ist die Verwendung des Genozidbegriffs ein Bruch mit der bisherigen Linie. Denn eigentlich will man eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag abwarten. Die niedersächsische Arbeitsgemeinschaft „Gegen jeden Antisemitismus“ wirft der Linken-Spitze deshalb vor, antisemitische Narrative zu bedienen, „die Israel dämonisieren“. Auch die Thüringer Abgeordnete Sabine Berninger, Mitglied im Parteivorstand, hat sich abgegrenzt. Der Parteivorstand argumentiert in einem Beschluss von Ende August, der Aufruf sei richtig, da nun keine Zeit für einen „Kampf um Begrifflichkeiten“ sei: „Die vielen Völkerrechts- und Menschenrechtsverbrechen in Gaza sind offensichtlich.“

In der deutschen Bevölkerung mangelt es tatsächlich nicht an Palästinasolidarität. Im August hielten etwa laut ZDF-Politbarometer 76 Prozent der Wahlberechtigten Israels Vorgehen in Gaza für nicht gerechtfertigt, 74 Prozent sprachen sich in einer Forsa-Umfrage aus dem Juli für mehr politischen Druck auf Israel aus. Laut ARD-Deutschlandtrend sind 73 Prozent der Deutschen für eine Begrenzung oder vollständige Aussetzung der Waffenlieferungen an Israel, 62 Prozent sehen laut YouGov in Gaza einen Genozid durch Israels Kriegsführung.

Warum bleibt die propalästinensische Bewegung bisher dennoch isoliert? „Das hat zum einen natürlich mit der deutschen Geschichte zu tun“, sagt Peter Ullrich, Protestsoziologe und Antisemitismusforscher an der TU Berlin. Seit Jahren beschäftigt sich Ullrich mit dem Nahostkonflikt und bezieht dabei immer wieder Positionen, mit denen er sich auf allen Seiten unbeliebt macht. Sich gegen den Staat Israel zu stellen, dessen Gründung eine Folge des Holocausts war, bereite vielen Deutschen Unbehagen, sagt er. Und es gebe die Angst, sich auf Protesten mit Hamas-Sympathisanten gemein zu machen.

Insgesamt dürften die Leute, die auf Palästinademos tatsächlich mit der Hamas sympathisieren, zwar eine klare Minderheit bilden. Das Publikum, das es auf die Berliner Straßen zieht, ist jedenfalls sehr divers: Junge Studierende und queere Expats laufen hier gemeinsam mit älteren palästinensischen Männern und Frauen und den Kadern kommunistischer Kleingruppen. Viele internationale Communitys gehen zu den Protesten, teilweise sind sie in antikolonialen Gruppen organisiert. Der Tenor ist antiisraelisch, aber ansonsten sind die ideologischen Bezüge kaum einheitlich.

Unbegründet ist der Vorwurf der fehlenden Abgrenzung zur Hamas allerdings nicht. Immer wieder dokumentieren antisemitismuskritische Recherchestellen terrorverherrlichende Aussagen auf den Protesten. Palästina-Aktivist:innen sprühen rote Dreiecke an Häuserwände, eine Symbolik, die die Hamas benutzt. Und einige der Berliner Gruppen, die Proteste organisieren, darunter auch Palästina Spricht, haben unmittelbar nach dem 7. Oktober gar von einem „revolutionären Tag zum Feiern“ gesprochen.

Al-Sumud will sich davon dann auch nicht distanzieren. „Man kann den Unterdrückten nicht vorschreiben, wie sie ihren Widerstand auszuführen haben“, sagt er. Alle, die am 7. Oktober Verbrechen begangen haben, sollten dafür belangt werden. Aber: „Wenn eine Person bei einem Gefängnisausbruch Unrecht tut, sollte es vor Gericht eine Rolle spielen, dass sie zuvor über Jahre misshandelt und unschuldig eingesperrt wurde.“

Harter Polizeieinsatz bei einer Pro-Palästina-Demo am Checkpoint Charlie in Berlin-Mitte, Ende Juli Foto: Malin Wunderlich/dpa

Es ist ein Blick auf die Geschichte, in dem die „systematische ethnische Säuberung“, wie Al-Sumud sagt, nicht erst am 7. Oktober, sondern schon mit der Staatsgründung Israels beginnt. Seither gebe es in Palästina „Besatzung, Vertreibung, Landraub, Apartheid, militärische Angriffe und Plünderungen“, seit 17 Jahren werde der Gaza­strei­fen „mit einer unerbittlichen Blockade belegt“, sagt er. Da sei es „grundfalsch, einseitig und unzureichend“, sich auf die Taten der Unterdrückten zu fokussieren, statt das Ende der Unterdrückung zu fordern.

Der Nahostkonflikt ist in seiner Grundstruktur ein nationalistischer Konflikt

Peter Ullrich, Antisemitismusforscher

Der Soziologe Ullrich kennt solche Argumente. „Der Nahostkonflikt ist in seiner Grundstruktur ein nationalistischer Konflikt“, sagt er. Diese nationalistische Logik würde von der Solidaritätsbewegung reproduziert und entfalte einen Sog, in dem die Vergehen der eigenen Seite verschwinden. Auf propalästinensischer Seite würde dann der Terror der Hamas legitimiert – und im proisraelischen Diskurs noch die Kritik am israelischen Aushungern von Gaza als Hamas-Inszenierung abgetan. „Alle Ambivalenzen drohen in dieser binären Logik zu verschwinden“, so Ullrich. Die eigene Seite erscheine dann als bedingungslos gut, die andere als schlecht.

Trotz dieser Dynamik hält Ullrich den pauschalen Antisemitismusvorwurf für falsch. „Die allermeisten gehen wohl auf die Straße, um gegen die laufenden Kriegsverbrechen zu protestieren“, sagt er. Dass es auf den Demos auch zu Antisemitismus komme, sei beim Thema Israel sogar zu erwarten: „In jeder größeren Bewegung gibt es Ränder“, sagt Ullrich. Deshalb könne man nicht der Gesamtbewegung absprechen, dass es ihr um die deutsche Beteiligung an einem möglichen Völkermord geht.

Julia Kopp, Projektleiterin der Berliner Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias Berlin), sagt: In der Vergangenheit hätten die Versammlungen „eine öffentlichkeitswirksame Plattform“ für Antisemitismus geboten. Sie betont, grundsätzlich seien Proteste gegen das Vorgehen der israelischen Regierung in Gaza und gegen die Gewalt in der Westbank legitim. Doch allein 2024 habe Rias Berlin nach eigenen Angaben auf 177 Berliner Demos mit Bezügen zum Nahostkonflikt antisemitische Äußerungen dokumentiert.

Was als antisemitisch gilt, ist allerdings umstritten. Eine Studie hat kürzlich den Vorwurf erhoben, Rias arbeite mit einem stark überdehnten Antisemitismusbegriff, der Israelkritik und Antisemitismus vermenge. Und tatsächlich können viele Protestslogans unterschiedlich bewertet werden. Ein Beispiel ist der Spruch „From the river to the sea“: Vom Innenministerium als Hamas-Parole eingestuft, wird er in der Praxis von unterschiedlichen Akteuren verwendet – wie auch ein Gutachten des Berliner Landeskriminalamts festhält, auf dessen Basis Gerichte bereits Freisprüche erteilt haben. Dennoch nimmt die Berliner Polizei weiter Menschen wegen des Ausrufs fest.

Auch viele Medien würden in der Bewertung von Palästinaprotesten auf die schlechtestmögliche Interpretation zurückgreifen, kritisiert Soziologe Ullrich. Oft fehle ein berichtender Journalismus, der vor der Bewertung von Protesten erzähle, was die Demonstrierenden wollen. Stattdessen würde mit einer „Antisemitismuserwartung“ auf Proteste geblickt, für die anschließend nur Belege gesucht würden. „Das verhindert sicherlich, dass viele, die das eigentlich wollen, für Gaza auf die Straße gehen“, vermutet Ullrich.

Dass es einen Medienbias in der Berichterstattung zum Nahostkonflikt gibt, sagt auch der Kommunikationswissenschaftler Kai Hafez, der etwa argumentiert, palästinensische Perspektiven seien in deutschen Medien „praktisch kaum vertreten“. Eine Untersuchung des linken Magazins Jacobin, das fast 5.000 Überschriften deutscher Leitmedien ausgewertet hat, kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass darin Positionen der israelischen Regierung und des Militärs massiv dominieren. Reporter ohne Grenzen spricht gar von einem „Klima der Angst“ unter Journalist:innen, die über Gaza berichten. Dennoch: Es fehlen de facto belastbare Studien zur Berichterstattung über Palästinaproteste.

Für Ak­ti­vis­t:in­nen wie Emily Rosenthal ist die Sache klar. Die Aktivistin von der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost sitzt auf einer Grasfläche neben dem Deutschen Dom in Berlin-Mitte. Auf der anderen Seite des barocken Kuppelturms jault ein Megafon auf und unterbricht das Gespräch. Dort bereitet die jüdisch-palästinensische Gruppe Shoresh gerade eine Protestkundgebung vor.

Antisemitische Symbolik: die roten Dreiecke sind ein Zeichen der Hamas. Hier an einer Hauswand in Berlin-Neukölln Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

„Wirklich Teil der palästinasolidarischen Bewegung bin ich erst nach dem 7. Oktober geworden“, sagt Rosenthal, die ebenfalls nicht mit echtem Namen in der Zeitung auftauchen will. Wie gerät man als Jüdin auf diese Seite der Barrikade? „Das hat sich lange angebahnt“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Seit Jahren schon stoße sie das Handeln der israelischen Regierung zunehmend ab. „Die Essenz der Tora ist doch: ‚Was dir verhasst ist, das tue deinem Nächsten nicht an.‘ Der Rest ist nur Kommentar. Wie passt das denn bitte mit dem zusammen, was Israel tut?“, sagt sie.

Etwas später steht sie mit etwa 130 Menschen gegenüber dem israelischen Restaurant Gila & Nancy. Gemeinsam machen sie viel Krach, indem sie auf leeren Kochtöpfen hämmern, die den Hunger in Gaza darstellen sollen. Es sei ein explizit jüdischer Protest, das wollen die Red­ne­r:in­nen wiederholt betonen Viele Plakate sind auf Hebräisch, der bekannte Autor Tomer Dotan-Dreyfus hält eine Rede. Erst später gesellen sich auch palästinensische Ak­ti­vis­t:in­nen dazu. Die jüdischen Protestierenden begrüßen sie innig, man kennt sich.

Der Grund für den Protest: Der Restaurantbesitzer, der israelische Unternehmer Shahar Segal, war kurzzeitig Sprecher der Gaza Humanitarian Foundation (GHF) – also der Organisation, die für die Nahrungsmittelverteilung im Gazastreifen verantwortlich ist. Mindestens 2.500 Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen sind inzwischen nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza bei dem Versuch, Hilfe an GHF-Ausgabestellen zu finden, getötet worden. Das UN-Menschenrechtsbüro wirft Israel auch deshalb vor, humanitäre Hilfe als Kriegswaffe zu nutzen.

Doch in der anschließenden Berichterstattung über den Protest vor dem Restaurant in Mitte ist davon wenig die Rede. Stattdessen war von einer „Hass-Demo“ zu lesen, die sich gegen einen „jüdischen Gastrounternehmer“ richtete. Was beim oberflächlichen Lesen hängen bleibt: Es handelte sich um einen Protest von Pa­läs­ti­nen­se­r:in­nen gegen jüdisches Leben in Berlin.

Solche Berichterstattung ist kein Einzelfall. Ein weiteres Beispiel, das bundesweit Schlagzeilen machte, ist ein vermeintlicher Gewaltvorfall auf der Gedenkdemonstration an die palästinensische Nakba im vergangenen Mai. Als sich dort ein Polizist verletzte und ins Krankenhaus musste, teilte die Polizei mit, De­mons­tran­t:in­nen hätten „gezielt einen Polizeibeamten angegriffen“, ihn „zu Boden gebracht“ und „massiv auf ihn eingetreten“. Von einem „Mordversuch“ redete der Bürgermeister des Bezirks Neukölln, Martin Hikel (SPD).

Inzwischen haben Recherchen unter anderem der taz und der Recherchegruppe Forensic Architecture gezeigt: Wahrscheinlich hat nichts davon gestimmt. Videoaufnahmen zeigen, wie der fragliche Polizist sich prügelnd in die Menschenmenge begibt und dabei immer wieder mit der rechten Hand Protestierenden ins Gesicht schlägt. Etwas später hält er sich genau diese Hand und sackt dann zusammen.

Die meisten Verfahren werden eingestellt

Wird die Gefährlichkeit der Bewegung aufgebauscht? Auf taz-Nachfrage teilt die Berliner Staatsanwaltschaft mit, seit dem 7. Oktober seien im Zusammenhang mit den Protesten zum Nahostkonflikt an Berliner Gerichten bis zum 20. August insgesamt 2.102 Verfahren anhängig gewesen. Nur die wenigsten davon führten allerdings zur Verurteilung – lediglich 117 Verurteilungen gab es, davon 101 Geldstrafen. Die meisten Verfahren wurden eingestellt oder endeten mit Strafbefehlen, bei denen es gegen Zahlung einer kleineren Geldstrafe zu keiner Gerichtsverhandlung kommt.

Auch die Berliner Polizei gibt sich gegenüber der taz überraschend milde in ihrer Einschätzung. „Der überwiegende Teil der Versammlungen verläuft friedlich und der Großteil der Versammlungsteilnehmenden zeigt keine Gewaltbereitschaft“, heißt es. Es gebe in der Szene nur „kleine Kreise“, die auf Protesten verbotene Parolen rufen oder Einsatzkräfte attackieren. Angriffe auf politisch Andersdenkende seien „sehr selten“. Zugenommen hätten lediglich Sachbeschädigungen „in Universitäten, gegen Vertretungen der Rüstungsindustrie oder Unternehmensfilialen, denen eine Unterstützung der israelischen Regierung vorgeworfen“ wird.

Soziologe Ullrich sieht noch eine weitere Entwicklung am Wirken: eine autoritäre Tendenz, wie er es nennt, der Gesellschaft insgesamt. Er verweist darauf, dass etwa die Berliner CDU die Einschränkung der Versammlungsfreiheit und die Ausweitung von Polizeibefugnissen auch mit dem Verweis auf die angebliche Gefährlichkeit der Palästinaproteste vorantreibt. Dies vermische sich mit einem Antimigrationsdiskurs, in dem sich die CDU und die SPD von der AfD immer weiter treiben ließen. Beispiele seien Diskurse über „importierten Antisemitismus“ und Versuche, das Staatsbürgerrecht über ein Bekenntnis zum Existenzrecht Israels zu politisieren.

Timo Dorsch von Medico International hofft, dass es der Großdemo am Samstag gelingen kann, breitere Akzeptanz für die Bewegung zu erreichen. „Die Veranstaltung ist eine Verbindung zweier Anstrengungen: die unzähligen Demonstrationen auf der Straße, die stets immenser Polizeigewalt ausgesetzt sind, sowie unserer Arbeit vor Ort in Gaza und das Aufzeigen von Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Armee.“ In der Arbeit vor Ort habe sich Medico eine besondere Glaubwürdigkeit erarbeitet, sagt Dorsch. Die wolle die NGO nun nutzen, um auf eine „Wahrheit“ hinzuweisen: „Dass die israelische Armee einen Genozid verübt und dass wir aufgrund der Menschenrechte, denen sich auch Deutschland verpflichtet hat, dagegen einstehen müssen“, sagt er.

Auf dem Tempelhofer Feld sagt Al-Sumud, in der palästinensischen Community seien viele Menschen ausgebrannt. Nicht nur wegen der Polizei, sondern auch wegen der Situation in Palästina. „Viele mit Familie in Gaza sind die ganze Zeit auf edge, hängen nur am Handy, um zu checken, wo die neusten Angriffe stattfinden“, sagt er. Seine Familie lebe zum Glück in einem anderen Land in der Region, aber er habe Freunde, die 20 Fa­mi­li­en­mit­glie­der verloren hätten. Ihn mache vor allem das Schweigen und das Wegsehen seiner deutschen Freunde zu schaffen. Er schaut auf sein Handy, wo eine neue Meldung aufploppt.

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