Polizeigewalt in Frankreich: Außer Kontrolle
Frankreichs Sicherheitskräfte haben jedes Maß verloren. Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber der Staatsmacht radikalisiert den Protest zusätzlich.
I n Frankreich hat sich in den letzten Monaten bei Demonstrationen und damit bei der Meinungsfreiheit in signifikanter Weise etwas verändert. Zuerst für die Medien: Die Kameraleute, die FotografInnen und ReporterInnen kommen zum Arbeitseinsatz inzwischen systematisch mit Helm und Schutzmasken ausgerüstet. Man muss daraus schließen, dass ihre Armbinde mit dem Hinweis „Presse“ nicht reicht, um sie vor tätlichen Angriffen zu schützen.
Wie die Journalistengewerkschaft SNJ bestätigt, wurden im Verlauf der Demonstrationen der „Gilets jaunes“ VertreterInnen der Medien von Polizisten nicht nur in der Ausübung ihrer Berufstätigkeit behindert oder sogar vorübergehend festgenommen, sondern mehrfach und gezielt attackiert.
Natürlich hieß es dann später von vorgesetzten Stellen, es habe sich da um ein bedauerliches Versehen gehandelt. Nur häufen sich diese Fälle in zu offensichtlicher Weise, um dies glaubwürdig erscheinen zu lassen. Über Demonstrationen live zu berichten ist heute in Frankreich ein Risikojob. Aber noch viel krasser sieht diese Entwicklung für die TeilnehmerInnen an Demonstrationen aus.
Die beim Onlinemagazin Mediapart aktualisierte Opferbilanz der Gilets jaunes spricht Bände. Von Hunderten ernsthaft Verletzten haben 24 Menschen ein Auge (Gummigeschosse) und 5 eine Hand (durch TNT in Tränengasgranaten) verloren. In Marseille wurde im Dezember am Rande einer Gelbwesten-Demonstration die 80-jährige Zineb Redouane von einem Geschoss – wahrscheinlich einer Tränengasgranate – tödlich im Gesicht getroffen, als sie im ersten Stock ihr Fenster öffnete. Auf der Gegenseite wurden auch zahlreiche Polizeibeamte verletzt. Unter den Demonstranten gibt es zweifellos Leute, die eine gewaltsame Konfrontation suchen. Das kann aber nicht als Rechtfertigung für unverhältnismäßige staatliche Gewalt herhalten.
Ein zweites sichtbares Phänomen: Es ist kein Zufall, dass jedes Mal, wenn die Gilets jaunes oder linke Oppositionsgruppen auf den sozialen Netzwerken zu Protestaktionen mobilisieren, Gruppen von „Streetmedics“ zur Stelle sind, medizinische Fachleute, die sich als freiwillige Sanitäter an den Demos mit Erster Hilfe um Opfer von gewaltsamen Zusammenstößen mit den Ordnungskräften kümmern. Denn die Polizei setzt beim geringsten Anlass und meist sehr ausgiebig Tränengas ein und verwendet zudem zum Vertreiben von Unruhestiftern gefährliche Granaten mit Knalleffekt sowie Hartgummigeschosse, deren Risiken und sogar letale Verletzungsgefahr beim Einsatz auf kurze Distanz bekannt sind.
Fragwürdige Einsatzdoktrin
Die enorme Zahl von schweren Verletzungen aufseiten der Demonstranten erklärt sich mit einer Hochrüstung der Sicherheitskräfte, die in Europa ihresgleichen sucht, aber auch mit einer fragwürdigen Einsatzdoktrin. Als am 28. Juni ein Sit-in auf einer Pariser Brücke 300 friedliche Mitglieder von „Extinction Rebellion“ für die vom Klimawandel bedrohte Biodiversität organisierten, wurden sie – wie auf mehreren Videos zu sehen ist – von einem der uniformierten Polizisten aus kürzester Distanz und direkt in die Augen mit Tränengas besprüht.
Aus der Sicht der Staatsführung sind die DemonstrationsteilnehmerInnen sowieso selber schuld, wenn sie mit ihrer Anwesenheit das Risiko einer Verletzung auf sich nehmen. So argumentierte Präsident Macron beispielsweise, als im März in Nizza die 73-jährige Geneviève Legay bei einem rücksichtslosen Polizeiangriff auf eine gewaltfreie Gruppe von Demonstrierenden schwer verletzt wurde.
Der zuständige Staatsanwalt räumte später öffentlich ein, er habe eine Schuld der Polizei quasi im Vorhinein ausgeschlossen, um Macron nicht in Verlegenheit zu bringen. Zudem wurde auch noch bestätigt, dass die Beamtin, die die Ermittlung führte, die Lebenspartnerin des Polizisten ist, der Geneviève Legay, ein bekanntes Mitglied von „Attac“, mit seinem Schild umgestoßen haben soll.
Bisher gab es noch keine einzige gerichtliche Verurteilung wegen Polizeigewalt. Zwar laufen zahlreiche interne Untersuchungen bei der Polizei. Dabei aber ermitteln Polizisten gegen Polizisten.
In der Loire ertrunken
Wohin eine solche Befangenheit führt, illustriert der kürzliche Fall von Steve Caniço in Nantes. Er war im Juni bei einem von Zeugen als unverständlich brutal und gefährlich beschriebenen Polizeieinsatz gegen eine Techno-Party in die Loire gestürzt und ertrunken. Ohne diese kontradiktorischen Zeugen auch nur anzuhören, kam der Inspektionsbericht zum Schluss, zwischen dem Tod von Steve und der Intervention gebe es „keine Verbindung“ und ohnehin sei die nächtliche Polizeiaktion (mit 33 Gasgranaten gegen 90 Jugendliche an einer Party) „legitim“ und „nicht unverhältnismäßig“ gewesen. Das wäre allenfalls noch durchgegangen, wenn nicht, wie heute fast immer, ein Video existierte, das das Gegenteil zeigt.
Muss man daraus schließen, dass die Aufgabe einer solchen internen „Aufklärung“ in der Regel eher die Vertuschung einer krassen Fehleinschätzung und absurden Taktik ist? Damit erreichte der Zynismus der Staatsmacht einen neuen Höhepunkt. Denn eine solche Gefälligkeitsuntersuchung hat deswegen weit über Steves Freundeskreis hinaus schockiert, weil mit diesem Freibrief eine geradezu stupide Gewalt im Nachhinein auch noch als Notwendigkeit behördlich legitimiert werden soll.
Im Wirklichkeit untergräbt damit der Staat selber die Legitimität seiner Gewalt zur Aufrechterhaltung einer Ordnung, die den Gilets jaunes und einer wachsenden Zahl von anderen BürgerInnen zunehmend ungerecht erscheint. Das Gefühl der Ohnmacht gegenüber einer selbstherrlichen Staatsmacht kann nur zusätzlich radikalisieren.
Gewalt ist in Frankreich mehr als in anderen Ländern Europas schon lange Teil der öffentlichen Auseinandersetzung. Doch wer Übergriffe als Normalfall durchgehen lässt, banalisiert die Gewalt – bis sich die wütenden BürgerInnen sagen: Hau mich, und ich schlag dich!
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