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Politik der ZukunftWas ist für Sie progressiv, Ricarda Lang?

Progressiv klingt gut, ist aber längst ein Traditionsbegriff für eine Welt, die es nicht mehr gibt. Auf der Suche nach einer neuen Erzählung.

Langs streben ins „progressiven“ Zentrum der Gesellschaft Foto: Lisi Niesner/Reuters

D ie Grünen-Politikerin Ricarda Lang will die Partei nicht mehr im Zen­trum der Gesellschaft positionieren, wie Robert Habeck, Winfried Kretschmann und Cem Özdemir es wollen. Lang will ins Zentrum des „progressiven“ Teils der Gesellschaft, mehr noch, sie strebe „progressive Mehrheiten“ an. Das sagte die Ex-Parteivorsitzende und mutmaßlich kommende Fraktionsvorsitzende unlängst in der taz.

Hurra. Jetzt müsste man eigentlich nur noch wissen, was „progressiv“ meint, wenn es um die Zukunft von Europa, um Klima, Verteidigung und Digitales, sprich um die zentralen Themen unserer Zeit geht; und sich angesichts des Zeitgeistes dann die Frage stellen, wo und wie diese „progressiven Mehrheiten“ zustande kommen sollen, europäisch und national.

Wer sollen denn die „progressiven“ Parteien in der Bundesrepublik sein? Die SPD, eine fossile Partei aus dem 20. Jahrhundert? Die Tiktok-affine, aber außenpolitisch nicht annähernd realitätstaugliche Linkspartei? Oder doch die Grünen, denen gerade von Restlinken reflexhaft vorgeworfen wird, sie seien mittig, konservativ, „rechts“?

„Progressiv“ klingt gut, ist aber längst ein Traditionsbegriff geworden, der aus einer Welt stammt, die es nicht mehr gibt. Diese Welt war eine, in der die Bundesrepublik von amerikanischem Weltcheftum, russischem Gas, sorgloser CO2-Emissionsproduktion und der Globalisierung profitierte.

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In dieser Welt wollten staats- und gesellschaftskritische Progressive mehr Umverteilung, mehr Freiheit, mehr Minderheitenrechte, mehr Chancen für Benachteiligte, mehr Sex, Drogen und Rock ’n’ Roll. Das Gegenwort war konservativ, das schienen uns spießige und schlimme Mitmarschierer zu sein. Dennoch schufen und bewahrten wir gemeinsam die Voraussetzungen für die liberale Demokratie.

Wo bleibt die gemeinsame Zukunftsgeschichte?

Im 21. Jahrhundert ist die Auseinandersetzung nun aber nicht progressiv gegen konservativ oder links gegen rechts. Heute kämpfen offene, postfossile Gesellschaften gegen den autoritären oder hyperindividualistischen fossilen Nationalismus. Erstere sind in reine Bewahrungsbeschwörung gerutscht. Zweiterer verspricht eine bessere Zukunft („great“), die an eine angeblich große Vergangenheit anschließt („again“).

In dieser Lage sehen nicht nur gute, alte, ­fossile CDU- oder SPD-Kanzler alt aus, sondern auch die nostalgischen Progressiven, die „­progressiv“ heute weitgehend über eine nationale Sozialstaatsausweitung definieren. Selbstverständlich ist bezahlbares Wohnen und Essen eine zentrale Grundlage. Das wissen die Rechtspopulisten auch. Aber aus linker Sozialpolitik und moralischer Abwertung von Andersdenkenden entsteht eben keine gemeinsame Zukunftsgeschichte. Das ist einfach nur unambitioniertes Retro-Denkbusiness.

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Liebe Ricarda Lang: Ich würde den Begriff „progressiv“ zur künftigen Gewinnung von Mehrheiten nicht verwenden. Erstens, weil er Gemäßigte abschreckt. Zweitens, weil er inhaltlich leer ist. Auch würde ich keine Opfernarrative in den Vordergrund stellen, sondern die zweite Phase unserer großartigen Bundesrepublik entwickeln. Diese Zukunftsgeschichte sollte weder an sozialem Elend aufgehängt werden (wie es Linkspartei oder Linkssozialdemokratie versuchen) noch an einer fortschreitenden Individualisierung.

Nach der Emanzipation des Bürgers (Konservative), des Arbeiters (SPD) und des Individuums (Grüne) brauchen wir nun die Geschichte einer postfossilen, europäischen, digitalen, gerechten Gesellschaft mit beträchtlichen Chancen für Freiheit und Lebensqualität.

Nicht ganz einfach im Moment, okay. Aber das ist die Geschichte, mit der wir gewinnen werden.

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Peter Unfried
Chefreporter der taz
Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried
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15 Kommentare

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  • Gute Analyse

  • Die Richtung wurde bereits wissenschaftlich ermittelt. Stoppt den Klimawandel! Die Bereiche in denen gehandelt werden muss sind bekannt. CO², Plastik, Wüstenbildung, Artensterben. Das wir Wohlstand und Freiheit anders definieren müssen, wenn wir erfolgreich sein wollen, liegt auf der Hand. Heute ist Wohlstand = Rücksichtslosigkeit und Freiheit = Willkür. Verantwortung kommt nur in Sonntagsreden vor. Wenn von den Bewustseinsstufen der bürgerlichen Gesellschaft, der Arbeiterklasse und der Individualisierung die Rede ist, stellt sich die Frage wie die nächste heißen wird. Wie auch immer es sein wird, einen Geheimtipp gibt es: Aufrüstung und Kriege gewinnen wollen, gehören nicht dazu.



    Kann man Zufriedenheit und Glück auch anders definieren als in materiellem Wohlstand? Sicherheit = Überlegenheit? Wir reagieren noch auf allen Ebenen auf die Fragen der Zukunft mit den Lösungsschablonen des 19. und 20. Jahrhunderts. Logisch, wir kultivieren ja auch wirtschaftliches Denken aus dieser Zeit.

  • "Nicht ganz einfach im Moment, okay. Aber das ist die Geschichte, mit der wir gewinnen werden."

    Gewinnen? Darüber kann man ja nicht mal lachen. So wie es derzeit läuft, gewinnt die AfD und gewinnt und gewinnt und gewinnt. Fossil, Postfossil, scheißegal erstmal.

    Wenn es nicht gelingt, das ganze Trallali und Trallala mal auf die Seite zu legen und alles darauf zu konzentrieren, die Übernahme der Macht durch die Faschisten zu verhindern, ist das alles sowieso für die Katz.

    Solange jedes kritische Wort in Sachen Migration nach rechts, oder gleich nach ganz rechts, ist ja eh alles dasselbe, geschoben wird, wächst die Sicherheit einer Mehrheit der AfD bei den nächsten Wahlen.

    Was dann passiert, das weiß jeder.

    • @Jim Hawkins:

      Die faschistische Mehrheit wächst auch ohne das Thema Migration. Dann wird irgendwas anderes herhalten müssen. Klimawandel z.B. oder nur die bloße Bekämpfung des Faschismus.

      • @Troll Eulenspiegel:

        Komisch nur, dass die Zunahme der Stimmen für die AfD seit ziemlich genau 2015 steil nach oben geht.

        Aber was soll's, lassen wir es einfach darauf ankommen.

  • Ein guter Artikel! Er hat meine Meinung in dem einen oder anderen geändert, so dass ich glaube, die Dinge jetzt ein wenig genauer, differenzierter zu sehen.

  • Progressiv ist nur ein schickes Fremdwort für "fortschrittlich". Es bleibt beim Fortschritt immer die Schwierigkeit, die richtige Richtung zu bestimmen. Nur wenn man weiß, wo vorne und hinten ist, kann man von Fortschritt oder Rückschritt sprechen. Manchmal ist "back to the roots" die vernünftige Verhaltenweise, auch wenn das wenig progressiv klingt.

    Unsere Gesellschaft hat sich in manchen Themen mächtig verrannt und gerade die "Progressiven" haben viel Verwirrung in den Köpfen gestiftet. Aber selbst der technische Fortschritt der letzten Jahre - so faszinierend Internet, Smartphones und KI und das alles auch sein mögen - hat die Menscheit kaum glücklicher gemacht. Wir hetzen dem Glück hinterher und es ist doch nur Haschen nach Wind.

  • Ricarda Lang ist eigentlich ein großes Talent der Grünen. Bislang war sie immer auch eine erstaunlich der Realität nahe Politikerin. Nun - da stimme ich dem Kommentar zu - redet sie von einer progressiven Mehrheit, von der unklar ist, worin deren Progressivität besteht und wer das gesellschaftlich ist. Erfahrungsgemäß bezieht sich Progressivität dabei meist auf die sogenannten Nischenthemen. Wichtig wäre ja eher eine möglichst große Mehrheit für Demokratie und Postfossile Wirtschaft zu finden.

  • "Heute kämpfen offene, postfossile Gesellschaften...."

    Welche?

  • Progressiv sind nur der Buddhismus (mit dem Fokus auf reiner Bewusstheit, die jenseits von männlich und weiblich, Nationen, Hautfarbe, arm und reich etc steht), der Taoismus (ähnlich, aber andere Methoden), die Humanistische Psychologie, die Transpersonale Psychologie, einige großartige Philosophen und die Aufklärung, von der sich manche dieser sog. "Progressiven" leider wieder abwenden und in die Zeit zwischen Aufklärung und Neolithikum zurückfallen.

    Und eine " digitale Gesellschaft mit beträchtlichen Chancen für Freiheit und Lebensqualität"?

    Sorry, leider stecken 90 Prozent der digitalen Gesellschaft in einem gigantischen Sumpf aus Shopping, Kriminalität jeder Art und monströsen Verdummungsmaschinen, Social Media genannt.

    Zudem wird die Digitalisierung einen Großteil, Silicon-Valley-Gurus sprechen von über 90 Prozent, an Jobs tilgen.

    Und wir alle wissen, nicht gelebte Kreativität kippt in Destruktivität.

    • @shantivanille:

      Ich bin mir nicht sicher, ob Sie sich jenseits westlicher Esoterik mit der Ideengeschichte und gesellschaftlichen Realität des Buddhismus beschäftigt haben, ich rate aber zu dem Versuch. Das Bild von einer „progressiven“ Religion wird dann schnell wieder zurecht gerückt: das fängt bei der expliziten Rechtfertigung von Gewalt gegen Nicht-Buddhisten an (und zwar bereits in der klassischen Pali-Literatur) und reicht bis zu einem Frauenbild, dass in den meisten buddhistisch geprägten Ländern eben auch stramm patriarchalisch ist (der Verweis auf reines Bewusstsein ist hier eben wenig hilfreich – im Christentum sind theoretisch auch alle gleich vor Gott, in der Praxis sah das in beiden Fällen eben anders aus…). Und über die Frage, ob ihr Verständnis von Progressivität ein Maßstab sein kann, haben wir hier noch gar nicht diskutiert (ebenso wenig wie über den unterkomplexen und ahistorischen Begriff von „Aufklärung“).

    • @shantivanille:

      Vielleicht stecken die 90 Prozent aber nur in diesem Sumpf, weil ihnen das "richtige" Narrativ fehlt.

      Mit dem sie Lebenssinn finden, das Shopping beiseite schieben, ihre Kreativität leben und sich für die Gesellschaft einsetzen.

  • Ist ganz wie in der Werbung für einen Bausparvertrag: Da bin ich gerne Spießer (oder halt auch Konservativer).

    • @DiMa:

      🤣 Genau Genau - you made my day!



      Leonberger 🐕 & 🏜️ rot! Gellewelle 🙀🥳🧐

      PU & Die Spätzles - 🍜 - unter ⬇️ sich! Gell



      Ehste auf den Hund 🐕 kommst

      “Die Leonberger Bausparkasse AG war eine Bausparkasse in der württembergischen Stadt Leonberg. Sie ging aus dem 1924 gegründeten Christlichen Notbund zur gegenseitigen Hilfe hervor. Die Leonberger Bausparkasse fusionierte im Jahr 2001 mit der Wüstenrot Bausparkasse AG. Zu diesem Zeitpunkt war die "Leo-Bau" die viertgrößte private Bausparkasse in Deutschland.“



      & Däh



      “Die Wüstenrot & Württembergische AG (W&W) wird ihre Tochtergesellschaft Wüstenrot Bank AG Pfandbriefbank an die Bremer Kreditbank AG (BKB) veräußern.“

      Mehr - als tausend Worte - wat progredient;))

      • @Lowandorder:

        Däh&Zisch - Mailtütenfrisch - merkt an



        “Moin.







        Haptsach gut gekehrwocht...



        Progress (Haushaltswarenhersteller) – Wikipedia



        „Gefertigt wurden Haushaltsstaubsauger und Bohnermaschinen.“

        Glückauf!“



        & btw



        Vllt ich meinen ersten Beitrag 🗄️⛓️



        Doch noch seh? Wär scho schee 🥳