Partyvideo von Sanna Marin: Freiheit von Angst

Finnlands Regierungschefin, die wild tanzt? Die Empörung über Sanna Marin ist scheinheilig. Auch die FreundInnen der Doppelmoral sollten ihr danken.

Die finnische Pemierministerin Sanna Marin geht zu aufgestellten Mikrofonen in einem Park

Muss sich rechtfertigen: Finnlands Regierungschefin Sanna Marin am Freitag in Helsinki Foto: dpa

Work hard, party harder – dass Sanna Marin nicht bereit ist, neben ihrem Amt als finnische Premierministerin ihr Privatleben aufzugeben, ist in dem Land schon länger bekannt. Und zumindest die jüngeren FinnInnen finden ihren lockeren Stil ausgesprochen gut. Und Marin beweist: Man kann ein Land durch die Coronakrise führen und heikle außenpolitische Entscheidungen wie den Nato-Beitritt treffen, ohne künstlich so zu tun, als sei man 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche im Dienst.

Jetzt aber hatte sie das Pech, dass ein Partyvideo, das sie wild tanzend in einer Privatwohnung zeigt, online ging – und die Reaktionen im In- und Ausland sind ziemlich bigott: Die Leitartiklerin von Hufvudstadsbladet, der größten Zeitung der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland, schreibt im schulmeisterlichen Ton: „Politik ist eine so unerhört wichtige Sache, dass wir Sanna Marin fragen, ob sie vernünftig genug ist, ein Land auch nach einer Partynacht führen zu können.“

Dabei ist Finnland eine funktionierende Demokratie mit funktionierenden Institutionen und Stellvertreterregeln: Das Land geht nicht unter, nur weil die Premierministerin am Wochenende mal zwei Stunden länger schläft.

Zum Kontext muss man wissen: Finnland ist politisch liberal, aber gesellschaftlich-kulturell immer noch tief vom Protestantismus geprägt. Ungezwungen Spaß zu haben, ist bei älteren FinnInnen noch mit einer gehörigen Portion schlechten Gewissens verbunden. Der Finne geht nur hinter verschlossenen Türen und im vertrauten Kreis aus sich heraus, dafür aber oft umso ekstatischer. Nichts anderes hat Sanna Marin gemacht.

Das Video ist auch politisch gesehen eine positive Botschaft: Es zeigt, dass private Lebensfreude möglich ist, auch wenn die außenpolitische Lage gerade ernst ist. Es zeigt Freiheit von Angst – Angst, etwas falsch zu machen, Angst, aus der Rolle zu fallen – und ist somit auch ein Statement gegen die Putins und Erdoğans dieser Welt. Sanna Marin hat, wenn auch unfreiwillig, dieses Zeichen gesetzt. Auch die FreundInnen der Doppelmoral sollten ihr dankbar sein.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist taz-Ressortleiter Meinung + Diskussion

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.