Osteuropaexperte über Teilmobilisierung: „Putin ist unter Druck“
Die Teilmobilisierung ist eine Reaktion auf den Druck der extremen Rechten, sagt Charles Gati. Ein Gespräch über mögliche Kriegsszenarien.
taz: Putin hat eine Teilmobilisierung verkündet. Welche Konsequenzen hat das?
Charles Gati: Das ist schwer zu verarbeiten. Er will 300.000 Mann mobilisieren. Ich denke, Putin steht unter Druck der Kriegsfalken unter seinen Kritikern. Er reagiert also auf Druck der extremen Rechten und nicht einer liberalen Gruppe, die ein Friedensarrangement mit der Ukraine anstrebt. Das ist sehr gefährlich.
Bedeutet das eine Eskalation des Konflikts?
Auf alle Fälle. Schauen wir uns einmal an, was das in der Praxis bedeutet. Reden sind Reden. Normalerweise kann man daraus einen Trend ableiten. Ich würde einmal abwarten, ob das ein Bluff ist oder in die Realität umgesetzt wird.
Kann man da die Erzählung von der Spezialoperation aufrechterhalten?
Nein, sie werden sich einen neuen Namen für diesen Krieg ausdenken müssen. Ich glaube, das macht aber keinen großen Unterschied. Ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung will nichts davon wissen, dass Russland in einem Krieg steht. Deswegen nennen sie es Spezialoperation. Sie wollen damit auch die Illusion aufrechterhalten, dass die Ukraine Teil Russlands ist.
Gleichzeitig werden überstürzt Volksabstimmungen in den besetzten Gebieten angesetzt.
Sie sprechen bereits von der Eingliederung dieser Territorien in die Russische Föderation. Das ist hochgefährlich und ich glaube, in Europa und selbst in den USA herrscht ein naiver Optimismus, der die Gefahr, die von diesem Konflikt ausgeht, unterschätzt.
Wenn Russland die Gebiete annektiert, dann würde die Ukraine nach russischer Lesart russisches Staatsgebiet angreifen, wenn sie ihr Territorium zurückerobern will.
Das wird die russische Aggression noch steigern, aber gleichzeitig den Zusammenhalt des Westens befördern. Bisher verweigert der Westen der Ukraine ja bestimmte Waffen, mit denen Russland attackiert werden könnte. Ich denke, auf westlicher Seite wird die Mobilisierung zunehmen. Das Ziel bleibt, Russland aus der Ukraine zu vertreiben, nicht Russland anzugreifen.
Welche Fehler hat der Westen in diesem Konflikt gemacht? Es wird ja immer von Zbigniew Brzezinski gesprochen, der schon in den 1990er Jahren die Ukraine in den Westen holen wollte.
So stimmt das nicht. Brzezinski, mit dem ich gut befreundet war, hat gesagt, ohne die Ukraine ist Russland keine Großmacht. Außerdem hat er gemeint, dass ein Neutralitätsstatus der Ukraine erwogen werden sollte. Ich habe mit Brzezinski ein Buch geschrieben und war in fast allen Punkten einer Meinung mit ihm. Nicht in diesem Punkt allerdings.
Viele Experten meinen, es wird weder einen militärischen Sieg, noch ein formales Friedensabkommen geben, sondern einen eingefrorenen Konflikt.
Das ist möglich. Sicher ist, dass Russland nicht gewinnen wird. Das wird die Nato nicht erlauben. Auch die USA und vor allem die ukrainische Bevölkerung werden das verhindern. Ihre Entschlossenheit ist bewundernswert. Ich glaube aber auch nicht an einen militärischen Sieg der Ukraine. Sie kann einen Großteil und vielleicht sogar alle besetzten Gebiete zurückerobern. Bisher sehe ich das aber noch nicht. Die größte Gefahr sehe ich derzeit in der Möglichkeit, dass die europäischen Staaten in einem harten Winter ihre Unterstützung verringern. Dann könnte Russland einige Gebiete erobern. Die USA wollen Russland nicht besiegen. Erstaunlicherweise weiß die Biden-Regierung genau, was sie tut. Russland wird immer da sein und immer einen gewissen Einfluss auf die Ukraine ausüben. Ich denke, damit muss man sich abfinden.
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