Ostdeutsche und die deutsche Einheit: Ostalgie ist gefährlich

In wenigen Tagen wird die deutsche Einheit gefeiert. Manche Ostdeutsche fühlen sich als Bür­ge­r:in zweiter Klasse. Kann Gefühl ein Maßstab sein?

Gehen oder stehen: Wohin will der Osten? Foto: Kristian Tuxen Ladegaard Berg/imago

Der Osten gilt mittlerweile als Labor: Auch 35 Jahre nach dem Mauerfall bleibt der Osten stoisch anders, er wählt grauenhaft und gefährdet so die Demokratie, wie die Ergebnisse der Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen, Brandenburg zeigen. Was ist nur los mit den Menschen zwischen Ostsee und Thüringer Wald?

Eine Frage, die selbst klügste Po­li­tik­be­ob­ach­te­r:in­nen nur mühsam beantworten können. Da wundert es nicht, dass der Ostbeauftragte Carsten Schneider im aktuellen Bericht zur deutschen Einheit eine tiefgründigere Analyse meidet und Gast­au­to­r:in­nen schreiben lässt.

Was soll er schon sagen, wenn seine Landsleute mit ihrem Zuspruch für die AfD ihrem Unmut Luft machen darüber, dass Ostdeutsche bei den Eliten unterrepräsentiert sind, und dass sich die Einkommensverhältnisse in Ost und West nach wie vor unterscheiden. Etwa die Hälfte der Ostdeutschen fühlt sich als Bür­ge­r:in zweiter Klasse.

Fragt man sie nach der Demokratie, antworten nicht wenige mit einer Gegenfrage: „Welche Demokratie?“ Rechtfertigt allein das Gefühl des Abgehängtseins eine ostalgische Retrospektive, wie sie unterdessen sogar nach 1989 Geborene an den Tag legen?

Der Realitätscheck zeigt: Den meisten Menschen im Osten geht es heute materiell besser als in der DDR, selbst die Ärmeren müssen nachts nicht mehr aufs Außenklo, jede und jeder kann seine Meinung herausschreien. Haben die ostdeutschen Rea­li­täts­ver­wei­ge­r:in­nen vergessen, dass sie ihren Nachbarn und Ar­beits­kol­le­g:in­nen einst nicht selten misstrauten, weil überall die Stasi-Spitzel saßen? Dass sie abends in der Kaufhalle keine Milch mehr bekamen und auf ihren fucking Trabant 10 Jahre warten mussten? Dass sie Russisch hassten und nach vielen Jahren Schulunterricht nicht einmal до свидания übersetzen können?

Trotzdem hilft es nicht, den Osten abzuwerten, gar abzuschreiben. Das gefährdet die Demokratie mehr, als sich ständig mit ihm hart auseinanderzusetzen, meinetwegen auch als Labor.

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Ressortleiterin Meinung. Zuvor Ressortleiterin taz.de / Regie, Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es immer wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.

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