Ökonom zu Stopp der Gaslieferungen: „Moskau droht eine akute Situation“
Deutschland muss sich auf ein Ende der Gaslieferungen aus Russland einstellen, sagt der Ökonom Jens Südekum. Das wäre auch ein Problem für Putin.
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taz: Herr Südekum, wie konnte es passieren, dass sich Deutschland so in die Falle der Energieabhängigkeit von Russland manövriert hat?
Jens Südekum: Die Lage ist so, wie sie ist. Deutschland muss einen Teil seiner Energie importieren. Die Lieferung aus Russland hat in den vergangenen Jahrzehnten immer reibungslos geklappt. Jetzt stehen wir natürlich da mit einer hohen Abhängigkeit, die auch im europäischen Vergleich viel zu hoch ist. Eines der gravierendsten Probleme dabei ist, dass es in Deutschland keine Terminals für Flüssiggas gibt. Wir wissen leider nicht, wie dramatisch die Situation noch werden kann.
Derzeit fließt ja noch russisches Gas vor allem durch Nord Stream 1 – und sogar gerade besonders stark durch die Ukraine Richtung Westeuropa, sogar stärker als vor dem Krieg. Sollte das so bleiben?
Die Frage ist doch: Wollen wir uns darauf verlassen? Mit den Zahlungen, die wir für die Gasimporte leisten, füllen wir ja die Putin’sche Kriegskasse, immerhin knapp 200 Millionen Dollar pro Tag. Aber der Krieg eskaliert weiter. So kann es einerseits sein, dass Putin den Hahn zudreht – letztlich das einzige Mittel, mit dem er ökonomisch reagieren kann. Aber auch Europa könnte sagen, wir stoppen die Lieferungen, um Putin von Devisen abzuschneiden. Das wäre die nächste Eskalation der Sanktionen.
Polen forderte bereits am Mittwoch, Lieferungen von Öl, Gas und Kohle aus Russland zu stoppen. Derzeit lassen es die Sanktionen aber noch zu, dass Geldhäuser wie die Gazprom-Bank weiter Gaszahlungen mit Europa abwickeln.
Ja. Falls aber die Lieferungen aus Russland komplett gestoppt würden, wird das weitreichende Konsequenzen haben. Wegen unserer Abhängigkeit bedeutet das, dass wir die Gasspeicher in den nächsten Monaten nicht auffüllen können, um unbeschwert über den kommenden Winter zu kommen. Die Lücke würde dann in Europa bei rund 400 Terawattstunden liegen. Das heißt, die Nachfrage müsste um 10 bis 15 Prozent gedrosselt werden.
Betroffen wären davon nach geltenden Regeln vor allem Industriebetriebe, nicht Privatkunden. Dennoch: Wie ließe sich so ein Ausfall kompensieren?
Beim derzeitigen Stand könnte das wahnsinnig teuer für uns werden. Aber: Russland ist ja auch abhängig von den Deviseneinnahmen durch seine Rohstoffe. 43 Prozent der Staatseinnahmen kamen im vergangenen Jahr aus Öl und Gas. Die Sanktionen gegen die russische Zentralbank haben bereits dazu geführt, dass die Devisenreserven des Landes in Höhe von über 600 Milliarden Dollar auf Eis liegen. Der Rubel schmierte in der Folge auf den Finanzmärkten ab. Aber die laufenden Einnahmen können noch von Russland als Devisen genutzt werden. Russland verkauft derzeit über die Hälfte seiner Produktion nach Europa. Für Moskau droht also eine akute Situation: Sie sitzen auf Gas und brauchen Devisen. Der offensichtliche Kandidat ist China. Fraglich ist, wie das technisch gehen könnte.
Es gibt eine Pipeline zwischen Russland und China, die bei Weitem nicht ausgelastet ist. Beim Besuch von Präsident Putin in Peking vor einem Monat wurde eine Ausweitung der Energielieferungen mit China vereinbart.
Wenn das gelingt, erleichtert es uns die Suche nach Energie auf den Weltmärkten: Gas, das bislang zum Beispiel von Australien oder Indonesien nach China geliefert wurde, könnte dann nach Europa umgeleitet werden. Wenn wir Glück haben, wird es dann nicht so teuer. Allerdings: Falls ein Lieferstopp eintritt, werden die Gaspreise auf jeden Fall weiter stark steigen. Dabei haben sie sich seit letztem Jahr bereits versechsfacht.
Warum sollte Russland sein lange erfolgreiches Geschäftsmodell – Energie gegen Devisen – auf einmal aufgeben?
Putin hat bereits mit Atomwaffen gedroht, auf wirtschaftlicher Ebene wäre ein Stopp der Energieexporte eine Art Äquivalent dazu. Vielleicht denkt der Kreml ja auch, für eine gewisse Zeit ohne Importe aus dem Westen auszukommen. Ein Ende der Energielieferungen wäre für alle Seiten unbequem – auch für Russland.
Die Bundesregierung denkt derzeit auch über eine Laufzeitverlängerung für Atom- oder Kohlekraftwerke nach. Klima-fragen müssten hinter der Versorgungssicherheit zurückstehen, sagt Wirtschaftsminister Habeck.
Dort werden derzeit alle Szenarien durchgespielt. Es geht dabei nicht um ideologische Fragen. Die AKW-Betreiber haben lange gesagt, eine Verlängerung der Laufzeiten wäre technisch schwierig. Nun sagen sie, sie denken noch mal nach. Fraglich ist, ob es zu vertretbaren Kosten und Risiken geht.
Und bei der Kohle?
Das Vorziehen des Datums des Kohleausstiegs von 2038 auf 2030 stand ja immer unter dem Vorbehalt, dass die Versorgungssicherheit gewährleistet werden muss. Kohle und Atom sind beim Heizen und bei der Versorgung der Industrie aber nicht die Gamechanger. Wir brauchen dafür Gas und Öl. Das ist derzeit die entscheidende Frage: Wo kriegen wir das her und zu welchem Preis?
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