Nach dem Stopp von Nord Stream 2: Reicht das Gas in Europa?

Selbst wenn Russland die Gaslieferungen stoppte, würden wir über den Winter kommen. Ein Totalausfall wäre schwieriger zu verkraften.

Erdgasübernahmestation Lubmin Foto: Bloomberg/getty

BERLIN taz | Wladimir Putin will weiter liefern: „Russland beabsichtigt, die ununterbrochenen Lieferungen dieses Rohstoffs, einschließlich des Flüssiggases, an die Weltmärkte fortzusetzen“, sagte Russlands Staatschef am Dienstag. Kurz zuvor hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt, den Zertifizierungsprozess für die umstrittene Ostseepipeline Nord Stream 2 auf Eis zu legen.

Die elf Milliarden Euro teure Gasröhre zwischen Russland und Deutschland ist eigentlich seit dem Sommer betriebsbereit – und nun Teil der Sanktionen, die Deutschland und die EU am Dienstag ausgesprochen haben, um auf die Anerkennung der Separatistengebiete in der Ostukraine durch Russland zu reagieren.

Er habe das Bundeswirtschaftsministerium angewiesen, eine Neubewertung der Versorgungssicherheit vorzunehmen, die Grundlage für eine Zertifizierung und die Betriebserlaubnis für das Projekt ist. „Das wird sich sicher hinziehen“, sagte Scholz.

Die Streit um die Pipeline zeigt, wie abhängig Europa von russischem Gas ist. Zwar hat Russland in den vergangenen Jahrzehnten immer auch bei harten Konflikten mit dem Westen vertragstreu geliefert. Dennoch zeichnet sich derzeit eine beunruhigende Entwicklung ab.

40 Prozent des Gases kommt aus Russland

Europa bezieht derzeit etwa 40 Prozent seines Gasbedarfs aus Russland. Ein Stopp der Lieferungen als russische Gegenmaßnahme auf westliche Sanktionen würde den Kontinent und Deutschland, das sogar etwas über die Hälfte seiner Lieferungen aus Russland bezieht, hart treffen.

Leisten könnte sich Russland einen Lieferstopp. In Folge eines Krieges würde auch der Preis für Öl steigen, ein Produkt, das Russland auch an andere Länder als Europa verkaufen kann. Die Zuspitzung der Ukrainekrise ließ am Dienstag den Ölpreis weiter steigen. Brent-Öl aus der Nordsee verteuerte sich in der Spitze auf 97,66 Dollar pro Barrel – den höchsten Stand seit September 2014.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Gasspeicher in Europa derzeit weniger gut gefüllt sind als in einem normalen Jahr. Das liegt nicht zuletzt an Russland respektive Gazprom. Die Speicher des russischen Konzerns in Europa sind nur zu 16 Prozent gefüllt – die Speicher anderer Konzerne noch zu 44 Prozent. Ein EU-Dokument zum Energiemarkt kommt daher zum Schluss, Gazprom zeige „ein ungewöhnliches Geschäftsgebaren“.

Nach Berechnungen des Branchendienstes S&P Global Platts, die dem Spiegel vorlagen, hat Russlands Hauptexporteur Gazprom 2021 nur knapp 130 Milliarden Kubikmeter Gas nach Europa geliefert. Dies seien rund 31 Prozent weniger als durchschnittlich in den fünf Jahren davor. Anfang 2022 seien die Lieferungen sogar noch etwas zurückgegangen.

Gazprom erfülle zwar derzeit seine langfristigen Lieferverträge, verkaufe aber anders als sonst kein zusätzliches Gas am Spotmarkt, berichtet das Magazin weiter. Nach aktuellen Zahlen des europäischen Verbandes Gas Infrastructure Europe beträgt die Füllmenge der deutschen Gasspeicher insgesamt derzeit noch rund 31 Prozent.

In diesem Winter auf der sicheren Seite

Europa ist allerdings nicht ganz unvorbereitet. Seit dem Jahr 2005 haben sich die Kapazitäten für den Import von Flüssiggas verdreifacht. Im Jahr 2011 wurde eine zweite Pipeline von Algerien nach Spanien eröffnet, im Jahr 2020 wurde das letzte Teilstück des „Südlichen Gaskorridors“ fertiggestellt, durch den Gas aus Aserbaidschan nach Europa gelangt.

Außerdem hat die EU die Verbindungen zwischen ihren Mitgliedsländern ausgebaut, sodass die meisten Gas nun aus verschiedenen Richtungen beziehen können. Die Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, sagte daher in der vergangenen Woche auf der Münchner Sicherheitskonferenz: „Selbst bei einer völligen Unterbrechung der Gasversorgung durch Russland sind wir diesen Winter auf der sicheren Seite.“ Das war nicht immer klar. Wenn der Winter deutlich kälter gewesen wäre, wären heute die Gasspeicher noch deutlich leerer.

Diese beruhigende Prognose bedeutet allerdings nicht, dass es nicht in einzelnen Ländern doch zu Problemen kommen kann. Insbesondere im Osten der EU ist die Infrastruktur immer noch darauf ausgelegt, dass der größte Teil des Gases durch Belarus oder die Ukraine kommt. Eine Komplettversorgung aus Westeuropa ist hier nicht vorgesehen. Und dann ist in der EU Gas nicht gleich Gas. Im Nordwesten Europas wird „L-Gas“ genutzt, im Rest Europas „H-Gas“, das deutlich mehr Methan und damit Energie enthält. Weil die Infrastruktur auf die jeweilige Gassorte ausgerichtet ist, lässt sich das eine nicht problemlos durch das andere ersetzen.

Sollte Europa mehrere Jahre kein russisches Gas importieren, sähe die Lage dramatischer aus. Eine Studie des belgischen Thinktanks Bruegel warnt: „Auf der Angebotsseite sind zwar einige freie Importkapazitäten vorhanden, doch wäre es im besten Fall sehr teuer und im schlimmsten Fall physisch unmöglich, die russischen Mengen vollständig zu ersetzen.“

Das Hauptproblem beim Angebot ist die Verfügbarkeit von Flüssiggas (LNG). Wegen des hohen Gaspreises laufen die Anlagen zur Verflüssigung bereits an der Kapazitätsgrenze, auch LNG-Tanker sind knapp. Zudem haben sich Länder in Asien einen Großteil des verfügbaren Flüssiggases über langfristige Verträge gesichert.

Mehr Gas aus Algerien und Libyen

Auch beim Pipelinegas gibt es keine großen ungenutzten Potentiale. Einzig aus Algerien und Libyen ließe sich deutlich mehr Gas beziehen als heute. Die Produktion steigern könnte auch das niederländische Gasfeld Groningen. Dort wird aber derzeit die Produktion gedrosselt, um Erdbeben zu verhindern.

Folglich müsste die Nachfrage sinken. Hier besteht die Möglichkeit, bei der Stromerzeugung Gas durch Öl oder Kohle zu ersetzen oder Atomkraftwerke länger laufen zu lassen.

Zudem ließe sich in der Industrie Gas einsparen, indem besonders gasintensive Industrien die Produktion aussetzen. Außerdem ließen sich durch Verhaltensänderungen Einsparungen erzielen.

Auch ohne Lieferstopp dürfte der Ukrainekonflikt für EnergieverbraucherInnen teuer werden, meint Clemens Fuest, Chef des Münchner Ifo-Instituts: Im Falle eines bewaffneten Konflikts „würde es zumindest vorübergehend zu einem Preisschock kommen“, sagt Fuest. Aktuell liegt der TTF-Gaspreis in den Niederlanden bei rund 75 Euro pro Megawattstunde und damit fünfmal so hoch wie im Jahr 2020. Wie hoch der Preis steigen kann, zeigt eine kurzfristige Preisspitze im Dezember: Damals kostete Gas 166 Euro. Am Dienstag zogen die maßgeblichen Gashandelspreise um bis zu 12 Prozent an.

Mehr Erneuerbare

Langfristig setzt die EU auf den Ausbau der Erneuerbaren, um die Abhängigkeit von importiertem Gas zu reduzieren. „Die beste Lösung für mehr Energiesicherheit und für tiefere Preise ist die beschleunigte Umsetzung des europäischen Green Deal“, schreibt die EU in ihrer Analyse des Energiemarkts. „Jedes Windrad und jedes Solarpaneel reduziert sofort die Abhängigkeit von Gasimporten.“

Auch Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) sagte am Dienstag, es könnte kurzfristig ein Ansteigen der Gaspreise geben. Das hänge auch davon ab, wie sich das Angebot entwickle. Zugleich betonte Habeck, Deutschland sei „versorgungssicher“.

Krieg treibe Preise nach oben, sagte Habeck. Es sei wichtig, die Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Deutschland müsse möglichst schnell aus fossilen Energieträgern aussteigen. Daher sollten die erneuerbaren Energien schnell ausgebaut werden. Deutschland müsse sich unabhängig machen von der „Preis- und Kriegstreiberei“ anderer Länder.

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