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Ökonom Hüther über die Schuldenbremse„Investieren in den Klimaschutz“

Der Ökonom Michael Hüther fordert den Ausbau von Infrastruktur und eine Dekarbonisierung der Wirtschaft. Dafür müsse die Schuldenbremse ausgesetzt werden.

Das Hochwasser im Süden Deutschlands hat viel Infrastruktur zerstört. Der Wiederaufbau wird teuer Foto: Michael Probst/ap
Simon Poelchau
Interview von Simon Poelchau

taz: Michael Hüther, haben Sie am Mittwoch vergangener Woche einen Blick in die Frankfurter Allgemeine Zeitung geworfen?

Michael Hüther: Warum?

Das Bundesfinanzministerium hat am Mittwoch in der Zeitung für die Schuldenbremse geworben. In der Anzeige war eine junge Frau zu sehen. Über ihr stand in großen Buchstaben: „Schuldenbremse abschaffen? Nich’ okay, Boomer!“ Was halten Sie von dieser Art von Werbung?

Mich überzeugt diese Werbung nicht.

Im Interview: Michael Hüther

ist Direktor des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft. Zudem ist er Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Wirtschaftsrats der CDU.

Warum?

Die Zukunft der jungen Generation wird von vielen gegenwärtigen Entscheidungen geprägt. Da geht es auch um notwendige Investitionen für eine Dekarbonisierung und eine nachhaltige Wirtschaftsentwicklung. Wer nur die Staatsfinanzen im Blick hat, denkt zu eng und zu kurz.

Belasten wir nicht mit den Schulden von heute künftige Generatio­nen?

Wir haben aber auch große Aufgaben zu erfüllen. Wir müssen die Dekarbonisierung jetzt in Angriff nehmen und die öffentliche Infrastruktur dafür fit machen. Das sind wichtige Investitionen, von denen vor allem künftige Generationen profitieren werden. Gleichzeitig ist eine zweite große Aufgabe hinzugekommen: Wir müssen unsere Verteidigungsfähigkeit sicherstellen. Und dafür werden mittelfristig die aktuellen 2 Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts mutmaßlich nicht ausreichen. Auch das wird den Haushalt nachhaltig belasten.

Und beide Aufgaben sind nur mit einer Reform der Schuldenbremse zu bewerkstelligen?

Mein Vorschlag lautet, einen kreditfinanzierten Infrastrukturfonds einzurichten – ähnlich dem Sondervermögen für die Bundeswehr. Das wäre einfacher umsetzbar als eine Reform der Schuldenbremse. Zudem könnte mit einem solchen Infrastrukturfonds transparent und immer nachvollziehbar festgelegt werden, wofür die Kredite verwendet werden.

Wie groß müsste dieser Infrastrukturfonds sein?

Zusammen mit dem Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) haben wir berechnet, dass in den nächsten zehn Jahren staatlicherseits zusätzliche Investitionen von insgesamt rund 600 Milliarden Euro notwendig sind, um die öffentliche Infrastruktur und Wirtschaft zukunftsfähig zu machen.

Wofür braucht es das Geld genau?

Rund 200 Milliarden Euro veranschlagen wir für öffentliche Investitionen in den Klimaschutz. Eine weitere Herausforderung ist, den seit Jahren bei Städten und Gemeinden aufgelaufenen Sanierungsstau aufzulösen. Auch für Bildung, Wohnungsbau, den ÖPNV, Schiene, Straßen und Digitalisierung werden in den nächsten Jahren Milliardeninvestitionen notwendig sein.

Halten Sie auch angesichts der aktuellen Flutkatastrophe in Süddeutschland eine Ausnahme von der Schuldenbremse für sinnvoll?

Nein, halte ich nicht. Die Folgen einer Flut zu mindern, muss in Härtefällen aus den laufenden Haus­halten kommen. Darüber hinaus mahnt die Katastrophenlage, wie wichtig es ist, in Infrastruktur und Vorsorge zu investieren.

2019 bezifferten Sie den öffentlichen Investitionsbedarf noch auf 460 Milliarden Euro. Jetzt ist es fast ein Drittel mehr. Was ist der Grund für diese Kostenexplosion?

Zum einen liegt das an der Inflation, die Baupreise sind um 40 Prozent gestiegen. Zum anderen sind insbesondere Investitionen in den Klimaschutz und Klimaanpassungsmaßnahmen zwischenzeitlich noch dringlicher geworden. Auch hat der Verfall der öffentlichen Infrastruktur der Rhetorik aller Finanzminister zum Trotz weiter zugenommen. Und wenn Brücken gesperrt und Straßen kaum mehr befahren werden können, schadet dies dem Standort.

Wie ist es im internationalen Vergleich? Investieren EU-Länder wie Österreich, Frankreich und Italien mehr?

Deutschland liegt bei den öffentlichen Investitionen seit rund 20 Jahren deutlich unter dem EU-Durchschnitt. Das konnte man zwar relativ lange überdecken. Doch der Verschleiß ist jetzt offensichtlich.

Trotzdem wendet Finanzminister Christian Lindner ein, dass die Schuldenbremse eine Inflationsbremse sei. Wenn der Staat mehr Geld ausgibt, würde er damit die Inflation anheizen. Stimmt das nicht?

Der Staat heizt die Inflation sicherlich nicht an, wenn er investiert und den volkswirtschaftlichen Kapitalstock erhöht. Stattdessen wird er damit mittelfristig den strukturellen Inflationsdruck senken, denn eine dysfunktionale öffentliche Infrastruktur macht die Produktion von Waren und Dienstleistung teurer. Das treibt die Preise – wie bei der Bahn zu beobachten – nach oben. Insofern ist die Schuldenbremse derzeit eine Investitions- statt eine Inflationsbremse. Und sie ist auch eine Steuersenkungsbremse.

Warum hält Lindner dann aller ökonomischen Vernunft zum Trotz an der Schuldenbremse fest?

Die Schuldenbremse scheint zum Markenkern der FDP geworden zu sein. Das macht die Abwägung, wie die öffentlichen Aufgaben finanziert werden können, schwer. Der Bundeshaushalt hat jetzt schon eine Lücke von 25 Milliarden Euro. Gleichzeitig werden die Verteidigungsausgaben steigen müssen. Für Transforma­tionsaufgaben sehe ich da keine zusätzlichen Spielräume.

Lindner behauptet, dass dafür dann an anderer Stelle gespart werden muss.

Das widerspricht aber dem Prinzip der demokratischen Verlässlichkeit. Budgets werden erstellt, weil der Staat damit Aufgaben erfüllt. Deswegen kann man den Haushalt nicht einfach mal um 30 Prozent kürzen.

Der Bundesrechnungshof mahnte bei Finanzminister Christian Lindner jüngst an, Vergünstigungen bei der Mehrwertsteuer abzuschaffen. Damit würde der Staat jährlich rund 35 Milliarden Euro mehr einnehmen. Ließe sich damit nicht die eine oder andere Lücke schließen?

Wir haben derzeit eine der höchsten Steuerquoten seit der Wiedervereinigung. Deshalb sollte man jetzt nicht steuerpolitisch draufsatteln. Das ist ökonomisch nicht tragfähig. Die Investitionen sind schwach und der private Konsum erholt sich derzeit nur zaghaft.

Gesamtmetall-Chef Stefan Wolf sprach jüngst sogar von einer bereits beginnenden Deindustrialisierung, die tausende Arbeitsplätze kosten werde. Ist die Situation wirklich so dramatisch?

Die Gefahr droht. Wir werden aber erst mit einer großen Zeitverzögerung feststellen können, ob es tatsächlich aufgrund derzeitiger Kosten- und Kapazitätsprobleme zu Standortverlagerungen gekommen ist. Dass der Anteil der Industrie an der Wertschöpfung tendenziell sinkt, ist für sich noch kein Problem. Aber auf mittel- bis langfristige Sicht besteht die Gefahr, dass die Wirtschaft Schaden nimmt. Denn jetzt werden in Bezug auf die Dekarbonisierung Investitionsentscheidungen für die nächsten 10, 15 Jahre getroffen. Das betrifft vor allem energieintensive Bereiche wie die Chemie-, Stahl- oder Papierindustrie. Und da sind die Rahmenbedingungen gerade wirklich nicht gut. Deshalb müssen wir das Risiko jetzt ernst nehmen.

Vor einem Jahr schlug Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) einen Brückenstrompreis vor, um der energieintensiven Industrie die Transformation zu erleichtern.

Leider ist der Brückenstrompreis wieder vom Tisch. Er war eine überzeugende Idee, weil er die Politik an ihr eigenes Versprechen bindet. Er hätte Investoren eine langfristige Planungssicherheit bei den Strompreisen garantiert.

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16 Kommentare

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  • Hochinteressant, die Werbung neben diesem Artikel.

  • Widerspruch: Wer neue Kredite fordert, erhöht zwar das Geldvermögen, aber sorgt gleichzeitig für dessen Entwertung=Inflation. Dieser fatale 'Kreislauf' schadet vor Allen denjenigen, die eh' nichts haben, sie werden proportional noch ärmer und gleichzeitig verlieren diejenigen, die glauben, noch etwas zu haben. Der einzige Weg -und das müssen Letztere aus eigenem Interesse verstehen lernen, ist ihr noch etwas werthaltiges Vermögen in das Klimakatastrophen-Dämpfungsprojekt zu stecken: Da bleiben die Investitionen werthaltig, so dass niemand verliert, im Gegenteil tun sie etwas für ein Überleben und die Chance auf eine Zukunft. Dieses muss, um wirksam zu werden, ein gigantisches Projekt werden, das nicht von institutionellen Anlegern oder Banken beherrscht wird, sondern nach einem Gemeinwohlprinzip von Verbraucherorganisationen, Stadtwerken und anderen Verbänden, denen es eben nicht hauptsächlich um Geldvermehrung, sondern um die Rettung des Gemeinwesens geht. Hier sind Initiativen privater Anleger und Klimaaktivisten gefordert, zu retten, was sonst nicht mehr zu retten wäre.

  • Was nicht angesprochen wird:



    Steuerverluste durch Nichtbesteuerung multinationaler Unternehmen.



    Auch die geplante globale Mindestbesteuerung von 15% ist unfair für alle wirklich in Deutschland produzierenden Betriebe und enthält weiter viele Schlupflöcher zur Steuerhinterziehung.

    Arte zeigt dazu grad eine gute Recherche:



    www.ardmediathek.d...LzEwNjcxMS0wMDAtQQ

  • Christian Lindner scheint seinem Handeln und seiner Rhetorik nach das Wort "Opportunitätskosten" noch nie gehört zu haben.

  • > Nich okay, Boomer

    Echt jetzt, FDP?



    Es gibt nur wenige Dinge in der aktuellen deutschen Politik, die noch boomeriger sind als die Schuldenbremse der Schwarzen Null Wolfgang S.… Der Tanz der Christenparteien um das Goldene Atom fällt mir ein, aber sonst?

  • Was Herr Hüther auch weiss, ist, dass der Brückenstrompreis nur durch höhere Kosten bei privaten Haushalten und bei Unternehmen finanzierbar wäre, die tatsächlich in effizientere Systeme investiert haben. Dh. man subventioniert u.a. die, die sich um eigene Investitionen drücken. Besser wäre es, Abschreibungen auf die notwendigen Investitionen bei Großverbrauchern zu erleichtern. Der Staat schenkt indischen Milliardären in der deutschen Stahlindustrie 2 Mrd, ohne irgend welche verbindlichen Zusagen von Seiten der Stahlindustrie. Das wären dann schon die ersten 2 Mrd der geforderten 600 Mrd. Einfach mal mit der Verschwendung aufhören. Und zielgerichtet, nachvollziehbar und mit verbindlichen Zusagen der Subventionsempfänger investieren.

  • Das Wort "Investieren" sollte bei Neoliberalens doch mal in den Kopf gedrungen sein.



    Und wer da nicht Schulden aufnehmen will, passt die Steuern für Syltkumpels eben mal angemessen wieder an und investiert für uns viele alle und die Zukunft wieder.

    • @Janix:

      Investieren macht oft Sinn, die haben es eher mit Verplempern und Pampern von denen, die ohnehin zu viel haben.

  • Jede(r) politisch interessierte Mensch weiss, dass schnell mehr Geld in die Projekte fließen muss, um sie noch nachhaltig nutzen zu können. Ansonsten wird es nur eine Flickschusterei immer größerer Löcher werden. Leider verhindern manche Verantwortliche aus wahltaktischen Gründen bis jetzt noch das klare Bekenntnis zur Zukunftsinvestition.

    • @vieldenker:

      Schleswig-Holsteins Dank geht an die CSU-Verkersminister Ramsauer, Dobrindt und Scheuer für die kaputtgesparteste Bahninfrastruktur in ganz Deutschland. ¯\_(ツ)_/¯

  • Das schoene an dem Umbau zu Erneuerbaren ist... es ist wie eine Lawine die das ganze systhem erfasst, erst allmaehlich und dann immer staerker.

    Waeren E/Pkw in der lage den Strom auch abzugeben und waeren diese der naechsten Fahrt entsprechend eingestellt das Potenzial waere riesig.

    Ich habe mal bei Vattenfall gearbeitet. Eine Frau war ganz stolz eine grosse Solaranlage gekauft zu haben fuer rund 38000 mit einem 23kwh Speicher... mein Sprinter hat mehr als das Dopellte an KWH und hat gebraucht wenigerl als die haelfte gekostet.

    Ein E Auto mit 50kwh Speicher aufwaerts kann locker 50% wieder abgeben

    Man stelle sich vor Nachbarn verschenken untereinander Strom und teilen sich Speicherkapazitaeten... Stromkommunismus sozusagen und von dem gesparten Geld wird das dann noch ausgebaut indem neue E Autos die Verbrenner ersetzen, PV Anlagen die Daecher pflastern usw.

    Wenn in jedem Haushalt mind 1 Elektroauto ist auf dem Land plus noch eine Batterie hier und da verbaut ist das wie ein Schwamm der ueberschuessige EE speichern kann.

    • @sociajizzm:

      Ja, richtig. das ist die Idee an der wir arbeiten. Nur noch wenige Monate und es wird so sein. Das ist nicht nur Energieumverteilung. Das ist Machtumverteilung. Aber die Macht geht doch Volke aus, oder?

  • Während Banken im Rahmen der Neoliberalisierung Geld (Kredite) verleihen dürfen, das sie gar nicht besitzen und sich dadurch die größte Schuldenblase aller Zeiten auftut, hält die FDP eisern daran fest, daß sich der Staat nicht weiter verschulden dürfe..

    Im Ergebnis führt dies aber vor allem dazu, daß die Superreichen über extrem viel (virtuelles) Geld verfügen..eben jenes Geld das den Staaten (weltweit) für die so wichtigen Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Klimaschutz fehlt.

    Beim heutigen Stand der Finanz- Weltwirtschaft ist die Schuldenbremse also vor allem eines, nämlich der Schutz der Kapitalinteressen der Superreichen. In letzter Konsequenz also das was wir von der FDP gewohnt sind: Klientelpolitik und Umverteilung von unten nach oben...

    • @Wunderwelt:

      Der Staat kann sich ja weiter verschulden und macht es auch. Er kann die Schulden pro Jahr aber nicht unendlich ausdehnen. Was ist daran so schwer zu verstehen?

      Im Übrigen dürfen deutsche Banken kein Geld verleihen, dass sie nicht besitzen. Was sie da behaupten ist einfach falsch.

      • @Bommel:

        "Um Übrigen dürfen deutsche Banken kein Geld verleihen, dass sie nicht besitzen. Was sie da behaupten ist einfach falsch".

        -> googlen Sie mal den Begriff: *Eigenkapitalquote*

        • @Wunderwelt:

          Die Banken verleihen nur an die, die auch Zinsen und Tilgung bezahlen können und wollen. Jeder notleidende Kredit vermindert Gewinn und damit Dividende und Aktienkurs.



          Auch der Staat kann nur solange Geld leihen, wie man ihm zutraut, die Zinsen voll bezahlen zu können 》aus unseren Steuern, nicht durch neue Kredite. Sobald ein paar glaubwürdige Personen dem Staat unterstellen, er betreibt ein Schneeball- System, ist Schluss mit Lustig.



          Nein, all diese vielen Aufgaben muss der Staat mit höheren Steuern und Einsparungen bezahlen. Das Goldene Zeitalter ist vorbei! Jetzt müßte jeder den Gürtel enger schnallen.



          Natürlich mag ein Kredit für plötzliche Kurswechsel vernünftig sein. Aber für je 100€ Schulden im Jahr 1 braucht man 5 € Steuererhöhung in den Jahren 2 bis 26 für Zinsen und Tilgung.



          Einige behaupten, der Staat kann durch Wirtschaftswachstum und Inflation aus den Schulden heraus wachsen.



          Ob es das Wachstum gibt ist zweifelhaft, höhere Steuern ist ehrlicher als Inflation.