Öffnung von Schulen und Kitas: NRW prescht vor
Wissenschaftler:innen der Leopoldina empfehlen eine möglichst schnelle Rückkehr zum normalen Unterricht. Die meisten Länder halten sich bedeckt.
Seit Mitte März sind sämtliche Bildungseinrichtungen im ganzen Land wegen der Corona-Pandemie geschlossen, nur in Ausnahmefällen gibt es eine Notfallbetreuung für Kinder, was viele Familien vor erhebliche Herausforderungen stellt. Als Datum einer möglichen Rückkehr zum regulären Schul- und Kitabetrieb wurde auch deshalb früh der 20. April, der Montag nach den Osterferien, genannt. Nun steht dieser Stichtag bevor.
Wie diese Rückkehr jedoch konkret aussehen könnte, ist alles andere als entschieden. Die Bundesländer haben in den vergangenen Tagen unterschiedliche, zum Teil konträre, Szenarien ins Spiel gebracht. Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) etwa verkündete als erster, am Tag eins nach den Osterferien den Unterricht wiederaufzunehmen: Sämtliche Abschlussklassen in Gymnasien, Ober- und Sonderschulen dürfen ab kommender Woche wieder in die Schule.
Die baden-württembergische Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) hingegen mahnte am Samstag im „Deutschlandfunk“, dass die Wiederaufnahme des regulären Unterrichts nicht ohne eine angemessene Vorbereitungszeit möglich sei, sprach sich aber auch für eine schrittweise Regelung aus. Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) kann sich vorstellen, zuerst Kitas und Grundschulen wieder zu öffnen. Und Niedersachsens Kultusminister Grant Hendrik Tonne (SPD) stellte in Aussicht, zumindest die älteren Schüler:innen zurück in die Schulen zu lassen – schloss aber auch nicht aus, die niedersächsischen Schulen bis zu den Sommerferien nicht mehr zu öffnen.
Handreichung von der Wissenschaft
Eigentlich wollten die 16 Kultusminister:innen am Dienstag über ein gemeinsames Vorgehen beratschlagen. Am Dienstagvormittag hieß es dann auf Nachfrage, die Telefonschalte finde nicht statt. Man wolle dem Gespräch zwischen Kanzlerin und den Länderchefs nicht vorgreifen. Am frühen Dienstag Abend dann legte Nordrhein-Westfalen seinen eigenen Fahrplan vor: Ab Montag sollen die Schulen, danach schrittweise auch die Kitas wieder geöffnet werden, verkündeten Schulministerin Yvonne Gebauer und Familienminister Joachim Stamp (beide FDP).
Mit dem Vorpreschen NRWs wird die Abstimmung für Merkel und die Ministerpräsident:innen am Mittwoch nicht unbedingt leichter. Am Montag hatten sie bereits eine Handreichung von der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina bekommen. Darin empfahlen die 26 Wissenschaftler:innen in einer Ad-hoc-Stellungnahme eine rasche Rückkehr zum regulären Unterricht.
„Die Wiedereröffnung der Bildungseinrichtungen sollte sobald wie irgend möglich erfolgen, und zwar schrittweise und nach Jahrgangsstufen differenziert“, heißt es in der Stellungnahme. Die Schulschließungen führten zu einem „Rückgang der Betreuungs-, Lehr- und Lernleistungen“, heißt es als Begründung. „Zu befürchten ist auch, dass die Krise die in Deutschland ohnehin stark ausgeprägte soziale Ungleichheit in Bezug auf Zugänge zu Betreuung und Unterricht sowie in Bezug auf Lernleistungen und Bildungserfolge verstärkt.“
Konkret schlagen die Wissenschaftler:innen vor, unter Wahrung besonderer Schutzmaßnahmen zunächst die Grundschulen und die Sekundarstufe I zu öffnen. So sollen Grundschulkinder unter anderem Nasen-Mund-Schutz tragen, zunächst nur in den Kernfächern Mathe und Deutsch, sowie zeitversetzt und in deutlich reduzierter Klassengröße (maximal 15 Kinder) unterrichtet werden. Beginnen sollen die vierten beziehungsweise sechsten Klassen, deren Schüler:innen im Herbst auf eine weiterführende Schule kommen.
Kitas sollen geschlossen bleiben
Analog dazu empfiehlt die Leopoldina, zunächst nur die 5- und 6-Jährigen wieder in die Kita zu schicken, die vor einem Übertritt in die Grundschule stehen. Hier soll die Gruppe aus maximal 5 Kindern bestehen. Für alle übrigen Kinder sollten die Horte und Kindertagesstätten bis zu den Sommerferien geschlossen bleiben und lediglich eine Notbetreuung anbieten.
Weniger dringlich ist nach Ansicht der Leopoldina die Wiederaufnahme des Regelunterrichts der älteren Schüler:innen. „Da die Möglichkeiten des Fernunterrichts mit zunehmendem Alter besser genutzt werden, kann die Rückkehr zum gewohnten Face-to-Face-Unterricht in höheren Stufen des Bildungssystems weiter hinausgeschoben werden“, heißt es dazu in der Stellungnahme. Oder anders formuliert: Wer in die Oberstufe geht, muss sich auf ein verlängertes Homeschooling einstellen, Studierende gar auf ein weitgehend digitales Sommersemester.
Die Empfehlungen der Leopoldina stoßen auf gemischte Reaktionen: Bundesbildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bezeichnete sie am Montag als „exzellente Beratungsgrundlage“ für die anstehenden Entscheidungen von Bund und Ländern, hält aber eine rasche Umsetzung für ausgeschlossen: „Es wird längere Zeit dauern, bis an den Schulen wieder normaler Unterricht stattfinden kann.“ Oberstes Ziel bleibe, die Ansteckungsgefahr zu reduzieren und Risikogruppen zu schützen.
Weniger überzeugt von dem Fahrplan zeigt sich die GEW-Vorsitzende Marlis Tepe. Die Empfehlungen der Akademie bezeichnete sie am Dienstag als „bedingt hilfreich“: Viele Vorschläge gingen an der Realität in den Bildungseinrichtungen vorbei. So seien an vielen Schulen weder die räumlichen Gegebenheiten ausreichend, um den Mindestabstand einzuhalten. Noch sei mit der personellen Ausstattung ein in irgendeiner Form gearteter „Schichtbetrieb“ möglich.
Kritik auch von Abiturient:innen
Zudem fehlte Material wie Schutzmasken und Desinfektionsmittel. Auch stellten die Ansteckungsgefahr der Schulkinder in Bus und Bahn sowie mit Risikopersonen ungelöste Probleme dar. „Öffnet man Schulen und Kitas nur für ‚gesunde und mobile‘ Kinder und Jugendliche, kommt es zu zusätzlichen Benachteiligungen“, warnt Tepe.
Auch viele der Betroffenen sehen die Schulöffnungen kritisch. „Unter den gegebenen Umständen halten wir Unterricht für unverantwortlich“, sagt etwa Thorsten Riedel am Telefon. Der 21-jährige Berufsschüler aus Siegburg in Nordrhein-Westfalen ist Teil einer Initiative, die Durchführung von Abschlussprüfungen in diesem Jahr wie in Hessen ablehnen.
Unter dem Hashtag GerechteAbschlüsse hat sich binnen weniger Tage eine bundesweite Gruppe an Schüler:innen zusammengetan und einen offenen Brief an alle Kultusminister:innen und Ministerpräsident:innen verschickt – so wie es auch viele andere Schülerinitiativen in den vergangenen Tagen gemacht haben. Ihr Ziel: Die bundesweit uneinheitlichen und damit unfairen Prüfungsbedingungen anprangern – und die Ministerien dazu zu bringen, die Abiturnoten aus den bisher erbrachten Leistungen zu errechnen. Das sogenannte Durchschnittsabitur ist jedoch nicht das einzige Ziel der Abiturient:innen.
„Eine in unserer Gruppe hat Asthma“, erzählt Thorsten Riedel. „Wir hoffen deshalb, dass die Schulen ganz geschlossen bleiben.“ Ausgerechnet die Empfehlungen der Leopoldina gibt ihm Hoffnung. „Die sind ja dafür, erst die Grundschulen zu öffnen. Wenn die weiterführenden Schulen erst mal geschlossen bleiben, wird es immer enger mit der Vorbereitung auf die Abiprüfungen.“ Dann müssten die Minister:innen irgendwann einsehen, dass die Prüfungsbedingungen unfair seien.
Hickhack um Abiturprüfungen
Vor allem die unterschiedliche Handhabung in den Ländern stört Riedel und viele andere Abiturient:innen. Manche Länder haben die Prüfungstermine nach hinten verschoben, andere nicht. Zwischenzeitlich brachte die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, Karin Prien (CDU), auch ins Spiel, die Prüfungen in ihrem Bundesland ausfallen zu lassen.
Nun ist die Frage, ob die Länder bei der Rückkehr zum regulären Unterricht an einem Strang ziehen. Dabei ist längst nicht klar, ob alle den Leopoldina-Vorschlägen folgen wollen. Das Robert Koch-Institut (RKI) rät zum Beispiel genau das Gegenteil: zuerst wieder die Schulen für die höheren Jahrgänge zu öffnen.
Es gehe dabei um die Annahme, dass Jugendliche Abstandsregeln besser einhalten könnten, sagte RKI-Präsident Lothar Wieler. Das sei eine Entscheidung der Politik. Es gebe Gründe dafür und dagegen.
Mal darf also gespannt sein, worauf sich die Länder einigen – und ob die Regeln dann auch bundesweit gelten.
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