Neuer Verfassungsschutzbericht: Extreme nehmen zu
Der Verfassungsschutz sieht in seinem neuen Jahresbericht Gefahren in allen Bereichen. Der neurechte Antaios-Verlag ist nun „gesichert rechtsextrem“.
Die meisten Personen stellt, nach BfV-Zählung, weiter die rechtsextreme Szene: 40.600. Das bedeutet nochmal einen Anstieg von 1.800 Personen zum Vorjahr. 14.500 dieser Rechtsextremen gelten als gewaltorientiert. Die Gewalttaten in der Szene seien weiter gestiegen, warnte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang. Auch die Angriffe gegen Asylunterkünfte hätten wieder zugenommen. Rechtsextreme Demonstrationen hätten zugenommen, Musikveranstaltungen Höchststände erreicht, hier aber vor allem kleinere Liederabende. Kampfsportevents habe es fast keine mehr gegeben.
Mit reingezählt in die rechtsextreme Szene werden auch 11.300 AfD-Mitglieder. Haldenwang erklärte, sein Amt wolle zeitnah entscheiden, wie es weiter mit der AfD umgehe. Wahltermine seien für ihn dabei nicht entscheidend, hatte er zuletzt schon klargemacht. Abwarten will das Amt noch die schriftlichen Urteilsgründe des Oberverwaltungsgericht Münster, das zuletzt die Einstufung der AfD als rechtsextremen Verdachtsfall für rechtmäßig erklärt hatte. Möglich seien eine Hochstufung als gesichert rechtsextreme Bestrebung oder eine Beibehaltung als Verdachtsfall, so Haldenwang. Eine Runterstufung sei „nicht so wahrscheinlich“.
Im Jahresbericht wird der AfD ein „vielfach völkisch-abstammungsmäßig geprägtes Volksverständnis“ vorgeworfen, das im Widerspruch zum Grundgesetz stehe. Auch im vergangenen Jahr habe es „zahlreiche fremden- und muslimfeindliche Positionen“ in AfD-Verlautbarungen gegeben. Viele Funktionäre und Abgeordnete pflegten zudem „gefestigte“ Verbindungen zu Rechtsextremen, es handele sich um ein „strategisch agierendes Netzwerk“.
Neurechter Antaios-Verlag nun „gesichert rechtsextrem“
Dieses Netzwerk knüpft die AfD vor allem mit der neurechten Szene, wo das BfV nun erneut Fakten schuf: Nach den Identitären, dem Thinktank „Institut für Staatspolitik“, dem Netzwerk „Ein Prozent“ und der AfD-Jugend ist nun auch der Antaios-Verlag von Wortführer Götz Kubitschek als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft. Der Verfassungsschutz wirft dem Verlag vor, dass dort Werke wie die des Identitären Martin Sellner zu seinem „Remigration“-Plan vertrieben oder der Verschwörungsmythos eines „Großen Austausch“ verbreitet werde.
Einen Zuwachs wird auch für die Reichsbürgerszene konstatiert, hier um 2.000 auf 25.000 Personen. Zehn Prozent davon seien gewaltorientiert. Nur 1.350 der 25.000 Reichsbürger aber zählt das BfV als rechtsextrem. Frauen machten inzwischen knapp die Hälfte der Szene aus, auch verjünge sich diese, so das Amt. 200 Reichsbürgern seien im vergangenen Jahr waffenrechtliche Erlaubnisse entzogen worden – immer noch 400 aber seien im Besitz einer solchen.
Als linksextrem sieht der Verfassungsschutz 37.000 Personen, davon 11.200 als gewaltorientiert – ein leichter Anstieg. Auch hier hätten Gewalttaten zugenommen, es sei zu schweren Brandanschlägen wie auf einen Strommast beim Teslawerk in Grünheide gekommen, erinnerte Haldenwang. Sein Bericht warnt vor einer weiteren Radikalisierung der Szene: Bestehende Netzwerke verfestigten sich, die Gefahr schwerer Gewalttaten habe sich „nochmals erhöht“. Nur durch Zufall sei es bei jüngsten Angriffen auf Polizisten oder Rechtsextreme bisher zu keinen Toten gekommen.
Verwiesen wird auch auf schwere Angriffe von Autonomen aus dem „Antifa Ost“-Kontext in Erfurt und Budapest im vergangenen Jahr, nach denen mehrere Personen abtauchten, um einer Auslieferung nach Ungarn zu entgehen. Eine Abkehr von der Gewalt sei bei diesen Personen nicht zu erwarten, so das BfV. Und: „Bei ungehindertem Fortgang der Radikalisierung einzelner Personen oder Strukturen könnte in Deutschland ein neuer Linksterrorismus entstehen.“
Auch bei den Klimaprotesten sieht das BfV in Teilen eine Radikalisierung. Weiter nicht beobachtet wird die Letzte Generation, dafür ist nun aber das Bündnis Ende Gelände als „linksextremer Verdachtsfall“ eingestuft, das mit Besetzungsaktionen in Tagebauen im Rheinland oder der Lausitz für Aufsehen sorgte. 70 Ortsgruppen zähle das Bündnis inzwischen, so das BfV. Es sei eine „zunehmend eigenständige Verschärfung zu Aktionsformen bis hin zu Sabotage erkennbar“. In Grundsatzpapieren werde ein „Kampf für einen Systemwandel“ propagiert. Auch an den Protesten gegen die Räumung von Lüzerath, bei der es zu „massiver“ Gewalt gekommen sei, habe sich Ende Gelände beteiligt. Als die Gruppe vor Jahren bereits vom Berliner Verfassungsschutz eingestuft wurde, hatte sie offensiv betont: „Natürlich wollen wir ein System beenden, das auf Ausbeutung, auf Klimazerstörung und Diskriminierung beruht.“
Bei Islamismus schließlich zählt der Verfassungsschutz, recht konstant, 27.200 Personen. Auch hier hätten Gewalttaten zugenommen, vor allem seit dem erneuten Aufflammen des Nahostkriegs, so Haldenwang. Die islamistische Anschlagsgefahr bleibe in Deutschland hoch, vor allem durch radikalisierte Einzeltäter. Aber auch vom IS orchestrierte Anschläge wie zuletzt in Moskau seien möglich, warnte der Geheimdienstchef. Auch Gruppen mit Nähe zur verbotenen Hizb ut-Tahrir, die zuletzt mit Protesten für ein Kalifat auffielen, träten „zunehmend aggressiv und extremistisch“ auf.
„Widerwärtiger Antisemitismus“
Haldenwang wie Faeser sprachen auch von einem dramatischen Anstieg von Antisemitimus seit dem Hamas-Angriff auf Israel vom 7. Oktober 2023. Dieser sei „widerwärtig“ und müsse „unbedingt durchbrochen“ werden, so Faeser. Der Nahostkonflikt werde von allen extremistischen Bereichen aufgegriffen, ergänzte Haldenwang.
Erstmals im BfV-Jahresbericht erwähnt wird nun auch die Bewegung „Boycott, Desinvestitionen und Sanktionen“ (BDS), die einen wirtschaftlichen Boykott Israels fordert. Der Verfassungsschutz führt auch diese Gruppe als „extremistischen Verdachtsfall“, attestiert ihr israelfeindliche Positionen. Auf Veranstaltungen werde immer wieder Existenzrechts Israels infrage gestellt.
Zuletzt warnte Faeser auch vor äußeren Bedrohungen. Von Russland gehe eine „massive hybride Bedrohung“ aus, über Cyberangriffe oder Desinformation. Dies habe „eine neue Dimension erreicht“, es würden „Wut und Hass gesät“. Auch China oder der Iran seien in diesen Bereichen hierzulande aktiv. Faeser forderte daher mehr Befugnisse für die Abwehr von Cyberangriffen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Frauenfeindlichkeit
Vor dem Familiengericht sind nicht alle gleich