Nahostdebatte in Deutschland: Der Hass der Insta-Islamisten

Durch die Eskalation in Nahost wähnen sich islamistische Extremisten in Deutschland im Aufwind. Schaute die Politik ihrem Treiben zu lange zu?

Frauen mit Kopftüchern bei einer Demonstration.

Der erhobene Zeigefinger, ein auch vom IS gebrauchtes Erkennungszeichen, Demonstration in Essen am 3. November Foto: Christoph Reichwein/dpa

BERLIN taz | Drei Tage nach der Demonstration in Essen sitzt Ahmad Tamim im blauen Businesshemd vor einer Kamera. „Zionistische Medien“ würden „Lügen“ und „Hetze“ über den Aufzug verbreiten, klagt er, das Video wird er in sozialen Medien veröffentlichen. Dabei setze man sich nur für die Muslime in Palästina ein. Tamim wendet sich an die eigenen Leuten: „Aber was haben wir denn erwartet? Wir dürfen nicht einknicken.“ Man werde das Thema nicht nach den „Spielregeln“ der „westlichen Kultur“ bespielen.

Die Islamistendemo in Essen Anfang November sorgt weiterhin für Entsetzen. Mit schwarzen Fahnen samt weißen Glaubensbekenntnissen, die an den IS erinnerten, zogen Tamim und seine Anhänger durch die Stadt.

Der Protest war als Solidarität mit Palästina angemeldet, 3.000 Teilnehmende kamen. Dann aber wurde ein „Kalifat“ eingefordert, Frauen und Kinder durften nur im hinteren Teil mitlaufen. Und auf einem Podest rief Hauptredner Tamim zum Thema Nahost in die Menge: „Es kann nicht sein, dass unsere Geschwister dort abgeschlachtet werden und wir hier einfach gemütlich rumsitzen und kein Opfer bringen.“

Essens Oberbürgermeister Thomas Kufen (CDU) nannte die Szenen „nur schwer erträglich“, NRW-Ministerpräsident Henrik Wüst (CDU) „völlig inakzeptabel“. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sah „eine rote Linie überschritten“. Die Bilder aus Essen seien „mit unserem Verständnis von Demokratie nicht vereinbar“.

Ahmad Tamim und die islamistische Szene dagegen feierten den Aufzug. „Möge Allah jeden Beteiligten reichlich belohnen“, erklärte Tamims Gruppe, die „Generation Islam“, im Anschluss.

Aufzüge auch in Hamburg und Berlin
Betende Männer auf einer Straße.

Betende Männer bei der Demonstration am 3. November in Essen Foto: Christoph Reichwein/dpa

Es war nicht der einzige Auftritt von Islamisten seit den Terrorangriffen der Hamas am 7. Oktober auf Israel. Auch auf dem Berliner Alexanderplatz standen Tamim und knapp 300 An­hän­ge­r:in­nen mit „Allahu Akbar“-Rufen. In Hamburg mobilisierten Islamisten 500 Menschen auf den Steindamm, attackierten Polizisten mit Steinen.

Klar ist: Islamisten sind bei den derzeitigen Demonstrationen gegen Israel und für Palästina nur ein Randaspekt. Die meisten Proteste werden von migrantischen oder linken Gruppen geprägt. Aber die Islamisten wittern ihre Chance. Auf ihren Social-Media-Kanälen stellen sie sich auf die Seite der Hamas, ziehen über Israel her – und genießen große Reichweite. Sicherheitsbehörden und Experten fürchten eine neue Welle islamistischer Radikalisierung und Gewalt.

Ahmad Tamim ist dabei kein Unbekannter. Schon seit Jahren verbreitet seine Gruppe Generation Islam auf ­Social Media islamistische Agitation, vor allem von Tamim selbst. Auch Gruppen wie Muslim Interaktiv oder Realität Islam zielen auf junge Muslime, inszenieren Aufzüge teils mit Choreografien – um sie danach im Internet zu verbreiten. Die Demokratie verdammen sie als „System des Unglaubens“, Deutschland werfen sie „Assimilationsterror“ vor. Und immer wieder wird gegen die „Zionisten“ gewettert.

Alle drei Gruppen eint, dass sie aus dem Spektrum der bereits 2003 in Deutschland verbotenen Hizb ut-­Tahrir kommen. Dieses internationale Netzwerk wurde 1953 von Palästinensern in Jerusalem gegründet. Ihr Ziel ist ein weltweites Kalifat der Muslime, eine globale „Ummah“ – die Nichtmuslime letztlich militärisch unterwerfen soll. Auch wegen des „ausgeprägten Antisemitismus“ wurde die Hizb ut-Tahrir in Deutschland verboten.

Als „Shisha-Islamisten“ belächelt

Diesen attestiert der Verfassungsschutz auch dem Nachfolgespektrum wie Tamims Generation Islam. Wurden dem Netzwerk 2003 noch 150 Anhänger zugerechnet, sind es heute 750, knapp die Hälfte davon aus Hamburg, Tendenz steigend. In der islamistischen Szene Deutschlands ist das noch überschaubar, die Behörden zählen hier insgesamt 27.480 Personen. Und bei vielen anderen Islamisten sind die Hizb-ut-Tahrir-Anhänger nicht wohlgelitten. Wegen ihrer Inkonsequenz – fromme Sprüche hier, Rekrutierung in Shishabars da – werden sie als „Shisha-Islamisten“ belächelt. Dennoch stoßen ihre Aktionen auf einige Resonanz.

Schon im Frühjahr schaffte es Muslim Interaktiv in Hamburg, 3.500 Anhänger auf die Straße zu bringen, damals gegen Koranverbrennungen. Nun waren es 3.000 in Essen – obwohl dem Spektrum in Nordrhein-Westfalen nur 130 Anhänger zugerechnet werden. Digital ist die Resonanz noch größer: Allein die Generation Islam erreicht je 73.000 Follower auf Instagram und Face­book. Und als 2018 der Kopftuchstreit hochkochte, waren es Hizb-ut-Tahrir-Leute, die mit einer Petition 170.000 Unterschriften einsammelten.

Nun mischen sie intensiv in der Nahostdebatte mit und spitzen sie weiter zu. Die Hamas-Massaker vom 7. Oktober begrüßte Ahmad Tamim in einem Video als „effektiven“ Widerstand. Man dürfe hier „nichts relativieren“. Die „Muschadin“ in Palästina hätten gezeigt, wie angreifbar Israel sei. Und sie zeigten auch, „wozu wir in der Lage wären“, wenn sich alle Muslime global zusammentäten.

Den Aufruf, aktiv zu werden, verbindet Tamims Generation Islam immer wieder mit verbalen Angriffen gegen die „Kuffar“, die Ungläubigen. „Wie lange wollen wir tatenlos zusehen, wie die Kuffar unsere Gesellschaften systematisch zerstören??“, schreibt die Gruppe auf Facebook.

Auch Muslim interaktiv erklärte die Hamas schon vor Jahren zur „legitimen Widerstandsbewegung“. Israel wird als „zionistisches Projekt“ gegeißelt, das von Deutschland einen „Blankoscheck“ erhalte. Und Realität Islam wirft allein Israel „monströse Massaker“ vor, schreibt von einem „zionistischen Denkgefängnis“. Der Appell, Solidarität mit dem angegriffenen Israel zu zeigen, wird brüsk abgelehnt: „Niemals dürfen wir so einem Aufruf nachkommen.“

Experte hält Verbot für „längst überfällig“

Der Islamwissenschaftler Patrick Möller warnt schon länger vor den Hizb-ut-Tahrir-Nachfolgegruppen. Sie seien derzeit „offensiver und stärker denn je“. Diskriminierungserfahrungen von Muslimen wie bei der Kopftuchdebatte griffen die Gruppen sofort auf und versuchten deren Distanz zu Staat und Demokratie zu vergrößern. „Die Gruppen sind ein ideologischer IS, der noch zu feige ist, sein Gedankengut umzusetzen“, sagt Möller. Sie seien „ein Durchlauferhitzer für Islamisten, denen Worte irgendwann nicht mehr reichen“. Ein Verbot sei „längst überfällig“.

Inzwischen sind auch Sicherheitsbehörden und die Politik aufgeschreckt. Nach dem eskalierten Hamburger Aufzug ließ die Staatsanwaltschaft zwei Muslim-Interaktiv-Kader durchsuchen. Von der Demonstration in Essen prüft die Polizei noch mal alle Videos. Bisher wurde indes nur ein Verfahren wegen Volksverhetzung eingeleitet: Der Veranstalter soll beim Verlesen der Auflagen den untersagten Ruf „Tod Israel“ wie einen Appell vorgetragen haben. Und Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) schrieb Nancy ­Faeser einen Brief mit der „eindringlichen Bitte“, Verbote von Generation Islam, Muslim Interaktiv und Realität Islam zu prüfen.

Faesers Ministerium schweigt bisher dazu. Anders als zuletzt bei der Hamas und Samidoun gehandhabt, erklärt das Ministerium, über Verbotsprüfungen spreche man grundsätzlich nicht.

486 Islamisten als Gefährder eingestuft

Experten und Sicherheitsbehörden schauen aber auch mit Sorge auf andere Teile der islamistischen Szene. Auch Salafisten wie Pierre Vogel, die sich nach dem 7. Oktober zunächst bedeckt hielten, verschärfen den Ton. Erst vor wenigen Tagen beschimpfte Vogel die Bundesregierung für ihre Solidarität mit Israel als „Lakaien“. „Ihr habt Blut an euren Händen“, rief er in einem Video, „ihr rückgratlosen Nichtsnutze!“

Dazu kommen die aktuell 486 islamistischen Gefährder, denen die Sicherheitsbehörden Anschläge zutrauen – 90 von ihnen sind immerhin in Haft und 182 sollen sich im Ausland befinden. Der Rest befindet sich auf freiem Fuß. Bundesweit sprach die Polizei zuletzt Gefährder an und warnte sie vor Straftaten. Erst vor zwei Wochen nahm die Polizei indes in Duisburg einen 29-jährigen IS-Anhänger fest, der einen Anschlag auf eine proisraelische Demonstration geplant haben soll.

Der Terrorismusexperte Peter Neumann warnt vor einer „neuen dschihadistischen Terrorwelle“ in Deutschland. Für Islamisten sei der Kampf Juden gegen Muslime im Heiligen Land ein Urkonflikt, der die Szene enorm mobilisiere. Und für Radikalisierte gebe es, anders als einst beim IS, kaum Ausreiseoptionen – weshalb sie hierzulande zuschlagen könnten. Die Bedrohung jüdischen Lebens sei „extrem hoch“.

Auch Faesers Innenministerium warnt vor einer „hohen Gefährdungsrelevanz“ in Deutschland durch die Entwicklungen im Nahen Osten. Es herrsche ein „hohes Emotionalisierungs- und Mobilisierungsgeschehen“, das sich noch verschärfen könne – und eine „erhöhte Gefahr durch radikalisierte Einzeltäter“.

Ahmad Tamim weist Gewalt von sich. „Wir wollen den Menschen nichts Böses“, behauptet er im Video nach der Essen-Demonstration. Drei Tage zuvor, auf der Straße, stachelte er die Menge indes an, sie solle keine Angst vor „Repressalien“ haben. Möge Allah sie zum Mittel machen, die Freiheit der Muslime, „überall, wo sie sind, wieder zu erkämpfen“.

Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es, die Sicherheitsbehörden zählten derzeit 486 islamistische Gefährder in Deutschland, von denen sich 304 in Haft befinden sollen. Diese Zahl wurde falsch vom BKA mitgeteilt und korrigiert. Es befinden sich 90 Personen in Haft.

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