Nach dem Femizid in Bosnien-Herzegowina: Zwischen Schock und Reflexion
Das Filmfestival in Sarajevo wurde unterbrochen. Stattdessen gingen Menschen gegen einen Femizid auf die Straße. Der Täter filmte sich live.
Als am Freitag vor einer Woche um 10.20 Uhr der Mann den Livestream auf seinem Instagram-Profil anschaltete, hatte er sein Hemd ausgezogen. Als preisgekrönter Bodybuilder zeigte er sich dem Publikum. Mit nacktem Oberkörper blickte der 35-Jährige in die Kamera und erklärte den Zuschauern, was sie erwarten würde: „Gleich werdet ihr einen Mord live erleben.“ Dann zückte er die Pistole, richtete erst das Handy, dann die Waffe auf seine Ex-Frau Nizama H. und drückte ab. Kindergeschrei war zu hören.
Locker und leicht wollten die Organisatoren des Filmfestivals „Sarajevo mon amour“ den Sommer gestalten. Und so ein bisschen ablenken von den ohnehin schwierigen und komplizierten politischen Verhältnissen, die regelmäßig um Bosnien und Herzegowina auftauchen, so wie die zahlreichen Sommergewitter mit Regen und dem Donner, der von den umliegenden Bergen hallt.
Teile des Stadtzentrums waren für eine große Party abgesperrt. Die Menschen pendelten zwischen dem Theater und der Altstadt Bascarsija, füllten die Cafés und konkurrierten abends um die Plätze in den Restaurants. Viele Filmbegeisterte, Filmemacher und Schauspieler waren angereist, um vom 11. bis 18. August das umfangreiche Programm aus Spiel- und Dokumentarfilmen, den Kurz- und Studentenfilmen, dem Kinderprogramm, den Filmen „Dealing with the Past“ beizuwohnen.
Das erste Filmfestival in Sarajevo fand 1994 in Kellern statt
Die Organisatoren hatten sich mit der Digitalisierung große Mühe gegeben. Registrieren und Anmelden ging Ruck-Zuck. Karten zu erhalten war leicht, der Andrang war groß, fast das gesamte Programm stand aber online zur Verfügung. Filme im Café, auf den Bänken der Parks und natürlich im Freien anzugucken macht auch vielen Spaß, bis man langsam realisierte, was in Gradačac wirklich passiert war.
Das erste Filmfestival in Sarajevo fand 1994 in Kellern statt, während der Belagerung, als serbische Militärs Hunderte von Granaten auf die Stadt schossen. Manche Filme konnten nur mit Notstromaggregaten gezeigt werden. Damals hätte man sich so etwas Sinnloses wie diesen Amoklauf kaum vorstellen können.
Die Kultur verteidigte damals die Stadt gegen die Barbaren auf den Bergen ringsherum. Die demonstrierenden Frauen und Männer gegen den Femizid am letzten Wochenende, tun dies heute.
Denn das war kein Film. Das war die Wirklichkeit. Während die Polizei ihn bereits verfolgte, startete der Täter die Live-Übertragung erneut und filmte, wie er auf Passanten feuerte und zwei Männer tötete. Einen Vater und seinen Sohn. Drei weitere Passanten verletzte er, bevor die Polizei ihn einkreiste. Erst dann erschoss er sich selbst. Und das vor großem Publikum.
300 neue Follower in drei Stunden
Die Videos waren anschließend noch knapp drei Stunden auf Instagram verfügbar. Das Profil des Täters gewann in dieser Zeit mehr als 300 neue Follower. Was sind das für Leute, die Beifall klatschen, wenn eine Frau ermordet wird?
Unbeantwortet bleiben die Fragen, weshalb so viele Menschen live zusahen und warum die Aufnahmen auch Stunden später noch frei auf Instagram verfügbar waren.
Alle diese Fragen werden jetzt diskutiert. Für manche weist diese Geschichte auf die Verrohung der Gesellschaften insgesamt, auf den Verfall von Werten. Welches Signal senden autokratische politische Führer aus, wenn sie lügen, betrügen und ihre Widersacher beseitigen lassen? Wie krank muss eine Gesellschaft sein, wenn Amokläufer und Frauenmörder Beifall erhalten und Nachahmer schon bereitstehen?
Warum etwa hatte die Polizei vorab keine Schutzmaßnahmen für Nizama H. – das spätere Opfer – ergriffen? Schließlich hatte sie bereits mehrfach angegeben, Morddrohungen von ihrem Ex-Mann erhalten zu haben sowie von ihm geschlagen worden zu sein. Der war zudem kein unbeschriebenes Blatt: er war wegen Drogenhandels und eines Angriffs auf einen Polizisten vorbestraft.
„Es ist nur der letzte in einer Reihe von Femiziden und anderen schweren Fällen von Gewalt an Frauen in Bosnien und Herzegowina“, kritisierte Ingrid McDonald, UNO-Vertreterin im Land.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist
Außenministertreffen in Brüssel
„Europa spricht nicht die Sprache der Macht“