Buch über Femizide in Mexiko: Kein Verbrechen aus Leidenschaft

Die Autorin Cristina Rivera Garza hat den Femizid an ihrer Schwester aufgearbeitet – und legt den Finger in eine Wunde der mexikanischen Gesellschaft.

Mexikanische Frauen demonstrieren gegen Femizide im Land

„Nicht eine mehr“, fordern die Demons­trantinnen Foto: Ma­he Elipe/reuters

Mehr als 30 Jahre habe sie gebraucht, um ihr letztes Buch zu schreiben, sagt Cristina ­Rivera Garza. Sie schrieb langsam, weil die Trauer ihren eigenen Rhythmus hat und weil ihr vor drei Jahrzehnten Sprache und Worte nicht ausreichten, um die Geschichte von ­Liliana zu erzählen, ihrer jüngeren Schwester, die in Mexiko ermordet wurde. Rivera Garza hat beschlossen, mit ihrem Buch den Finger auf ihre vielleicht größte Wunde zu legen und damit auch auf eine der schmerzhaftesten Wunden der mexikanischen Gesellschaft: den Femizid.

„Liliana’s Invincible Summer: A Sister’s Search for Justice“ erschien 2021 auf Spanisch und in diesem Jahr in englischer Sprache. Rivera Garza brauchte kei­ne*n Über­set­ze­r*in – parallel schrieb sie in beiden Sprachen, – aber sie brauchte den Mut, eine Kiste zu öffnen, in der sie und ihre Eltern vor dreißig Jahren die Erinnerungen an ­Liliana verschlossen: Briefe, Postkarten, Fotos und einige Tagebücher, aber auch festgehaltene Ziele, Träume und Geheimnisse einer 20-jährigen Frau mit langem dunklem Haar, die an einer der wichtigsten Universitäten in Mexiko-Stadt Architektur studierte. Und die im Juli 1990 aus dem Leben gerissen wurde, ermordet, mutmaßlich von ihrem Ex-Partner.

Diese Kiste, die sie jahrelang nicht öffnen wollte, ist der Kern von Rivera Garzas Geschichte, die wie die vieler mexikanischer Familien beginnt: mit der quälenden Suche nach Gerechtigkeit, die in der Regel nie kommt. Weniger als 25 Prozent der in den letzten zehn Jahren in Mexiko begangenen Femizide enden mit einer Verurteilung, besagt eine Untersuchung der NGO Mexicanos Contra la Corrupción y la Impunidad (MCCI). Der Fall Liliana gehört zu den über 75 Prozent der ungelösten Fälle, und so wurde ihr Mörder auch nach 30 Jahren nicht gefasst.

Anfang 2020 reiste die heute in den Vereinigten Staaten lebende Schriftstellerin nach Mexiko, um bei den Behörden die Gerichtsakte zum Fall ihrer Schwester anzufordern. Endlich habe sie die Kraft gehabt, sich dem bürokratischen Verfahren zu stellen, erzählt Rivera Garza bei einem Gespräch in Berlin, wo sie sich im Frühjahr dieses Jahres im Rahmen eines Stipendiums der American Academy aufhielt. Sie habe sich erhofft, so selbst zu einem Fortschritt bei den Ermittlungen um den Mord an ihrer Schwester beitragen zu können. Trotz der Hartnäckigkeit, mit der sie immer wieder bei den Behörden vorstellig wurde, blieb die Akte unauffindbar. Keine Seltenheit in Mexiko.

Aufschreiben, wer ihre Schwester war

Dennoch half ihr dieser Prozess, einen anderen Weg zu finden, um für sich Gerechtigkeit zu erlangen: mit dem Material aus der vor über 30 Jahren verschlossenen Kiste und durch ihr Schreiben zu erzählen, wer ihre Schwester war. Zeigen, was Liliana glücklich machte, welche Leidenschaften sie hatte, um sie so im kollektiven Gedächtnis zu verankern.

Cristina Rivera Garza: „Liliana’s Invincible Summer: A Sister’s Search for Justice“. Hogarth Press, London 2023, 320 Seiten, 22 Euro

„Femizide setzen darauf, Frauen auszulöschen, sie unsichtbar zu machen, sie zum Schweigen zu bringen. Lebendig erinnert zu werden, ihre Stimmen mit aller Kraft in den Vordergrund zu stellen, ist meiner Meinung nach eine Kraft gegen den Femizid und gegen das Patriarchat, das die geschlechtsspezifische Gewalt gegenüber Frauen aufrechterhält“, sagt Rivera Garza. Heute lebt die 1964 in Tamaulipas, einem Bundesstaat im Nordosten Mexikos, geborene Autorin und Soziologin in Texas, wo sie an der Universität von Houston das Dok­to­ran­d*in­nen­pro­gramm für kreatives Schreiben leitet.

Wenn eine Frau Opfer eines Femizids wird, laufe die Erzählung über ihre Tötung fast immer gleich ab, sagt sie. Auf der einen Seite stehe der Mörder, der in der Regel als psychisch gesunder Mann dargestellt werde, der aus irgendeinem unerfindlichen Grund plötzlich den Verstand verloren und deshalb dieses „Verbrechen aus Leidenschaft“ begangen habe.

Auf der anderen Seite fände eine ständige Bewertung der Handlungen des Opfers statt, sagt Rivera Garza. Gefragt werde beispielsweise danach, was sie anhatte oder was sie getan hat, um zu verdienen, dass ihr Leben beendet wurde. Bei dieser Erzählung gehe vielleicht das Wichtigste verloren: wer das Opfer war, über seinen Tod hinaus. Rivera Garza wollte das Gegenteil von dem tun, was sonst üblich ist, sagt sie. Deshalb schrieb sie über das Leben ihrer Schwester, um zu erinnern. Die Gegenstände in der Kiste dienten ihr als Instrument, zusammen mit einer Reihe von Interviews mit den Menschen, die ihrer Schwester am nächsten standen.

Immer noch durchschnittlich zehn Femizide am Tag

Mehr als drei Jahrzehnte nach dem Femizid an Liliana werden immer noch mexikanische Frauen getötet. Die Welt war wohl noch nie ein sicheres Terrain für Frauen, aber das nordamerikanische Land ist eines der gefährlichsten: Offiziellen Zahlen nach werden dort durchschnittlich 10 Frauen pro Tag ermordet, meist durch den (Ex-)Partner. Das liegt vor allem am in der mexikanischen Gesellschaft sehr stark verankerten Machismo. Vor 30 Jahren wurden geschlechtsspezifische Straftaten in Mexiko noch nicht gezählt, sodass es keine vergleichbaren Statistiken aus der Zeit von Lilianas Ermordung gibt. Erst vor etwas mehr als einem Jahrzehnt, im Jahr 2012, wurde das Konzept des Femizids in die Rechtssprache und das Strafgesetzbuch aufgenommen.

Obwohl die Statistiken alles andere als ermutigend seien, sagt Garza, habe sich eines geändert: das Publikum und die Worte. Die feministische Bewegung, die in Mexiko und anderen Ländern Lateinamerikas auf die Straße gegangen sei, habe die Sprache in eine präzisere und mitfühlendere umgewandelt, die es ermöglicht, Geschichten wie die von Liliana außerhalb des offiziellen Narrativs zu erzählen. Noch vor einigen Jahren wären Morde wie der an Liliana als an Seifenopern erinnernde Ereignisse angesehen, medial als „Verbrechen aus Leidenschaft“ dargestellt worden.

Rivera Garza ist der Meinung, dass die Geschichten der mehr als 3.500 mexikanischen Frauen, die jedes Jahr ermordet werden, anders erzählt werden sollten, durch ihr Leben und ohne zu verlangen, dass sie – die nicht mehr leben – die perfekten Opfer sind: nicht aufbegehrend, sondern schweigend und ruhend. Vor 30 Jahren, als der Mord geschah, habe es kein Publikum gegeben, das zuhörte und die Geschichte von Liliana aufnahm, ohne sie für ihr von einem Mann verursachtes Schicksal zu beschuldigen.

Heute, erklärt Garza Rivera, fühle sie sich durch die Le­se­r*in­nen begleitet. Sie weiß, dass sie nicht allein ist. Sie weiß, dass es Frauen gibt, die auf die Straße gehen, die die Namen vieler Frauen – auch den ihrer Schwester – rufen und Gerechtigkeit fordern. „Viele Jahre lang haben meine Familie und ich eine sehr einsame Trauer gelebt, die gewaltsam zum Schweigen gebracht wurde. Wenn ich etwas aus dem Buch gelernt habe, dann ist es, dass eine Trauer, die geteilt wird, die einen Weg findet, sich zu verbreiten, sehr befreiend ist“, sagt sie.

In Worte fassen, wofür die Sprache nicht ausreicht

„Die Frauen, die auf die Straße gegangen sind, die die Sprache selbst in die Hand genommen haben, haben diese Worte hervorgebracht, dieses Vokabular, das uns jetzt erlaubt zu sagen, dass es sich nicht um ein Verbrechen aus Leidenschaft handelt, sondern um einen Femizid.“ Mit dem Vokabular könne sie als Schriftstellerin diese eher konventionellen und auf Macht basierenden Erzählungen, die so viele Jahre lang den Opfern die Schuld an der erlittenen Gewalt gegeben haben, umkehren und unterminieren.

Rivera Garza wollte den mutmaßlichen Mörder ihrer Schwester in ihrem Buch nicht ins Rampenlicht rücken. Aber sie hat etwas anderes erreicht: Nach der Veröffentlichung in spanischer Sprache erhielt sie eine anonyme E-Mail mit Informationen. Der Ex-Partner ihrer Schwester sei in die Vereinigten Staaten geflohen, wo er seinen Namen änderte und die letzten 30 Jahre lebte, bevor er 2020 durch Ertrinken starb, hieß es dort. Rivera Garza stellte eigene Nachforschungen an: Alles deutete darauf hin, dass die Informationen wahr waren. Eine Bestätigung von den mexikanischen Behörden erhielt sie aber nie, obwohl sie ihnen alle Informationen zur Verfügung stellte.

Rivera Garza machte ihre Trauer zu einem umfassenderen Prozess, einem Prozess der Erinnerung und der Wahrheit. Der Name von Liliana Rivera Garza steht nicht mehr nur in einer Gerichtsakte oder in den Zeitungen von damals. Er ziert Plakatwände im Zentrum von Mexiko-Stadt, taucht auf Transparenten und in Rufen auf, die am 8. März an sie erinnern, wenn lateinamerikanische Frauen auf die Straße gehen, um Gerechtigkeit und Respekt für ihren Körper zu fordern. Respekt für ihr Leben.

Aus dem Spanischen übersetzt von Sophia Zessnik.

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