Missbrauch und Missachtung: Nicht zu relativieren
Am 4. Januar vor 60 Jahren starb der Physiker Erwin Schrödinger. Er war ein genialer Wissenschaftler – und missbrauchte Minderjährige.
Dass er parthenophil war und Mädchen missbrauchte, fehlt in den meisten Biografien. Seine Biografen Walter Moore und John Gribbin gehen in ihren Büchern über Schrödinger zwar darauf ein, aber das ist weitgehend ignoriert worden. Bei Wikipedia fehlt jeglicher Hinweis: „Schrödinger und seine Frau Annie lebten in offener Beziehung – Schrödinger hatte offen außereheliche Beziehungen, zum Beispiel zur Frau seines Kollegen und Freundes Arthur March“, heißt es dort lediglich.
Schrödinger wurde im August 1887 in Wien geboren. Er studierte dort Mathematik und Physik. Nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg lehrte er in Jena, Stuttgart, Breslau und Zürich. 1927 wurde er in Berlin Nachfolger von Max Planck an der Friedrich-Wilhelm-Universität, der heutigen Humboldt-Universität. Da er den Nationalsozialismus ablehnte, ging er nach Hitlers Machtergreifung 1933 nach Oxford ans Magdalen College, blieb dort allerdings nur drei Jahre.
Danach führte ihn sein Weg über Graz, wo er von den Nazis mit Berufsverbot belegt wurde, nach Rom. Dort erreichte ihn 1939 eine Anfrage des irischen Premiers Éamon de Valera, nach Dublin zu kommen, um das neue Dublin Institute of Advanced Studies (DIAS) für theoretische Physik aufzubauen und zu leiten.
Ein hübsches Kind
De Valera war 1916 ein Anführer des irischen Osteraufstands gegen die britischen Besatzer und wurde dafür zum Tode verurteilt. Weil er wegen seiner Geburt in New York die US-Staatsbürgerschaft besaß, wurde das Urteil aber nicht vollstreckt. Als Irland unabhängig war, wurde De Valera Premierminister und später Präsident Irlands. Sein Hobby war die Mathematik.
Schrödinger blieb bis zu seiner Pensionierung in Dublin – 17 Jahre lang. Er hielt am Trinity College in Dublin seine berühmte Vortragsreihe „What is Life?“, die erheblichen Einfluss auf die Entdeckung der DNS durch James Watson und Francis Crick hatte. Schrödinger liebte Irland und nahm 1948 die irische Staatsbürgerschaft an. „Wenn in Deutschland etwas nicht ausdrücklich erlaubt war, so war es verboten“, sagte er einmal. „Wenn in England etwas nicht verboten war, so war es erlaubt. In Österreich und Irland hingegen tat man es, wenn man wollte, ob erlaubt oder verboten.“
In Dublin freundete sich Schrödinger mit Monsignore Pádraig de Brún an, einem Geistlichen und Mathematiker. Walter Moore beschreibt in seiner Schrödinger-Biografie einen Urlaub in de Brúns Haus auf der Dingle-Halbinsel im Südwesten Irlands. De Brúns Schwester Margaret war mit ihren drei Kindern zu Besuch. Maire, die älteste, war 18, Seamus war 16, und Barbara war 12. „Trotz ihrer schmutzigen Fingernägel war Barbara ein hübsches Kind“ schreibt Moore. „Erwin war vernarrt in sie.“ Nachdem de Brún dem damals 53-jährigen Schrödinger ins Gewissen geredet hatte, hörte der auf, Barbara nachzustellen, aber er listete sie später als „eine der unerwiderten Lieben meines Lebens“ auf.
Barbara, die mit Ehenamen McEntee hieß, starb 1995. Ihre Familie erfuhr erst lange nach ihrem Tod von Schrödingers unerwünschter Aufmerksamkeit. „Das Thema kam bei meiner Mutter nie zur Sprache, wie man sich vorstellen kann“, sagt ihr Sohn Bernard Biggar. Er war auf Moores Biografie gestoßen, als er einem Querverweis auf seinen Großonkel de Brún nachgegangen war. Nachdem er im September in der Irish Times einen Artikel über einen offiziellen Radweg, der Schrödingers Spuren in Dublin auf zehn Stationen folgt, gelesen hatte, fragte er den Autor Joe Humphreys, warum er mit keinem Wort auf Schrödingers Parthenophilie eingegangen war. Das sei ein Fehler gewesen, räumte Humphreys vor drei Wochen ein: „Die Beweise waren offensichtlich“, schrieb er. „Schrödinger war ein Serien-Missbrauchstäter.“
„Die armen Dinger“
Ithi Junger war 14, als der damals 39-jährige Erwin Schrödinger seine Position als Mathematiklehrer ausnutzte und sie missbrauchte. Das ging über Jahre. Mit 17 wurde sie schwanger und hatte eine Abtreibung mit katastrophalen Folgen. Sie war fortan unfruchtbar, aber da hatte Schrödinger sie schon durch ein neues Opfer ersetzt. Felice Krauss war 15. Annemarie Bertel war 16. Er heiratete sie später, aber das änderte nichts an seiner „sexuellen Verderbtheit“, wie Bernard Biggar es ausdrückte.
„Die armen Dinger“, schrieb Schrödinger über die Frauen und Mädchen, mit denen er geschlafen hatte. „Sie haben mir die Glücksmomente in meinem Leben und sich den Kummer verschafft. So ist das Leben.“ Schrödinger hat seine sexuellen „Eroberungen“ in einem Tagebuch festgehalten. Er rechtfertigte seine Vorliebe für junge Mädchen damit, dass ihre Unschuld das ideale Gegenstück zu seinem natürlichen Genie sei. Sein Tagebuch nannte er passenderweise „Ephemeridae“ – Eintagsfliegen.
„In gewisser Weise vergleichbar mit dem Ende des Spektrums, das in seinem tiefsten Violett eine Tendenz zu Lila und Rot zeigt, scheint es üblich zu sein, dass Männer mit starker, echter Intellektualität nur von Frauen ungemein angezogen werden, die – ganz am Anfang der intellektuellen Entwicklung stehend – mit den Quellen der Natur ebenso verbunden sind wie sie selbst“, notierte er. „Nichts dazwischen reicht aus, denn keine Frau wird dem Genie durch intellektuelle Bildung näherkommen als so manche Unintellektuelle von Geburt an.“
Wie geht man mit einem Menschen um, der zweifellos Großes auf dem Gebiet der Physik geleistet hat, aber menschlich verachtenswert war? In Dublin ehrte man Schrödinger im Juni 2018 anlässlich des 75. Jahrestags seiner „What is Life“-Vorträge mit einer Veranstaltung, an der sein Enkel Terry Rudolph und de Valeras Enkel Ruairí Ó Cuív teilnahmen.
Der Mathematiker Hermann Weyl, der ein Verhältnis mit Schrödingers Frau Annemarie hatte, sagte einmal verständnisvoll, dass Schrödinger „seine herausragende Arbeit während eines späten erotischen Ausbruchs in seinem Leben geleistet“ habe. Schrödingers Biograf Moore hingegen schreibt: „Seine Einstellung gegenüber dem anderen Geschlecht war die eines männlichen Rassisten.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee