Merz im Sommerinterview: „Ein bisschen überfordert“
Knapp 70 Tage ist Friedrich Merz im Amt. Seine Regierung in der Krise. Im ARD-Sommerinterview hat er nur zweimal Grund zu lächeln.

Alle Versuche von Merz, das Thema beiseite zu wischen, „ist nun wirklich kein Beinbruch“, „die meisten Menschen nehmen das nur aus dem Augenwinkel wahr“, fruchten nichts. Preiß bleibt hartnäckig und Merz blickt den Moderator bald an wie eine lästige Schmeißfliege.
Zwei Dinge will der Kanzler im Interview, das auch eine Bilanz seiner ersten 70 Tage zieht, um jeden Preis vermeiden: Sich auf irgendeine konstruktive Lösung festlegen, bei der ihm die eigene Fraktion womöglich wieder nicht folgt. Und den Eindruck erwecken, dass dieses Desaster an ihm persönlich klebenbleibt.
Doch genau diesen Eindruck hinterlässt die Richterwahl. Denn jetzt ist der Beginn von Merz Kanzlerschaft vor rund 70 Tagen wieder ganz präsent: Seine Wahl zum Kanzler, die im ersten Wahlgang scheiterte. Wer die 18 Abgeordneten der Koalition sind, die nicht für Merz stimmten, ist nach wie vor unklar, doch unwahrscheinlich ist, dass alle in der SPD-Fraktion sitzen. Merz, der als Kanzler mit Kratzer startete, geht nun mit deutlicher Delle in die Sommerpause. Einer, dem Teile der eigenen Fraktion nicht folgen.
Konstruktive Vorschläge macht Merz lieber nicht
Führungsversagen? Teile er nicht, versucht Merz die Preiß-Schmeißfliege loszuwerden. Vielmehr hätte es auch in der SPD Vorbehalte gegen die von der SPD vorgeschlagene Rechtsprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf gegeben – und Merz führt als Kronzeugin die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt an, die nebenbei bemerkt seit vier Jahren nicht mehr Bundestagsabgeordnete ist. Und ach ja, die Grünen, die hätten in der letzten Legislatur auch mal einen Vorschlag der Union abgelehnt. Der allerdings gar nicht mit ihnen abgestimmt war, aber das erwähnt Merz natürlich nicht.
Kein Wort sagt Merz trotz mehrfacher Nachfrage dazu, ob man Brosius-Gersdorf zur Anhörung in die Unionsfraktion einladen oder ob sie ganz zurücktreten sollte. Wobei sich die Frage stellt, warum Unions-Fraktionschef Jens Spahn eine solche Einladung nicht viel früher aussprach, als sich andeutete, dass eine höhere zweistellige Zahl von Unionsabgeordneten Brosius-Gersdorf durchfallen lassen wollte. Was sie in deren Augen unwählbar macht: Die Juristin befürwortet eine Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten 12 Wochen, will also die geltende Praxis, die straffrei, aber formal Unrecht ist, legalisieren. Die einen nennen das extremistisch, die Mehrheit der Bevölkerung sieht es genauso: pragmatisch.
Zwei Tage nach der gescheiterten Wahl wirkt der Kanzler im Interview genauso planlos wie sein Fraktionschef in der Woche zuvor. Ideen, wie man den selbstverschuldeten Beinah-Crash hinter sich lässt, präsentiert er jedenfalls nicht. Außer, dass man es besser machen wolle.
Merz speilt weiter auf der populistischen Klaviatur
Der Optimismus, dass ihm das gelingt, bleibt nach dem Sommerinterview begrenzt. Denn Merz will oder kann nicht erkennen, welchen Gefallen die Union den Rechtsextremen getan hat. Die AfD hat genau solche Kulturkämpfe um Gender oder eben Abtreibung in ihrem geleakten Drehbuch beschrieben, um die gesellschaftliche Mitte zu spalten und den Weg für schwarz-blaue Mehrheiten zu ebnen. Das ist ihr am Freitag fast geglückt.
Und Merz spielt, ganz im Stile der ganz Rechten, munter weiter auf der populistischen Klaviatur, da bleibt der Kanzler dem Oppositionsführer von vor drei Monaten treu. Er kündigt harte Kürzungen beim Bürgergeld an, das bald neue Grundsicherung heißen soll, sowohl bei den Sätzen als auch bei den Kosten der Unterkunft. Und führt dann wieder so ein Beispiel aus dem Merz'schen Kosmos an, bei dem unklar ist, aus welcher Galaxie es stammt: Es gebe Bürgergeldempfänger:innen, die in 100qm-Wohnungen lebten und 2000-Euro-Miete vom Staat erstattet bekämen, behauptet Merz. Das könnten sich normale Arbeitnehmer nicht leisten, daher kämen auch die Spannungen in der Gesellschaft.
Das Problem sind laut Merz also nicht die Wuchermieten, die Vermieter in Ballungszentren fordern, sondern die Bürgergeldempfänger, die in zu teuren Wohnungen wohnen. AfD-Chefin Alice Weidel hätte sicher nichts zu meckern.
Aber ob das die geeignete Erzählung ist, um die Sozialdemokraten zu Kompromissen bei den angekündigten Reformen der Sozialsysteme zu bewegen, wo nach Aussage von Merz auch Leistungskürzungen zu diskutieren sind? Wohl kaum. Den treffendsten Satz sagte er übrigens gleich zu Beginn des Sommerinterviews: „Wir haben uns vielleicht alle etwas überfordert.“
Etwas überfordert, genau so wirkt auch der Kanzler.
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