Menschenrechte in Russland: Amnesty macht Rolle rückwärts
Kremlkritiker Nawalny hat den Status „gewaltloser politischer Gefangener“ zurückbekommen. Er hatte ihn wegen rassistischer Ausfälle verloren.
Berlin |
Diese hatte über einen Auftritt des Nalwalny-Mitarbeiters Leonid Wolkow vor Mitgliedern des Auswärtigen Ausschusses des kanadischen Unterhauses berichtet. Dort hatte Wolkow gesagt, Amnesty werde am 12. Mai in einer Presseerklärung darlegen, wie eine russische Desinformationskampagne Amnesty habe beeinflussen können. „Amnesty wird Nawalny nicht nur den Status zurück geben, sondern auch eine Fehleranalyse präsentieren“, wird Wolkow zitiert.
Am Freitagnachmittag bestätigte das internationale AI-Sekretariat in London, die „interne Entscheidung vom Februar, die nicht hätte öffentlich werden sollen“, rückgängig zu machen. Der Gebrauch des Terminus Prisoner of Conscience (was mit „gewaltloser politischer Gefangener“ nur unzureichend ins Deutsche übersetzt ist; Anm. d. Red.) sei überdacht worden. Von diesem Status solle keine Person allein aufgrund ihres Verhaltens in der Vergangenheit ausgeschlossen werden. Meinungen und Verhaltensweisen könnten sich mit der Zeit ändern, heißt es in der Erklärung.
Auch an mea culpa mangelt es nicht: „Amnesty hat eine falsche Entscheidung getroffen, die unsere Absichten und Motive zu einem kritischen Zeitpunkt infrage gestellt haben.“ Die Organisation entschuldige sich für die negativen Auswirkungen, die das auf Alexei Nawalny persönlich sowie Aktivist*innen in Russland und weltweit gehabt habe, die sich für unermüdlich für Nawalnys Freiheit einsetzten, heißt es weiter.
Sofortige Festnahme
Am 17. Januar 2021 war Nawalny nach einem monatelangen Aufenthalt in Deutschland infolge einer Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok nach Russland zurückgekehrt und unmittelbar nach seiner Ankunft festgenommen und inhaftiert worden. Der Vorwurf lautete auf Verstoß gegen Bewährungsauflagen, die sich auf eine Verurteilung im Jahre 2014 wegen Betrugs des französischen Kosmetikherstellers Yves Rocher beziehen.
Fast zeitgleich hatte ihn Amnesty als „Prisoner of Conscience“ anerkannt. Am 2. Februar entschied ein Moskauer Gericht, dass der 44-jährige eine Haftstrafe von drei Jahren und fünf Monaten abzüglich bereits früher abgesessener Arrest- und Haftstrafen, jetzt doch absitzen müsse.
Am 24. Februar war Nawalny den AI-Status plötzlich los. Begründet worden war dieser Schritt mit einer Flut von Anfragen „besorgter Bürger*innen“ zu xenophoben Kommentaren Nawalnys, die dieser in der Vergangenheit gemacht, aber nie zurückgenommen habe. Dabei geht es AI unter anderem um ein 15 Jahre altes Video, in dem Nawalny Migranten als „Kakerlaken“ verunglimpft. In einem anderen Video aus den frühen Nullerjahren ist Nawalny in die Arbeitskluft eines Zahnarztes geschlüpft, der, flankiert von Fotos mit ausländischen Arbeitskräften, dazu aufruft, „alles, was uns lästig ist, wie verrottete Zähne zu entfernen“.
Offensichtlich schienen für so manche/n bei Amnesty Nawalnys rassistische Ausfälle schwerer zu wiegen als die eindeutig politisch motivierte Justizfarce, deren Opfer er ist. Gegenüber dieser Einschätzung wurden auch interessante Fakten einfach ausgeblendet.
„Besorgte Bürger*innen“
So hatten sich einige der „besorgten Bürger*innen“ im Fall Nawalnys bei ihren Anfragen unter anderem auf Tweets der freien Journalistin Katja Kazbek bezogen. Diese hatte die besagten Videos gepostet und Nawalny als „bekennenden Rassisten“ bezeichnet, dessen Anhänger ihn von seinen Nationalismus „reinwaschen wollten“. Kazbek, deren Beträge häufig auf dem kremlnahen Sender RT veröffentlicht werden, ist eine durchaus schillernde Persönlichkeit.
Die selbsternannte Feministin und Sozialistin, die sich auch für die Belange von Angehörigen der LGBTQ-Community interessiert, lebt in den USA und das vor allem auf Kosten ihres millionenschweren Vaters Juri Dubowitzki, wie insider.ru schreibt.
In einem ihrer Tweets beschreibt sie Josef Stalin als jemanden, der mehr für die Menschheit getan habe als die Mehrheit bürgerlicher Politiker wie George Washington, Thomas Jefferson und John F. Kennedy. Alexei Nawalny sei von der US-Regierung kontrolliert, heißt es an anderer Stelle. Auch zu den monatelangen Protesten in Belarus hatte sie Eigentümliches beizutragen. Diese habe der Westen organisiert – mit dem Ziel, eine „farbige Revolution“ zu provozieren.
Bereits kurz nach der AI-Entscheidung im Februar schien so manchem zu dämmern, Amnesty könne „Opfer“ einer generalstabsmäßig organisierten und vom Kreml gesteuerten Desinformationskampagne geworden sein. Bereits damals sei ob der Art der Anfragen an eine koordinierte und böswillige Aktion gedacht worden. Diejenigen, die dahinter stünden, hätten damit ins Schwarze getroffen, zitiert insider.ru Aleksandr Artjomow, AI-Medienbeauftragter für Osteuropa und Zentralasien. Bei Amnesty sei offenbar die Erkenntnis gereift, zur Geisel eigener Prinzipien geworden zu sein, so insider.ru.
Internationale Ermittlungen
Der jetzige Sinneswandel könnte jedoch auch der neuen Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard geschuldet sein, die seit März dieses Jahres im Amt ist. Als UN-Sonderberichterstatterin für außergerichtliche Hinrichtungen und Meinungsfreiheit hatte sie am 1. März gemeinsam mit ihre Kollegin Irene Khan Ergebnisse einer Untersuchung über die näheren Umstände der Vergiftung Nawalnys vorgestellt. Dabei hatten beide die sofortige Freilassung Nawalnys aus der Haft sowie internationale Ermittlungen gefordert.
Derweil scheint auch Nawalny seine Prinzipien bisweilen zu überdenken. Im April hatte er nach drei Wochen und schon in einem lebensbedrohlichen Zustand einen Hungerstreik abgebrochen. Ein Grund für diese Aktion war die Weigerung der Anstaltsleitung, zu Nawalny Ärzte seines Vertrauens vorzulassen.
Unterdessen gehen die Repressionen gegen die Unterstützer*innen von Nawalny mit unverminderter Härte weiter. Am 4. Mai brachte eine Gruppe von Abgeordneten in der Duma ein Gesetzesprojekt ein, wonach Personen nicht bei Wahlen antreten dürfen, die mit einer Tätigkeit für als extremistisch oder terroristisch eingestufte Organisationen in Zusammenhang gebracht werden. Dieses Vorhaben bedrohe alle, die in Nawalnys Team gearbeitet oder für dessen Organisation gespendet hätten, schrieb Leonid Wolkow auf Twitter. „Wir haben schon eine Menge Gesetze gegen Nawalny gesehen, aber so etwas ist noch nicht dagewesen“, so Wolkow.
Seit Ende April stehen die Regionalbüros von Nawalnys Netzwerk auf einer Liste „terroristischer und extremistischer“ Organisationen. Das kommt de facto einem Betätigungsverbot gleich. Aus diesem Grund haben sich viele Büros bereits selbst aufgelöst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden