Maßnahmen gegen Corona: Zunehmend diffus

Deutschlandweit steigt die Zahl der Coronaneuinfektionen rasant. Bei welchen Anlässen stecken sich die meisten Menschen an? Ein Stimmungsbild.

Ein Tisch mit BIerglas und Maske

Sperrstunde in Berlin. Erst eingeführt, dann wieder gekippt Foto: Krisztian Bocsi/Bloomberg/getty images

Unzufrieden, ja fast resigniert zeigte sich Angela Merkel am späten Mittwochabend, als sie nach der Mammutsitzung mit den 16 Mi­nis­ter­prä­sident*innen vor die Presse trat. Zwar hatten sich Bund und Länder angesichts weiter rasant steigender Infektionszahlen – am Freitag wurde mit mehr als 7.300 Neuinfektionen ein neuer Höchststand erreicht – auf neue Maßnahmen geeinigt. Dennoch äußerte die Kanzlerin große Zweifel, ob das ausreiche.

„Die Ansagen von uns sind nicht hart genug, um das Unheil von uns abzuwenden“, soll sie ihren Länderkolleg*innen gesagt haben. Ihre Botschaft war klar: Spätestens jetzt sollten alle begriffen haben, dass die Pandemie mit voller Wucht zurück ist. Und uns ein langer dunkler Herbst bevorsteht.

Helfen die beschlossenen Maßnahmen, die zweite Pandemiewelle zu brechen? Das ist die große Frage. Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI) lassen zumindest eine kleine Tendenz erkennen. Vor einigen Wochen veröffentlichte das RKI einen Bericht, aus dem hervorgeht, bei welchen Gelegenheiten sich die meisten Menschen mit dem Virus infiziert haben. Von Beginn der Pandemie bis Mitte August – also noch vor Beginn der aktuellen zweiten Welle – hat das Institut zusammengestellt, wo Corona-Ausbrüche am häufigsten passiert sind.

Dabei muss man einschränken, dass sich nur 27 Prozent aller übermittelten Fälle sich wirklich zurückverfolgen ließen. Das RKI schreibt deshalb selbst, dass die Zahlen „mit Zurückhaltung zu interpretieren“ seien. Gleichwohl lassen sich leichte Tendenzen erkennen: Fast zwei Drittel der untersuchtenAusbrüche führt das RKI auf „Wohnstätten“ zurück − wovon ein Großteil private Haushalte sind. Masseninfektionen gab es vor allem in Alten- und Pflegeheimen.

Auch im medizinischen Bereich wie in Krankenhäusern oder am Arbeitsplatz sind viele Ansteckungen dokumentiert. Auffallend wenige Infektionen passierten in Bus und Bahn: Von rund 7.800 aufgelisteten Ausbrüchen waren lediglich 19 auf Verkehrsmittel zurückführen. Zwar kommen Bars und Kneipen in der RKI-Studie nicht vor, doch zumindest in Res­taurants und Imbissen sind nur sehr wenige Ausbrüche vermerkt.

Bei den Sorgen der Kanzlerin mag auch mitgeschwungen haben, dass Regeln das eine, deren Akzeptanz durch die Bevölkerung aber etwas völlig anderes sind. Wenn Abstands- und Maskenregeln weniger stark beherzigt werden, helfen die besten Maßnahmen wenig. Und das Infektionsgeschehen wird zunehmend diffuser.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Menschen stecken sich inzwischen allerorten an, was es auch für Gesundheitsämter immer schwieriger macht, Infektionsketten zu verfolgen. Die taz am wochenende hat bei diversen Gesundheitsämtern in Deutschland nachgefragt, welche Infektionsherde sie ausgemacht haben. Auf dem platten Land und in der großen Stadt.

Metropolregion Rhein-Ruhr – Wo sich viele Menschen ballen

Der erste Blick soll in den hierzulande größten Ballungsraum gehen: die Metropolregion Rhein-Ruhr. Mit mehr als 10 Millionen Einwohner*innen lebt jeder achte Mensch in Deutschland zwischen Dortmund im Osten, Duisburg im Westen und Bonn im Süden. Pendeln zum Arbeitsplatz ist für viele Alltag – und mit der Mobilität der Leute verbreitet sich auch das Virus: Auf der Pandemie-Landkarte Deutschlands ist mittlerweile fast die gesamte Gegend rot eingefärbt. Für NRW bedeutet das: Jede*r Dritte lebt im Risikogebiet.

Entsprechend unterschiedlich sind die Infektionswege: „Der Großteil infiziert sich aktuell im sozialen Umfeld“, heißt es vage aus der bevölkerungsreichsten Stadt Köln. „Wir haben einen Mix“, sagt Ulrike Schmidt-Keßler, Sprecherin der Stadt Wuppertal und nennt als Hotspots der vergangenen Wochen einen Gemüsegroßhandel und eine Wäscherei. Dazu eine Garagenparty mit knapp 80 Jugendlichen, auf der danach fast jede*r Vierte infiziert war – und Corona wurde in die Schulen getragen.

In Hamm sei dagegen eine große Hochzeit von Menschen mit türkischem Migrationshintergrund Auslöser einer neuen Coronawelle gewesen, sagt Sprecher Tom Herberg. Bei dem mehrtägigen Event hätten mehr als 100 Gäste nicht nur im knapp 180.000 Menschen zählenden Hamm, sondern auch in den Nachbarstädten Dortmund und Werl gefeiert. Über Wochen sei die Stadt deshalb Deutschlands Virus-Hotspot Nummer eins gewesen.

In der Gastronomie gebe es dagegen nur „kleinere Infektionsausbrüche“, heißt es nicht nur aus dem feierfreudigen Köln. In Kneipen und Restaurants werde offenbar nicht nur besser gelüftet als auf privaten Partys, sagt Hamms Sprecher Herberg – auch Plexiglasscheiben, größerer Abstand und Desinfektionsmittel täten ihren Dienst. „Außerdem darf in der Gastronomie nicht getanzt werden.“ Die von der CDU-geführten Landesregierung verordnete Sperrstunde lehnen viele Kommunen deshalb ab.

Landkreis Cloppenburg – Wo viele Schlachthöfe liegen

Deutlich beschaulicher geht es im Nordwesten Niedersachsens zu – zumindest war das in Vorpandemiezeiten so. Bereits seit Mitte September zählt Cloppenburg zu den Landkreisen mit den meisten täglichen Neuinfektionen in Deutschland. Hier ist die Dichte an Schlachthöfen hoch – immer wieder kommt es zu größeren Ausbrüchen. Zuletzt waren in einem Fleischbetrieb in der Gemeinde Emstek insgesamt 63 Mitarbeiter*innen positiv auf das Virus getestet worden. Begünstigt werden Ansteckungen auch durch die beengten Wohnverhältnisse, in denen die Arbeiter*innen häufig leben.

Hinzu kommt, dass Cloppenburg mit seinen Nachbarlandkreisen wie Vechta und Emsland inzwischen einen großflächigen Dauerhotspot bildet. Jüngst registrierte das Cloppenburger Gesundheitsamt auch einzelne Cluster bei Großfamilien und Freikirchen.

Landkreis Regen – Wo die Grenze ganz nah ist

Auch der Landkreis Regen, mitten im Bayerischen Wald gelegen, ist derzeit ein Corona-Hotspot. Allerdings lassen sich die vielen Neuinfektionen in dem rund 77.000 Einwohner*innen zählenden Kreis klar eingrenzen. Verantwortlich ist ein Ausbruch in einem Oberstufenjahrgang eines Gymnasiums, in dem über 20 Schüler*innen infiziert sind.

Unklar ist, ob die Ansteckung in der Schule oder bei einem privaten Treffen geschah. „Das können wir nicht ins ­Detail zurückverfolgen“, sagt Landkreis-Sprecher Heiko Langer. Fest steht nur, dass die Infizierten auch Freunde und Familienmitglieder angesteckt haben.

Für die meisten Jahrgänge ist daher vorerst Heimunterricht angesagt. Regen liegt direkt an der tschechischen Grenze, mit vielen Berufs­pend­ler*in­nen. Die Infektionsrate in Tschechien zählt aktuell zu den höchsten in Europa. Das habe aber in Niederbayern nach Angaben des Landkreises bisher keine spürbaren Auswirkungen gehabt. Vorgesorgt haben sie in Regen trotzdem – und auf einem Parkplatz eine mobile Teststation für Grenzpendler*innen aufgebaut.

Stadt Berlin – Wo gefeiert wird

Für viele Fragezeichen sorgen die hohen Fallzahlen in Berlin. Viele Infek­tio­nen in den Hotspot-Bezirken könnten auf Besuche in Bars, Kneipen und Restaurants zurückzuführen sein, heißt es aus den Gesundheitsämtern der Hauptstadt – anders als in Köln also. Auch private Partys in Wohnungen oder im Freien zählten hierzu. Restaurants und Bars im Bezirk Mitte hätten etwa eine hohe Anziehungskraft, die zu erhöhten sozialen Kontakten führten. Dass das Berliner Verwaltungsgericht am Freitag die vom Senat verhängte Sperrstunde aufgehoben hat, dürfte das Problem weiter erhöhen. Im September seien zudem viele Infektionen von großen Hochzeitsfeiern ausgegangen, heißt es etwa aus Neukölln.

Junge Menschen zwischen 15 und 29 Jahren gelten als zentrale Gruppe vieler Infektionen. Die hielten sich, so ist es aus Charlottenburg-Wilmersdorf zu hören, nicht diszipliniert genug an Verhaltensempfehlungen. Dies sei auch „kulturbedingt“ bei manchen „Communitys, die enger feiern“ der Fall, so ein Bezirksstadtrat. Integrationslots*innen sollen da helfen. Das Neuköllner Gesundheitsamt kann diese Behauptung aus dem Berliner Westen allerdings nicht bestätigen, da dazu verlässliche Daten fehlten.

Die Lage wird zudem immer ernster: Ein Gros der Infektionen sei gar nicht mehr zurückzuverfolgen, so die einhellige Rückmeldung aller Hotspot-Gesundheitsämter. Die besten schaffen gerade mal die Hälfte, viele deutlich weniger. Alle betonen die Personalknappheit. Zudem würden viele Infizierte nicht ausreichend mit dem Gesundheitsamt bei der Kontaktnachverfolgung kooperieren. Und bei Micky Maus und Batman, die laut Listen im Berliner Nachtleben unterwegs sind, geht keiner ans Telefon.

Ob und wie die Maßnahmen wirken, wird sich erst in den nächsten Tagen und Wochen zeigen. Steigt die Zahl der Neuinfektionen weiter an, könnten noch striktere Einschränkungen folgen. Im Beschluss von Bund und Ländern heißt es: Komme der Anstieg der Infektionszahlen nicht „spätestens binnen 10 Tagen zum Stillstand“, seien weitere „gezielte Beschränkungsschritte“ nötig.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Textes hieß es, dass sich nur rund zehn Prozent der Fälle nicht zurückverfolgen ließen. Das ist falsch: Das RKI schreibt in der Studie, dass sogar 73 Prozent der übermittelten Fälle keine Rückverfolgung zuließen.

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