Massenentlassung beim Essenslieferanten: Einfach nur ausgeliefert
Der Lieferdienst entlässt alle Kuriere in Hamburg. Viele stehen vor dem beruflichen Aus oder müssen bei einer Schattenflotte anheuern.

Bereits Mitte Juli hatten die sogenannten Rider:innen für einen Tarifvertrag und gegen den drohenden Aufbau einer Schattenflotte demonstriert. Sie wollten verhindern, dass die Liefer-Fahrer:innen von Subunternehmen und nicht von Lieferando direkt beschäftigt werden – und zwar zu viel schlechteren Konditionen. Doch der Streik lief ins Leere. Vor zwei Wochen kündigte Lieferando an, mehr als 2.000 Stellen abzubauen. Das betrifft alle Angestellten in Hamburg.
Einer von ihnen ist Issam Safouni. Der 41-Jährige ist seit 2019 in Vollzeit als Rider bei Lieferando angestellt. Er war geschockt, als er die Nachricht vom Stellenabbau las. Auch wenn er schon länger nicht mehr mit seinen Arbeitsverhältnissen zufrieden war. Zu Beginn seiner Tätigkeit hatte ihm der Job noch Spaß gemacht. Neben seinem regulären Gehalt hatte er immer einen Bonus bekommen, der die Rider:innen für die Auslieferung von möglichst vielen Bestellungen im jeweiligen Monat belohnt.
Nur: Über die Jahre sei es aber immer schwieriger geworden, mit den Boni die Bezahlung aufzubessern, sagt Safouni. Denn statt kurzen Routen in nahegelegenen Regionen wurden ihm vermehrt Strecken zugewiesen, die ihn quer durchs ganze Hamburger Stadtgebiet schickten.
Rider im Schwebezustand
Jetzt im Juli hat er zum Beispiel um die 200 Bestellungen ausgeliefert. Früher fuhr er regelmäßig um die 400 Aufträge im Monat. Dementsprechend fallen die Boni sehr viel geringer aus. Er berichtet von Einbußen von um die 500 Euro bei ihm und seinem Kolleg:innen.
Durch die angekündigte Entlassung steht der 2015 aus Syrien gekommene dreifache Familienvater nun vor einer ungewissen Zukunft. Wann er endgültig arbeitslos wird, weiß er auch noch nicht, da die Entlassungen zwar angekündigt, aber noch nicht vollzogen worden sind. Deshalb kann sich Safouni auch nicht auf neue Stellen bewerben. Er hofft auf eine ausreichende Abfindung, die als Teil des von Lieferando angekündigten Sozialplanes noch ausgehandelt werden muss.
Der Hamburger Betriebsrat lässt sich in der Sache zusammen mit der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) erst einmal beraten und will dann in die Verhandlungen gehen. Dabei sollen gute Konditionen für die Arbeitnehmer:innen ausgehandelt und die Entlassungen möglichst lang hinausgezögert werden, sagt der Betriebsratsvorsitzende Andreas Schuchard.
Lieferando will nach dem Stellenabbau vermehrt auf sogenannte Flottendienstpartner wie Fleetlery setzen, um die „eigene Agilität und Effizienz auf dem wachsenden Markt zu steigern“, wie es ein Lieferando-Sprecher ausdrückt. Zwar fahren in Hamburg dann weiterhin Kuriere im Auftrag von Lieferando Essen aus, diese sind dann aber bei anderen Unternehmen angestellt.
Laut Schuchard betreiben diese ein undurchschaubares Netz von weiteren Subunternehmen, in denen Schwarzarbeit und Verstöße gegen das Mindestlohngesetz an der Tagesordnung sein sollen. Dabei sollen gezielt Menschen mit Migrationshintergrund angeworben werden und als Scheinselbstständige für Dienstleister wie Lieferando Essen ausliefern, so Schuchard. Die entsprechenden Betriebe bereiteten sich bereits darauf vor, Kontrollen durch den Zoll und die Polizei zu umgehen.
Andreas Schuchard, Vorsitzender des Lieferando-Betriebsrats in Hamburg
Um solche Missstände zu unterbinden, wurde bereits im Oktober 2024 eine EU-Richtlinie verabschiedet, die die Arbeitsverhältnisse auf Plattformebene, das heißt bei den Internetdienstleistern, verbessern soll. Allerdings lässt sich die Bundesregierung mit der Umsetzung in Deutschland ordentlich Zeit. Bis heute hat sich in der Sache nichts getan und eine Ankündigung, wann es so weit sein wird, gibt es auch noch nicht. „Es kann nicht sein, dass die Politik bei solchen Arbeitsbedingungen zuschaut“, sagt Schuchard.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales arbeitet nach eigenen Angaben an einem entsprechendem Gesetz. Wann es denn fertig sein wird, konnte ein Ministeriumssprecher auf taz-Nachfrage nicht sagen. Kurioserweise hat Lieferando selbst die Bundesregierung bereits im Winter 2023 dazu aufgerufen, die Richtlinie auf Europaebene zu unterstützen.
Lange Zeit brüstete sich der Lieferdienst mit der Behauptung, dass er seinen Angestellten mit einer Direktanstellung und Vertretung durch Betriebsräte in der Branche einzigartige Konditionen biete – und das auch zurecht. Nun aber werden diese Prinzipien über Bord geworfen und Lieferando passt sich der Praxis von Wolt, Uber Eats & Co an. Wenn die Bundesregierung die EU-Richtlinie schon früher umgesetzt hätte, wäre Lieferandos Konkurrenz vielleicht gezwungen gewesen, sich Lieferandos Standards anzupassen und nicht umgekehrt.
Für Issam Safouni ist es keine Option, für Fleetlery oder dergleichen zu arbeiten. Er muss sich neu also orientieren – ein Job mit Konditionen, wie sie bis zuletzt bei Lieferando galten, ist in der Branche nicht einfach zu finden. Viele seiner Kolleg:innen sprechen noch nicht mal richtig Deutsch, was die Jobsuche schwer macht. Safouni hat in Deutschland vor seiner Tätigkeit als Rider keinen anderen Beruf ausgeübt. Die Suche nach einer neuen Anstellung dürfte daher auch für ihn schwierig werden.
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