Linke verliert bei der Bundestagswahl: Die verlorene Platte
Zwanzig Jahre lang hat Petra Pau Marzahn-Hellersdorf gewonnen. Doch jetzt triumphiert im Berliner Osten ein CDU-Mann. Wie konnte das geschehen?
Ein Rentner, Elektriker von Beruf, zuckt die Schultern: „Weeß ick och nich. Meine zwei Kreuze haben die Linken bekommen.“ Seit 1991 wähle er die Partei, die vorher PDS hieß, genauso lange, wie er hier in Marzahn wohne. Direktkandidatin Petra Pau kenne er auch persönlich. „Der Bezirk hat sich aber auch verändert, ist viel bunter hier.“
Eine Gesellschaft, die sich verändert, eine Partei, die nicht mitkommt. Vielleicht ist das schon ein Teil der Antwort auf die Frage, warum die Linke bei dieser Bundestagswahl im Kleinen wie im Großen verloren hat. Nicht einmal 5 Prozent der Wähler:innen stimmten am Sonntag für die Partei.
Der Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf galt 30 Jahre lang als linke Hochburg. Er fungierte auch als Lebensversicherung. In den 90ern und zuletzt 2002 war es das hiesige Direktmandat, das Kandidat:innen der PDS zum Einzug in den Bundestag verhalf, als die Partei die 5-Prozent-Hürde verfehlte. So wie dieses Mal wieder, nur ohne Marzahn-Hellersdorf.
Die rote Burg ist gefallen
Denn seit dem Sonntag ist die rote Burg gestürmt. Der Verlust steht beispielhaft für die Entwurzelung der Linken im Osten, für den Schwund der alten Stammwähler:innen. Ohne den Osten, wo sie lange Volkspartei war, ist die Linke eine Kleinstpartei.
Die Suche nach den Ursachen beginnt vor dem Wahlkreisbüro von Petra Pau in Marzahn-Hellersdorf, es befindet sich im Erdgeschoss eines hellen Betonbaus. Hier im Zentrum von Marzahn ist viel Beton verbaut. Marzahn war die erste Berliner Großsiedlung, die die DDR in den 1970ern errichten ließ. Die Wohnungen waren begehrt, Zentralheizung, Warmwasser, Müllschlucker im Treppenhaus.
Marzahn-Hellersdorf beherbergt heute den größten Plattenbau Europas und gleichzeitig eine der ausgedehntesten Eigenheimsiedlungen. Platte und Häuschen – der Bezirk vereint die ganze Bandbreite sozialer Gegensätze. 250.000 Menschen leben hier, so viele wie in ganz Aachen oder Chemnitz.
Petra Pau, Jahrgang 1963, lebt seit 1989 in Marzahn. Aufgewachsen ist sie in einer Berliner Altbauwohnung, kein Bad, die Toilette im Hausflur teilen sich sechs Parteien. Vor der Wende arbeitet Pau als Pionierleiterin, ab 1991 als Berufspolitikerin für die PDS. Seit 2002 gewinnt sie in Marzahn-Hellersdorf das Direktmandat. Jedes Mal. In Hochzeiten holt sie fast jede zweite Stimme.
Am Sonntag verpasst Pau erstmals das Direktmandat. 39.403 Stimmen gehen an Mario Czaja von der CDU, nur 29.259 an sie. Bundesweit verharrt die Linke bei dünnen 4,9 Prozent und erreicht nur über drei Direktmandate als Fraktion den Bundestag. Über die Landesliste gelingt es Pau, dennoch wieder in den Bundestag zu kommen.
Die CDU als neue Kümmererpartei
Zu Besuch bei der Frau mit dem roten Igelhaarschopf. Nicht in ihrem Marzahner Büro, sondern im Bundestag, wo ihr als Noch-Vizepräsidentin ein Büro mit Blick auf den Reichstag zusteht. Es ist Dienstagmorgen, in einer Stunde beginnt die erste Fraktionssitzung der um 30 auf 39 Mitglieder geschrumpften Fraktion.
Dass die Linke überhaupt Fraktionsstatus hat, verdankt sie einer Besonderheit der Geschäftsordnung. Wenn eine Partei mehr als 5 Prozent der gewählten Abgeordneten stellt, gilt sie als Fraktion und nicht nur als Gruppe mit deutlich weniger Rechten. Die Linke repräsentiert 5,3 Prozent der Abgeordneten.
Pau kennt die Geschäftsordnung gut, hat sie gleich nach dem Aufwachen am Montagmorgen studiert. Zu Bett gegangen sei sie am Sonntag noch mit dem Gedanken, dem Bundestag nicht länger anzugehören.
Warum der Bezirk nach 30 Jahren an ihren Herausforderer ging? Pau redet nüchtern, fast emotionslos. Wie nahe ihr die Niederlage geht, lässt sich nur erahnen. Eine Ursache sei der sehr personalisierte Wahlkampf um das Direktmandat gewesen. Der 46-jährige Mario Czaja, wie Pau Urberliner und zudem im Bezirk geboren, tritt als Kiezkümmerer auf, setzt auf kommunale Themen, etwa ein Freibad.
„Seitdem das Bad in Mahlsdorf Anfang der 90er geschlossen wurde, sind wir die einzige Großstadt ohne Freibad. Wir kämpfen seit Langem dafür“, erklärt Pau. Das Bundesinnenministerium habe jedoch Geld für Neubauten verweigert, das sei Aufgabe der Kommune. Das habe Czaja natürlich nicht thematisiert. Ihre Stimme bebt vor Empörung.
Positiv formuliert hat sich die CDU das Kümmererimage der einstigen PDS geschnappt, die im Osten immer den Anspruch vertrat, vom Mieter- bis zum Kleingartenverein vor Ort präsent zu sein. Hat die Linke das vielleicht zu leichtfertig aufgegeben und stattdessen auf soziale Bewegungen gesetzt, wo sich die jungen Neumitglieder tummeln?
Petra Pau
„Wir sind auch die Kümmererpartei“, entgegnet Pau fest. „Das heißt, wir sind für die Leute da.“ Sie sei in den letzten Monaten täglich im Bezirk unterwegs gewesen, stand ab sechs vor der U-Bahn-Station und hat am Nachmittag Erbsensuppe mit dem Deutschen Roten Kreuz an Bedürftige ausgegeben. Mehr Präsenz ging also nicht? Sie breitet ratlos die Arme aus. „Es sei denn, jemand hätte sich nachts noch mit mir treffen wollen.“
Zur Erbsensuppeausgabe gesellte sich an diesem Donnerstag vor der Bundestagswahl auch Mario Czaja, der auch ehrenamtlich Präsident des Roten Kreuzes ist. „Wir bekriegen uns nicht“, sagt Pau. Ihr gehe es immer darum, hart in der Sache zu sein, aber niemals persönlich verletzend. „So habe ich es immer gehalten.“
Der Streit in der Partei
Innerhalb von Paus Partei hat dieses Prinzip in den letzten Jahren nicht unbedingt gegolten. In einer sehr persönlich geführten Auseinandersetzung streiten die Lager um den richtigen Kurs. Ein Kreis wirbt um Wähler:innen, die nach rechts abzuwandern drohen, setzt dabei auch auf nationalistische Töne. Eine andere Gruppe bemüht sich um die jungen Leute, denen Umweltschutz und Minderheitenrechte am Herzen liegen.
Obwohl sich die Genoss:innen zuletzt, die Niederlage vor Augen, disziplinieren, ist diese unversöhnlich geführte Diskussion noch längst nicht beendet. Man muss sich nur die Pressemitteilung anschauen, mit der Oskar Lafontaine am Montag ankündigt, im nächsten Jahr nicht mehr für den Landtag in Saarbrücken zu kandidieren. Als Ursache für den Absturz der Linken nennt er „die Übernahme grüner Politikinhalte – offene Grenzen für alle, starke Betonung von Minderheitenthemen und ein Klimaschutz über Verteuerung von Benzin, Gas und Heizöl“.
Dass die Linke bei der Bundestagswahl über 1,4 Millionen Wähler:innen an SPD und Grüne verloren hat, muss diese These nicht unbedingt stärken.
Andere, wie die scheidende Abgeordnete Heike Hänsel, sehen die zu starke Fokussierung auf eine Regierungsbeteiligung als Ursache für den Absturz. Da ist von einer „tödlichen Strategie“ die Rede.
Petra Pau widerspricht. Das Gegenteil sei richtig: Der Linken fehle eine realistische Umsetzungsperspektive. „Wir haben ein massives Problem, inwieweit uns noch die Kompetenz zugeschrieben wird, Probleme zu lösen“, sagt sie. Sie deutet aus dem Fenster auf den Reichstag. Nur der Tatsache, dass der Bundestagspräsident seinen Dienstsitz im Westen habe, sei es zu verdanken, dass die Mitarbeiter des deutschen Parlaments nach dem Westtarif bezahlt würden. 30 Jahre nach der Wiedervereinigung gelten in Ost und West immer noch unterschiedliche Löhne und Renten. Und die einstige Ostpartei, die Linke, hat daran in 30 Jahren nichts ändern können.
Pau sagt, ihre Partei müsse jetzt eine strategische und programmatische Debatte führen. Sie hat da schon mal eine Idee skizziert. „Links sein im 21. Jahrhundert“, heißt ihr Büchlein, veröffentlicht vor zwei Jahren. Paus zentrale These: „Rote müssen im 21. Jahrhundert zugleich Grüne und Piraten sein. Nur so kann aus dem nötigen Kontra zum Bestehenden ein werbendes Pro für Neues werden – bündnis- und mehrheitsfähig.“
Pau muss jetzt los zur Fraktionssitzung. Forschen Schrittes eilt sie zum Reichstagsgebäude. Wie sich die Fraktion jetzt neu aufstellen müsse? Zunächst mal sollten sich einige nicht mehr für den Nabel der Welt halten, sagt sie. Wen sie meine? Keine Namen. Stattdessen lobt sie die beiden neuen Parteivorsitzenden, Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow. Beide hätten sich vorbildlich verhalten: die eigene Person zurückstellen und versuchen, alle zu integrieren.
Otto Wels statt Clara Zetkin
Auf der Fraktionsebene unter der Reichstagskuppel wird Pau von einem Mitarbeiter empfangen. „Wir sind bei der SPD im Otto-Wels-Saal.“ Ob die Linke ihren alten Versammlungsraum, den Clara-Zetkin-Saal, weiter für sich nutzen kann, steht noch nicht fest.
Fest steht dagegen, dass das Freibad in Marzahn gebaut wird. Der rot-rot-grüne Senat hat die Mittel dafür in den Haushalt eingestellt. Mario Czaja von der CDU wird das wohl als seinen Erfolg verkaufen. Aber Pau ist fest entschlossen, dort auf jeden Fall schwimmen zu gehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste