Linke und Israel: Zwingende Prinzipien
Ja, an der Politik Israels ist aus progressiver Sicht viel zu kritisieren. Aber unumstößliche Bedingung ist, das Existenzrecht Israels anzuerkennen.
S chon in den ersten Tagen nach dem bestialischen Terrorangriff der Hamas auf israelische Zivilist*innen wurde deutlich, wie unterschiedlich linke Bewegungen auf den 7. Oktober und den Krieg gegen die Hamas blicken. Die diametral gegensätzlichen Positionen der internationalen und der deutschen Sektion von Fridays for Future zeigen dies eindrücklich. Es ist legitim, zu diesem Konflikt sehr unterschiedliche Positionen einzunehmen.
Und doch gibt es Prinzipien bei der Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt, die für alle progressive Bewegungen zwingend sein sollten. Das gilt erst recht, wenn sie für sich in Anspruch nehmen, kluge Zukunftskonzepte zu vertreten, und sich grundsätzlich für Frieden einsetzen. Für uns gehören im Folgenden diese zwingenden Prämissen zum diskursiven Rahmen mit Blick auf den Nahostkonflikt:
Auf der grundlegenden Ebene gehört dazu eine universalistische Haltung, die Israelis und Palästinensern gleichermaßen mit Mitgefühl begegnet. Daraus folgt für uns das Gebot der Humanität, also vor politischen Äußerungen – insbesondere, wenn sie erstmals nach dem 7. Oktober artikuliert werden – zunächst den Opfern und ihren Angehörigen sein Mitgefühl auszusprechen und den Terror der Hamas klar zu verurteilen:
Die Hamas hat Kinder gefoltert, Leichen verstümmelt, Hunderte Menschen auf einem Festival hingerichtet und niedergemetzelt, Friedensaktivist*innen entführt. Die Hamas ist keine Befreiungsorganisation, sondern eine faschistische Bewegung, die Meinungsfreiheit, LGBTQIA*-Rechte, Frauenrechte, Demonstrations- und Pressefreiheit brutal unterdrückt und zu deren Kern seit ihrer Gründung der Antisemitismus zählt.
Vor diesem Hintergrund macht die Stellungnahme des autonomen Berliner Hausprojekts „Rigaer Straße“ vom 1. November sprachlos. Die Hamas-Morde an den Festivalteilnehmer*innen als Weg zur Befreiung auszulegen, muss man erst einmal hinkriegen. Dass man sein Menschsein nicht über Bord werfen muss, um Israel zu kritisieren, zeigt hingegen die Interventionistische Linke Berlin: Sie demonstriert, dass die unmissverständliche Verurteilung der Gräueltaten und die Distanzierung von der Hamas ohne Probleme mit einer harten Kritik am Vorgehen der israelischen Armee und der Siedlungspolitik im Westjordanland vereinbar sind.
Der Nahostkonflikt wird von sehr vielen linken Organisationen durch die historischen und analytischen Linsen der postkolonialen Theorie betrachtet. Das ist aus vielen Gründen schwierig, vor allem aber ist es ahistorisch. Und gleichermaßen mutet es ironisch an, war es doch deren Errungenschaft, die kolonialen Unterdrückungsmechanismen aus den verstaubten Archiven herauszuholen und ihre heutigen politischen Implikationen zu verdeutlichen.
Der Nahostkonflikt zeigt indes, dass sich der Postkolonialismus gut für Geschichtsklitterung und Antisemitismus eignet. Dadurch fällt hinten runter, dass Jüdinnen und Juden dasselbe historische Anrecht haben, in der Region zu leben wie Palästinenser*innen. Juden werden gleichgesetzt mit weißen europäischen Eroberern, die unermessliches Leid in die Länder Amerikas, Afrikas und Asiens gebracht haben. Doch wer diese Parallele zieht, negiert die Geschichte des jüdischen Volkes und des Nahen Ostens vor und nach 1947.
Zuwanderung seit Ende des 19. Jahrhunderts
In den heute völkerrechtlich anerkannten Gebieten Israels leben seit tausenden Jahren Jüdinnen und Juden. Eine erste größere Zuwanderung aufgrund der Pogrome im zaristischen Russland Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte weitestgehend friedlich durch Landkäufe von der ansässigen Bevölkerung. Zudem sind die meisten der heute in Israel lebenden Jüdinnen und Juden Nachfahren der Juden, die nach 1948 aus Ländern wie Syrien, Ägypten und dem Irak vertrieben wurden, obwohl sie dort hunderte Jahre gelebt hatten.
Am Handeln des Staates Israel gab und gibt es zu Recht viel zu kritisieren – nicht erst, aber insbesondere seit der aktuellen ultranationalistischen Regierung Netanjahu. Aus progressiver und menschenrechtlicher Sicht muss man die Politik des Staates Israel kritisieren: so die jahrelange Blockade des Gazastreifens, die diskriminierende Politik gegenüber der arabischen Bevölkerung in Israel und die völkerrechtswidrige Besatzung und brutale Siedlungspolitik im Westjordanland. Hier muss sich Israel mit den gleichen Maßstäben messen lassen, die wir an die Politik anderer Staaten anlegen. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Nicht überlebensfähig ohne Unterstützung
Die Anerkennung des Existenzrechts Israels ist dabei die Prämisse, von der aus diese Kritik entspringen muss. Dieses Recht zu negieren, bereitet die Grundlage für eine Entmenschlichung der israelischen Zivilbevölkerung und für die Rechtfertigung der Morde und Hinrichtungen von mehr als 1.400 Menschen. Die Anerkennung des Existenzrechts Israels sollte deswegen für linke Bewegungen, die sich auf das Völkerrecht berufen, eine Selbstverständlichkeit sein. Das gilt vor allem angesichts der Tatsache, dass die Gründung des Staates auf einen Beschluss der UN-Vollversammlung von 1947 zurückgeht. Dass es den dazu korrespondierenden palästinensischen Staat noch nicht gibt, ist unverzeihlich. Dennoch wäre es historisch einseitig, im Hinblick auf die Geschichte seit 1947, die Verantwortung dafür allein Israel anzuhängen.
Nichtsdestoweniger haben vermeintlich progressive Organisationen kein Problem damit, die sofortige Beendigung jeglicher US-amerikanischer Hilfe für Israel zu fordern. Stillschweigend erkennen sie Israel damit de facto das Existenzrecht ab. Ohne militärische und finanzielle Unterstützung – insbesondere durch die USA – wäre Israel nicht überlebensfähig in Anbetracht der offenen Feindschaft von Ländern wie dem Iran und den von ihm unterstützten Terrormilizen wie der Hisbollah. Und ohne die frühere Hilfe hätte Israel die vergangenen Kriege verloren und würde heute nicht mehr existieren.
Astrid Deilmann ist seit 2022 geschäftsführende Vorständin bei Campact. Felix Kolb gehört zu den Mitbegründern von Campact und ist seit 2008 geschäftsführender Vorstand.
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