Linke Parteien in Europa: Vorwärts immer, rückwärts nimmer?
Ob in Deutschland, Spanien oder Griechenland – die Linke steckt in der Krise. Die Europawahlen im Juni sind entscheidend für ihre Zukunft.
O b sich das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) nach der Europawahl der Linksfraktion in Straßburg anschließen will? Fabio De Masi, der designierte Spitzenkandidat, winkt ab. Die neue Partei verstehe sich nicht als links, auch wenn er selbst aus einer politischen Traditionslinie komme, „die im weitesten Sinne links ist“, sagt der frühere Linken-Europa- und Bundestagsabgeordnete. Außerdem sei er sich „nicht einmal sicher“, ob es die Linksfraktion in der kommenden Legislaturperiode überhaupt noch geben werde, spöttelt er.
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Auch auf der europäischen Ebene wollen Wagenknecht und ihre Getreuen mit den einstigen Genoss:innen offensichtlich nicht mehr viel zu tun haben. „Aber vielleicht findet sich ja auch etwas Neues“, orakelt De Masi bei der Präsentation des BSW am Montag vergangener Woche in Berlin.
Schon jetzt ist die Linke mit 38 Abgeordneten aus 13 Ländern die kleinste Fraktion im Europaparlament (EP). Dass sie nicht mal das mehr nach der Wahl im Juli schafft, ist allerdings unwahrscheinlich. Eine Fraktion muss mindestens 23 Abgeordnete aus mindestens sieben Mitgliedstaaten umfassen. Dafür dürfte es weiterhin reichen. Aber dass sich die Parteien links der Sozialdemokratie in einer schweren Krise befinden, lässt sich nicht bestreiten. Und zwar ausgerechnet dort, wo sie einst ihre Hochburgen hatten.
In Deutschland kämpft die Linkspartei ums Überleben. Mit Parteichef Martin Schirdewan und der 35-jährigen parteilosen Klimaaktivistin und Seenotretterin Carola Rackete an der Spitze hofft sie, dass die EU-Wahl die Trendwende bringt. Denkbar ist aber auch der Absturz ins Bodenlose. Mit 5 Abgeordneten wird sie jedenfalls wohl nicht mehr ins Parlament einziehen.
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Noch dramatischer werden dürfte es für Podemos in Spanien. Denn die Linke in Spanien ist in einem heftigen Umbruchprozess. Zuerst hat sich Podemos gespalten, dann ist das Bündnis mit der Izquierda Unida, der Vereinigten Linken, zerbrochen. Bei den spanischen Parlamentswahlen durfte Podemos zwar noch beim Wahlbündnis Sumar dabei sein. Die EP-Wahl könnte jedoch das Ende für die einstige linkspopulistische Hoffnungsträgerin nicht nur auf der EU-Ebene bedeuten. Aber zumindest wird es weiter Spanier:innen in der Linkenfraktion geben.
Sicher ist, dass die griechische Syriza nicht mehr mit 6 Abgeordneten im EP vertreten sein wird. Wobei noch nicht ausgemacht ist, ob ihre Reste sich dann überhaupt noch wieder der Linksfraktion anschließen werden. Unter Parteichef Alexis Tsipras war Syriza bei der Wahl 2019 mit 23,8 Prozent die mit Abstand erfolgreichste Linkspartei in der EU. Doch inzwischen kann sie froh sein, wenn sie noch die Hälfte davon erhält und nicht hinter der poststalinistischen Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE) landet – was nicht ausgemacht ist.
Denn der mit der Urwahl des 35-jährigen griechisch-amerikanischen Geschäftsmanns Stefanos Kasselakis zum neuen Vorsitzenden verbundene radikale politische Kurswechsel von Syriza ins diffus Liberale hat zu einer Spaltung der Partei geführt – auch in der EP-Fraktion, wo 4 der 6 Abgeordneten inzwischen Syriza verlassen haben, darunter Dimitrios Papadimoulis, einer der Vizepräsidenten des EP. Ob es den Bewahrer:innen der linken Tradition um Ex-Arbeitsministerin Effie Achtsioglou und Ex-Finanzminister Euklid Tsakalotos gelingen wird, mit einer neuen Linkspartei erfolgreich zu sein, ist völlig offen. Und die KKE? Die ist und bleibt seit ihrem Austritt aus der Linksfraktion 2014 eine autonome Einheit, ohne jegliche Anschlussfähigkeit zu irgendwem.
„Natürlich sind solche Spaltungsprozesse, wie sie sich in Griechenland oder auch in Spanien vollzogen haben, absolut fatal“, sagt der deutsche Linken-Chef Martin Schirdewan, der auch gemeinsam mit der Französin Manon Aubry der EP-Linksfraktion vorsteht. „Gerade in Zeiten des Rechtsrucks braucht es eine starke gesellschaftliche Gegenwehr, da sind solche Spaltungen alles andere als hilfreich.“ Trotzdem blickt er nicht allzu pessimistisch auf die EU-Wahl.
In den skandinavischen Ländern hofft er auf Zuwächse, auch in Belgien, vor allem aber bei Sinn Féin, der mittlerweile stärksten Partei in Irland. „Wir stehen alle vor ähnlichen Herausforderungen“, so Schirdewan zur taz. Es gehe darum, Politik im Sinne der Menschen zu gestalten. „Das gelingt im Moment in manchen europäischen Ländern der Linken besser als in anderen.“ Pascal Beucker
Belgien
Für die Parti du Travail de Belgique, beziehungsweise Partij van de Arbeid (nicht zu verwechseln mit den niederländischen Sozialdemokrat*innen) wird 2024 ein entscheidendes Jahr: im mehrsprachigen Königreich werden am 9. Juni nämlich auch neue föderale und regionale Parlamente gewählt. Die einzige Partei des Landes, die im niederländischsprachigen Norden wie im frankofonen Süden aktiv ist, kann dort ihren Aufwärtstrend der letzten Jahre fortsetzen.
Bislang stellen die Sozialist*innen – Schlagwort: „erst die Menschen, nicht die Gewinne“ – 12 von 150 Abgeordneten. Die monatlichen Umfragen, wie in Belgien üblich getrennt nach den Regionen Wallonien, Flandern und Brüssel, geben ein gemischtes Bild: zwar fällt man im traditionell links dominierten Wallonien auf 14 Prozent, ist aber in der Hauptstadt mit gut 19 aber erstmals virtuell stärkste Partei und springt im rechts geprägten Flandern von gut 5 auf fast 10 Prozent.
Damit hat sich die PTB/PVDA, die sich stärker als alle anderen Parteien zur Einheit des Landes bekennt, in ganz Belgien als Hoffnung auf eine soziale und (verteilungs-)gerechte Politik etabliert. Dass sie diesen Ansatz selbst praktiziert, zeigt das seit 50 Jahren existierende Praxis-Netzwerk „Medizin für das Volk“, das auf ihre Initiative entstand. Zudem beschränken sich Abgeordnete von PVDA/PTB auf ein durchschnittliches Angestellten-Gehalt und treten den Rest ihrer Saläre ab- für die „Kampf-Kasse“, aus der Kampagnen und Proteste gegen „unsoziale Regierungs-Maßnahmen“ finanziert werden.
Im komplexen belgischen Parteiengefüge bieten die Post-Maoist*innen ein Gegenmodell zur aktuellen uninspirierten Großen Koalition unter liberaler Leitung ebenso wie zum sezessionistischen Nationalismus des rechtsextremen Vlaams Belang, der in Flandern die stärkste Kraft zu werden droht. Tobias Müller
Italien
Waren es 100.000 Menschen oder 200.000? Wie jedes Jahr im September oder Oktober hatte die Partei Rifondazione Comunista (PRC) nach Rom gerufen, zu einem großen Marsch, für den es keinen besonderen Anlass brauchte außer dem Willen der Parteiführung, einfach mal Flagge zu zeigen von linksaußen, unter einem Meer von roten Fahnen. Doch das ist lange her – die letzte Massendemonstration fand im Jahr 2007 statt.
Immerhin konnte Rifondazione damals von sich behaupten, eine der stabilsten kommunistischen Partei in Westeuropa zu sein. Kein Wunder, im Jahr 1976 hatte die KPI bei den Parlamentswahlen stolze 34 Prozent geholt. Gewiss, damit war 1991 Schluss, als das Gros der Partei beschloss, vom Kommunismus Abschied zu nehmen und als sozialdemokratisch angehauchte „Demokratische Linke“ weiterzumachen. Links von ihr war jedoch Platz für die radikalen Linken, die den Schwenk nicht mittrugen, und bei jeder Wahl bis 2006 reichte es für 5 bis 6 Prozent.
Der Höhepunkt war in den Jahren 2006 bis 2008 erreicht: Da stellte Rifondazione nicht nur den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, sondern auch den Minister für gesellschaftliche Solidarität im Kabinett Romano Prodis, dessen Mitt-Links-Koalition die PRC mittrug.
Doch diese Koalition war der Anfang vom Ende. Zerrissen zwischen den gegenüber den eher gemäßigten Mitte-Links-Kräften Kompromissbereiten und den unbeugsamen radikal Linken spaltete sich Rifondazione. Die, die heute noch unter diesem Etikett segeln, sind auf klägliche 1,5 Prozent abgesunken. Im öffentlichen Diskurs, in den Medien kommt die PRC nicht mehr vor. Ein wenig besser geht es jener Kraft, die unter wechselnden Namen – von „Linke, Ökologie, Freiheit“ bis zu „Italienische Linke“ heute – in der breiten Mitte-Links-Allianz verharrte.
Doch mehr als 3 Prozent sind auch für sie nicht mehr drin. Statt einem Platz hat sie nur noch ein Plätzchen in Italiens Politikbetrieb. Zu verdanken hat sie ihre Malaise vor allem dem Erfolg der Fünf Sterne. Die waren 2013 erstmals bei nationalen Wahlen angetreten mit dem Versprechen, sie seien „weder rechts noch links“, doch mit ihrem rüden Anti-System-Gestus wurden sie auch für Millionen Wähler*innen von linksaußen attraktiv. Michael Braun, Rom
Österreich
Für Linksparteien ist Österreich traditionell ein hartes Pflaster. Daran änderten auch die Skandale der Ära Sebastian Kurz nichts. Auch durch die jüngsten Krisen – Korruption, Corona, Teuerung – kam die schwarz-grüne Regierung mehr schlecht als recht. Diese Themenlage müsste eigentlich linken Parteien entgegenkommen. Tatsächlich profitiert bisher nur die rechtsnationale FPÖ, die alle Umfragen anführt.
Spätestens im Herbst finden Nationalratswahlen statt. Die Grünen sind derzeit die linkste Partei im österreichischen Parlament, wenngleich keine klassische Linkspartei. Als Juniorpartner in der Regierung kamen sie zudem immer wieder unter die Räder der ÖVP. Kaum besser die Lage der Sozialdemokraten, die seit Jahren schwächeln. Auch der Linkskurs des neuen Vorsitzenden Andreas Babler brachte bisher keine Verbesserung.
Spannend wird die weitere Entwicklung der Kommunisten. Bei der Landtagswahl im nicht eben linken Kernland Salzburg kam die KPÖ auf knapp 12 Prozent. Seit Ende 2022 ist außerdem mit Elke Kahr eine Kommunistin Bürgermeisterin von Graz – und weiterhin ungebrochen beliebt. Bundesweit käme die Partei derzeit auf 3 bis 4 Prozent, ein Einzug in den Nationalrat scheint damit in Reichweite.
Ein Hauptgrund für die KPÖ-Erfolge waren die Spitzenkandidaten und ihre nicht nur behauptete Bürgernähe: Elke Kahr in Graz und Kay-Michael Dankl in Salzburg engagierten sich jahrelang in der Zivilgesellschaft, etwa bei Mietervereinen. Bis heute spenden beide einen Großteil ihrer Bezüge für Menschen in Notlagen. So wurden sie auch für viele, die ansonsten nicht am Kommunismus anstreifen wollen, zur Anlaufstelle – und am Ende zur Wahloption.
Chancen könnte auch die linke Bierpartei haben, die 2019 den Einzug ins Parlament noch deutlich verpasste. Bei der Bundespräsidentschaftswahl 2022 kam Parteigründer und Spitzenkandidat Dominik Wlazny immerhin auf 8 Prozent. Man versteht sich nur halb als Spaßpartei, zu den Themen zählen neben „Bierbrunnen“ auch Kinderrechte, Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit. Florian Bayer, Wien
Griechenland
Ein Rückblick: Brechend voll ist der Saal an einem kalten Sonnabend im Dezember 2014 in Heraklion auf Kreta, als der Hauptredner ans Pult tritt. Alle wollen ihn sehen, ihn hören, ihn bejubeln. Alexis Tsipras, Bubi-Gesicht, Koteletten, hellblaues Hemd, wie immer ohne Schlips, wirkt eher wie ein Rockstar auf der Bühne. Doch dann fängt er an zu reden. Er spricht den Satz ins Mikrofon, der Geschichte hätte schreiben können:„Wir werden die Musik spielen und die Märkte werden nach unserem Tempo tanzen.“ Brandender Applaus.
Doch es kam alles anders. Das lange ein Mauerblümchendasein fristende „Bündnis der radikalen Linken“ („Syriza“), das unter Tsipras in den Wirren der desaströsen Griechenlandkrise im Eiltempo den hellenischen Polit-Olymp erklomm und Anfang 2015 – international viel beachtet – zur Regierungspartei avancierte, beugte sich im Juli 2015 dem Druck von Hellas' öffentlichen Gläubigern. Flugs setzte Syriza, wenn auch zähneknirschend, den rigiden Sparkurs in Athen fort.
Die Gegenwart: Dem kometenhaften Aufstieg in den Zehnerjahren folgte bei den Doppelwahlen im Frühjahr 2023 der jähe Absturz. Hatte Syriza auf dem Zenit seiner Popularität als unangefochten stärkste „echt“ linke Partei in Europa 36 Prozent der Stimmen auf sich vereint, brachen die Radikallinken beim jüngsten Urnengang am 25. Juni auf 17,83 Prozent ein, sagenhafte 23 Prozentpunkte hinter der weiter alleine regierenden konservativen Nea Dimokratia. Das Vorbild Syriza für die europäische Linke kollabierte.
Die Tendenz: weiter fallend – trotz neuem Parteichef. Der Elan, den der vermeintliche Heilsbringer Stefanos Kasselakis versprach, verpuffte schnell. Aus Protest gegen Kasselakis' Kurs, der Syriza weiter in die Mitte rücken will, haben elf Abgeordnete die Partei verlassen. In ihrer neugegründeten „Nea Aristera“ („Neue Linke“) ist nun ein weiterer Konkurrent für Syriza im – zu Füßen der Akropolis ohnehin sehr zersplitterten – linken Parteienspektrum erwachsen. In jüngsten Umfragen dümpelt Syriza bei rund zwölf Prozent. Pikanterweise hat die schon totgesagte Pasok Syriza überholt.
Der Ausblick: Schafft Syriza bei den Europawahlen nicht die Kehrtwende, könnte für Kasselakis die Luft an der Parteispitze rasch sehr dünn werden. Hartnäckigen Gerüchten in Athen zufolge lauert Ex-Premier Tsipras, der am 28. Juli erst 50 wird, auf ein spektakuläres Comeback an die Syriza-Parteispitze. Die Rückkehr an die Macht ist für Syriza indes in weite Ferne gerückt. Das liegt am verstärkten Verhältniswahlrecht, das hierzulande auch beim nächsten Urnengang spätestens im Frühjahr 2027 gilt. Denn der Wahlsieger streicht einen Mandatebonus ein. Das kann sich Syriza wohl abschminken. Ferry Batzoglou, Athen
Polen
„Zum ersten Mal seit 18 Jahren sind wir wieder an einer Regierung beteiligt“, freute sich der Linke Wlodzimierz Czarszasty nach den Parlamentswahlen Mitte Oktober. „Wisst ihr, was das bedeutet?!“, fragte er noch auf der Wahlparty und gab gleich selbst die Antwort: „Unsere Forderungen bleiben keine Träume mehr, sondern werden umgesetzt und schaffen eine neue Lebenswelt.“ Dafür notwendig sei eine Partei, im Falle Polens ein Bündnis von gleich drei linken Parteien. „Ohne uns kommt keine demokratische Regierung zustande“, so Czarszasty, der dem Bündnis der Neuen Linken vorsteht.
Die stärkste Position im Bündnis ist die postkommunistische Linke von Czarszasty, dann folgt der 2019 gegründete Frühling (Wiosna) von Robert Biedron, dem ersten Politiker Polens, der sich offen zu seinem Schwulsein bekannte und sich auch für die Rechte anderer Minderheiten einsetzte. Wiosna fusionierte 2021 mit der Linken zur Neuen Linken, der sich aus wahlstrategischen Gründen auch die 2015 gegründete Partei Razem (Gemeinsam) anschloss. Noch 2015 hatte Razem unter ihrem Vorsitzenden Adrian Zandberg für eine noch nie dagewesene Wahlkatastrophe der Linken in Polen gesorgt: statt die wenigen Kräfte zu bündeln, startete ein kleines Linken-Zweierbündnis und sehr stolz Razem als unabhängige Linke und Einzelpartei. Am Ende zog keine einzige linke Partei ins Parlament ein, da alle unter der 5-Prozent- beziehungsweise 8-Pozent-Hürde für Bündnisse blieben.
Diesen Fehler wiederholte Razem bei den Wahlen 2019 und 2023 nicht mehr, doch an der gerade von zwölf Millionen Bürgern gewählten Mitte-Links-Regierung ist Razem – anders als die Nowa Lewica – nicht beteiligt. Sie schieden bei den Koalitionsgesprächen aus, als klar wurde, dass die konservativen Parteien in der neuen Regierung sich schwertun würden bei der Wiederherstellung der Frauenrechte, die die nationalpopulistische Vorgängerregierung unter der Recht und Gerechtigkeit (PiS) stark beschnitten hatte. Razem ist also auf der Liste einer der heutigen Regierungsparteien ins Parlament gekommen, teilt sich nun als mit gerade mal sieben Abgeordneten die Oppositionsbank mit 194 Nationalpopulisten und der rechtsextremen Konföderation (18 Sitze). Doch alle linken Parteien in Poles Parlament scheinen mit ihrer aktuellen Situation mehr als zufrieden zu sein. Gabriele Lesser, Warschau
Spanien
Alles begann 2014 mit dem überraschenden Gewinn von fünf Europaabgeordneten – und alles könnte jetzt zehn Jahre später bei erneuten Wahlen für Straßburg enden. Hinter der spanische Partei Podemos – Wir können – lieg ein kometenhafter Aufstieg und ein rasanter Fall. Im Januar 2014 von einer Gruppe rund um den Politikprofessor und Talkshowstar Pablo Iglesias gegründet erreichte die Protestpartei fast alles. Sie war 2015 kurz davor die Sozialisten zu übertreffen, regierte ab 2019 mit ihnen als Juniorpartner.
Der Zusammenschluss mit der postkommunistischen Vereinigten Linken zu Unidas Podemos (UP) – Gemeinsam können wir – hätte rein rechnerisch dazu gereicht, die sozialistische PSOE des heutigen Ministerpräsidenten Pedro Sánchez 2016 zu überrunden. Doch eben nur rein rechnerisch. Nach dem Bündnis erzielten beide zusammen eine Million Stimmen weniger, als zuvor getrennt.
Wo linke Politik als „gesunder Menschenverstand“ verkauft wurde, fand sie breite Zustimmung in Spaniens krisengebeutelter Bevölkerung. Doch als die gleiche Politik als „echtes linkes Programm“ in Abgrenzung zu den „zaghaften Sozialisten“, angepriesen wurde, war das nicht mehr so, auch wenn UP ab 2019 als Juniorpartner in einer Linkskoalition mitregierte.
Hinzu kam eine Pressekampagne, wie sie nie zuvor eine Partei erdulden musste. Korruption, illegale Finanzierung, persönliche Fehltritte, alles wurde behauptet, führte zu Anzeigen und Ermittlungen. Nichts ist geblieben. Alle Verfahren wurden eingestellt. Der Schaden allerdings war angerichtet.
Der Zusammenschluss zu UP führte zu einer internen Spaltung in die, die rund um Iglesias den neuen Linkskurs verfolgten und denen, die weiter eine transversale Politik im Stile der lateinamerikanischen Linkspopulisten anstrebten. Es kam zu Spaltung und Säuberung. Während sich Iglesias mit Politkern aus einer der zahlreichen Fraktionen der Kommunistischen Partei umgab und Wahl für Wahl Stimmen verlor und letztendlich in vielen Regionen und Städten aus Parlament und Räten flog, ist das Vorzeigemodell der transversalen Politik, Más Madrid – Mehr Madrid, heute in Hauptstadt- und Hauptstadtregion stärkste Oppositionskraft.
Letzte strategische Fehlentscheidung vollzog Podemos, die mittlerweile von einem neuen Team rund um Ione Belarra und die Ex-Partnerin von Iglesias, Irene Montero, geleitet wird, Anfang Dezember. Zuerst schlugen sie einen Ministerposten aus, da der nicht für eine der beiden Frauen gewesen wäre, und dann verabschiedeten sich die fünf Podemos-Abgeordneten aus der Fraktion des Linksbündnisses Sumar rund um Arbeitsministerin Yolanda Díaz.
Iglesias selbst hatte Díaz als seine Nachfolgerin an Spitze einer linken Liste bestimmt. Doch als Díaz zu eigenständig wurde und die Linke auf ihre Art vereinte – Ex-Podemos-Politiker und Más Madrid inklusive – kam es zu immer mehr Streitigkeiten.
Podemos preist sich nun als einzige nicht systemkonforme Linke an. Bei den Europawahlen wird sich zeigen müssen, ob dies bei den WählerInnen zieht. Alles unter den 8 Prozent von 2014 wäre wohl der Todesstoß für Podemos, die eigentlich längst nicht mehr Podemos ist. Reiner Wandler, Madrid
Dänemark
Wer in Dänemark rot sieht, denkt nicht an die Regierung. Die Koalition unter der Sozialdemokratin Mette Frederiksen ist in Sachen Migrationspolitik auf Rechtskurs. Dafür fallen einem zwei andere Akteure ein: Die Rot-Grüne Allianz (RGA, Enhedslisten) und die Socialistik Folkeparti (auf Englisch: Green Left). Doch wie rot sind diese Parteien? Seit Dekaden im Parlament, haben sie erstaunliche Wandlungen durchgemacht. Die Socialistik Folkeparti, die sich 1959 von der kommunistischen Partei abspaltete, propagiert ein demokratisch-sozialistisches Dänemark.
Sie setzt sich für Feminismus, Menschen- und Minderheitenrechte ein. Zur Kapitalismuskritik gesellte sich ein ausgeprägter Euro-Skeptizismus – bis in die Nullerjahre. 2006 sprachen sich dann 66 Prozent der Mitglieder für eine Teilnahme an der „Ja-Kampagne“ im Rahmen eines Referendums über eine Europäische Verfassung aus. 2022 gehörte die Socialistik Folkeparti einer breiten Koalition an, die Dänemarks Sonderweg im Bereich einer gemeinsamen EU-Verteidigungspolitik beendete. Die Partei hat alle Rollen durchprobiert: Opposition, Unterstützer einer Minderheitsregierung (etwa 2019 bis 2022 unter Frederiksen, schon damals mit rechten Anwandlungen) sowie Mitglied in der Regierung (2011 bis 2014). Bei der Wahl 2022 kam sie auf 8,3 Prozent und ist größte Oppositionspartei. Im Europaparlament ist sie Teil der grünen Fraktion.
Die RGA, aus marxistischen Gruppen hervorgegangen, tritt für eine sozialistische Transformation Dänemarks ein – notfalls mittels Revolution. Zu den Forderungen gehören Kampf gegen Ungleichheit, Ausweitung des Wohlfahrtsstaates sowie Diversität. Die RGA wirbt für den Nato-Austritt, aber nicht mehr dafür, die EU zu verlassen. Ab 2019 stützte auch sie Frederiksen teilweise – wohl ein Grund für das maue Ergebnis bei der Wahl 2022. Zwar wurde die RGA in Kopenhagen mit 24,6 Prozent stärkste Kraft, kam aber landesweit nur auf 5,1 Prozent. Laut Rosa-Luxemburg-Stiftung habe die Allianz eine Chance, wieder auf die Beine zu kommen, indem sie die rechte Regierung bekämpft, ihre radikale Vision neu entdeckt und eine glaubwürdige Alternative anbietet. Barbara Oertel
Portugal
Mariana Mortágua soll es richten. Die 36-jährige Wirtschaftswissenschaftlerin, die den Portugiesen vor allem durch ihre Teilnahme an TV-Debatten bekannt ist, steht seit Frühjahr dem „Block der Linken – Bloco de Esquerda – vor. Die Partei die einst 1999 aus linken Kleinorganisationen, wie der Albanien treuen Demokratischen Volksunion oder der trotzkistischen Revolutionäre Sozialistischen Partei entstand, steckt mal wieder in der Krise. Nach einem sensationell guten Abschneiden 2015 – drittstärkste Kraft mit 10,2 Prozent – verlor der Bloco – wie die Partei kurz und bündig genannt wird – 2022 14 seiner 19 Parlamentssitze.
Pragmatische Politik scheint in Portugal ein Problem für die Linke jenseits der regierenden Sozialisten des vor wenigen Wochen zurückgetretenen António Costa zu sein. 2015 unterstützte die Linkspartei Costa und verhalf ihm so zu einer Minderheitsregierung. 2022 dann – nach der Weigerung den Haushalt der sozialistischen Minderheitsregierung mitzutragen – sackte die Partei in der Wählergunst ab, wie nie zuvor. Jetzt werden die Wahlen zum Europaparlament zum Testlauf für die neue Führung des Bloco unter Mortágua.
Trotz seiner alles anderen als unorthodoxen Vergangenheit schottete sich der Bloco nach seiner Gründun nicht ab. Er stand Neuzugängen offen, modernisierte sich und und verstand es so zur Alternative für junge, urbanen WählerInnen zu werden. Neben sozialen Themen, steht der Bloco für Umweltpolitik, die Forderung nach Rechten für sexuelle und soziale Minderheiten.
Mortágua will jetzt auch bei linken Kernthemen die zu den Sozialisten abgewanderten Stimmen zurückholen. „Dafür arbeiten, dass alle Menschen ein gutes Leben haben“, verspricht sie. Als Visitenkarte dient ihr das sogenannte Mortágua-Steuer. Die 2016 eingeführte Abgaben für Immobilienbesitz von mehr als 500.000 Euro, ging auf ihre Initiative zurück. Sie saß damals gerade einmal 3 Jahre im Parlament. Der Bloco unterstützte die Minderheitsregierung Costa und verlangte im Gegenzug soziale Maßnahmen.
Die Kommunistische Partei Portugals (PCP) hingegen ist unter den letzten ihrer Art in Westeuropa. Die über 100 Jahre alte Partei zieht Wahl für Wahl erneut ins portugiesische Parlament ein. Orthodox, wie sonst nirgends in Europa, versuchen sich Portugals Kommunisten zumindest am Wahlsonntag einen modernen Anstich zu geben. Neben Hammer und Sichel sowie PC in Rot ziert das letzte P in grün das Parteilogo. Bei den Wahlen treten sie unter dem „Namen Einheitliche Demokratische Koalition“ (CDU) zusammen mit einer kleinen grünen Formation an.
Die große Zeit der Kommunisten waren die Jahre nach der Nelkenrevolution, die Portugal von der Diktatur in die Demokratie führte. 18,8 Prozent wählten 1979 die PCP unter deren historischen Führer Álvaro Barreirinhas Cunhal. Die PCP war die Partei des antifaschistischen Widerstandes in den langen Jahrzehnten der Diktatur und die bestimmende Kraft in der größten Gewerkschaft des Landes, der CGT.
Trotz sinkender Tendenz, zuletzt nur noch 4,3 Prozent der Stimmen, war sie in den letzten Jahren sogar entscheidend für eine Parlamentsmehrheit der Sozialisten. Doch genau diese Annäherung an den mittlerweile abgetretenen Ministerpräsidenten António Costa ließ die PCP oder besser die CDU an den Urnen einbrechen. Der Wählerschaft war dies wohl zu viel der Öffnung andere liefen aus Pragmatismus nach Jahren der harten Austeritätspolitik zu den Sozialisten über.
Die kommenden Europawahlen sind die ersten einer neuen Ära. 2022 legte der langjährige Generalsekretär und Nachfolger von Barreirinhas Cunhal, der Metallarbeiter Jerónimo de Sousa, sein Amt nieder. Der 30 Jahre jüngere Paulo Raimundo trat mit 18 der Partei bei und sitzt seit seinem 20. Lebensjahr im Zentralkomitee. Er und seine kollektive Führung versuchen der Partei ein Image der Erneuerung zu verpassen und wieder auf deutliche Distanz zu den Sozialisten zu gehen. Zieht diese Linie bei den WählerInnen nicht, sind die Europawahlen wohl der Anfang eines langsamen aber sicheren Ende der portugiesischen Ausnahme. Reiner Wandler
Niederlande
Als vor einem Monat die Mitglieder des neu gewählten Parlaments in Den Haag vereidigt wurden, entfielen auf die Socialistische Partij gerade fünf der 150 Sitze. Der scheinbar unaufhaltsame Absturz der Partei mit dem Logo der knallroten Tomate hatte sich auch bei den Wahlen Ende November fortgesetzt. War die SP 2006 noch mit 25 Abgeordneten drittstärkste Partei, verlor sie nun vier ihrer zuvor neun Sitze- ein Tiefpunkt in der 51 jährigen Geschichte der Ex-Maoist*innen.
Ihr Niedergang geht einher mit dem stetigen Schrumpfen des linken Spektrums in den Niederlanden. Letzteres konzentriert sich heute auf die sozialdemokratisch-linksgrüne Kooperation. Die SP setzt sich davon ab durch einen energischeren Kurs gegen den harten Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte, den Arbeitspartei und GroenLinks teils mittrugen. Letztere wiederum gehen auf Distanz zur SP, die kulturell deutlich konservativer ist, mehr Vorbehalte gegen Zuwanderung hat und schon in den 1980ern auf Integrationsprobleme von Gastarbeiter*innen hinwies.
Eigentlich passt das Profil der Socialistische Partij – nah an Menschen mit sozio-ökonomischen Problemen, aktivistisch und in ihrem demonstrativen Abstand zu „Den Haag“ oder „Brüssel“ nicht zuletzt auch populistisch – durchaus zu jenen Themen und Perspektiven, die für niederländische Wähler*innen derzeit entscheidend sind. Dass sie dennoch gerade nun derart abgestraft wird, unterstreicht, dass diese die Antworten auf die soziale Malaise zunehmend auf der Rechten suchen.
Als Reaktion auf den Absturz trat im Dezember die langjährige Fraktionsvorsitzende Lilian Marijnissen zurück, obwohl sie intern wie auch im Parlament hohes Ansehen genießt. Nachfolger Jimmy Dijk will Den Haag wieder zu einem Ort machen, an dem „hart arbeitende Menschen sich repräsentiert fühlen“. Tobias Müller, Amsterdam
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