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Wer viel spart, hat schwer zu tragen Foto: Adobe Stock, Montage: taz

Lindner und die SchuldenbremseDann geh' doch in die Schweiz!

Von Neoliberalen wird Christian Lindner als „Rockstar“ gefeiert, weil er an der Schuldenbremse festhält. Von vielen anderen Seiten wächst der Druck.

E r könne „endlich wieder atmen“, sagt Christian Lindner, als preise er die gute Schweizer Bergluft. Es ist der 3. November 2023, ein Jahr vor dem Ampel-Aus, Lindner ist noch Finanzminister. Im dunklen Anzug und pinker Krawatte steht er im Hörsaal 1 der Uni Luzern und spricht zu Studierenden der Wirtschaftswissenschaften. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt. Weil der Andrang so groß ist, wird Lindners Rede nach draußen gestreamt, das Video steht bis heute im Netz.

Der FDP-Politiker soll eine öffentliche Vorlesung zur Finanzpolitik halten. Doch vorher schmeichelt er den Gastgebern: „Nachdem ich im staatsgläubigen Deutschland lebe und arbeite, bin ich gern in die freisinnige Schweiz gekommen. Und nachdem die politischen Realitäten mich zwingen, mit Sozialdemokraten und Grünen zu regieren, freue ich mich, die Luft der Freiheit zu atmen.“ Lacher und Applaus im Publikum, Lindner grinst.

Fast auf den Tag genau ein Jahr später wird er die Regierungskoalition in Deutschland platzen lassen. Nach einem monatelangen Streit über Geld für den Klimaschutz stößt Lindner mit einem Grundsatzpapier für eine „Wirtschaftswende“ seine Koalitionspartner vor den Kopf. Kanzler Olaf Scholz wird Lindner entlassen, später wird sich herausstellen, dass Lindners FDP den Bruch lange geplant hatte.

Zentraler Streitpunkt: die Schuldenbremse. Und auch wenn CDU-Chef Friedrich Merz im Wahlkampf nun allen das Migrationsthema aufgezwungen hat, ist eine der größten Fragen nach wie vor offen: Woher kommt das Geld, das Deutschland so dringend braucht, um Brücken zu reparieren, die Bahn zu sanieren, die Ukraine zu unterstützen? Wie geht es weiter mit der Schuldenbremse?

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Rezession, Stellenabbau, Insolvenzen – ist Deutschland wirklich abgewrackt? Die taz schaut hin und fragt, welche Chancen in der Krise liegen könnten. Alle Texte zum Thema finden Sie hier.

Darum geht es auch ein Jahr zuvor in Luzern. Organisiert hatten den Abend Christoph A. Schaltegger, Professor der Wirtschaftswissenschaften, und René Scheu, Ex-Feuilleton-Chef der größten Schweizer Tageszeitung NZZ. Die beiden leiten das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik, kurz IWP. Sie sind Teil eines weit verzweigten Netzwerks liberaler und libertärer Ökonomen, die sich dem Kampf für sinkende Staatsausgaben verschrieben und dabei engste Verbindungen auch ins deutsche Finanzministerium aufgebaut haben.

Obwohl Lindner nur für einen kurzen Redebeitrag angefragt war, hatte er „eine ganze Vorlesung geplant“ – so steht es in Mails zur Veranstaltung, die die Zürcher Wochenzeitung WoZ über ein „Öffentlichkeitsgesuch“ beschafft hatte. Für die Darstellung seiner These benötige er „schon etwas Zeit“, ließ Lindner Schaltegger wissen. Der sicherte dem Minister „alle Zeit der Welt“ zu. Am Ende spricht Lindner eine halbe Stunde über die Schuldenbremse als „ein Hauptelement der Ordnungspolitik.“ Das Publikum ist dankbar. Denn die Schuldenbremse ist eine Erfindung der Schweiz, die Deutschland sich zum Vorbild nahm.

„Rockstarwürdig“ nennt IWP-Chef Scheu Lindners Rede, als sie vorbei ist. Dann gibt es Apéro, einen Stehempfang und Flying Dinner im benachbarten Hotel für rund 50 Gäste.

Schalteggers Institut ist ein wichtiger Player in einer internationalen Szene liberal-libertärer Akteure, die vermeintlich übermäßige Staatsausgaben für die Wurzel allen Übels halten. Es produziert meinungsstarke akademische Papiere, Gastkommentare in diversen Medien und Verlagsbeilagen in der NZZ.

Im September 2024 erscheint eine zwölfseitige NZZ-Strecke mit dem Titel „Sparen, Sparen, Sparen“. Schaltegger interviewt darin Lindner, sein Kompagnon Scheu spricht mit Lindners schweizerischer Amtskollegin Karin Keller-Sutter. Die nennt die Schuldenbremse eine „gute Freundin“, die von „linker Seite bekämpft“ werde. Die NZZ weist darauf hin, dass die Seiten „komplett von einem Kunden finanziert“ seien. „Redaktionsmitglieder des Unternehmens NZZ arbeiten freiwillig mit.“

Pure neoliberale Ideologie

Mitpubliziert hat die Beilage das Freiburger Werner Eucken Institut (WEI). Dessen Leiter ist der Ökonom Lars P. Feld. Den hatte Lindner im Februar 2022 zu seinem „Persönlichen Beauftragten für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung“ ernannt. Auch Feld ist im liberal-libertären Milieu eine wichtige Figur – er publiziert seit Langem zusammen mit Schalt­egger. Die beiden sind Vorstände des WEI. Feld ist außerdem Vorstand und Schaltegger Mitglied von Nous, einem am WEI angesiedelten Zusammenschluss neoliberaler Ökonomen, Philosophen und Historiker. Nous wiederum war zumindest bis Ende 2024 „Partner“ des Atlas Networks – der wohl weltweit einflussreichsten Sammelbewegung neoliberal-libertärer Akteure, inklusive Fossil-Konzernen und Klimawandel-Leugnern.

An einem Freitag im Januar erklärt Schaltegger der taz die Vorzüge der Schuldenbremse. Staaten seien stets verlockt, mehr Geld auszugeben als sie einnehmen, sagt er. Sie folgten den „süßen Klängen der Sirenen“. Schalt­egger verweist darauf, dass Deutschland heute eine Staatsquote von fast 48 Prozent habe.

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Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.

Gemeint ist: Pro jeweils 100 Euro, die jährlich im Land erwirtschaftet werden, geben die öffentlichen Haushalte zusammen etwa 48 Euro aus, die sie über Steuern, Abgaben oder Kreditaufnahme beschafft haben. Damit liegt Deutschland fast genau im EU-Schnitt. Investiert werden vom Staat hierzulande indes nur unterdurchschnittliche rund 3 Prozent der Wirtschaftsleistung.

Schaltegger findet es kaum nachvollziehbar, dass der Bund bei diesen großen finanziellen Spielräumen keine nötigen Ausgabenschwerpunkte setzen könne – etwa in der Sicherheitspolitik. Gewiss, so sagt er, gebe es in Deutschland einen Investitionsstau. Das Problem sei aber nicht das fehlende Geld. Ein handlungsfähiger Staat dürfe nicht „jede Interessengruppe, die ein Anliegen hat, mit Subventionen und Transfers“ bedienen. Interessenverbände seien oft „sehr partikular unterwegs“ und „Beutejäger auf die gesamte Staatskasse“. Die Verantwortung für diese „Allmende“, das Allgemeinvermögen also, nehme seitens der Politik „praktisch niemand ein.“ So sehe Schaltegger seine Aufgabe als Ökonom darin, die „Allmende“ zu hüten und den Zugang zu ihr „so zu regulieren, dass der Staat nicht zur Beute der Interessengruppen wird.“

Zurückgezogene Zitate

Wer mehr öffentliches Geld, etwa für Soziales, Klima, Gesundheit, Entwicklungshilfe oder Bildung ausgeben will, verfolgt „Partikularinteressen“, vor denen man den Staat „schützen“ muss – das ist neoliberale Ideologie. Dass dahinter nicht selbst „Partikularinteressen“ stehen – nämlich jene von Vermögenden, die niedrige Steuern wollen –, ist zumindest zweifelhaft. Schalteggers Institut gibt auf seiner Website an, „in niemandes Interesse oder Dienst“ zu stehen. Doch von privaten Gebern bekommt es mehrere Millionen Franken pro Jahr. Auf die Frage, woher das Geld stammt, antwortet Schaltegger nebulös. In der Autorisierung zieht er die entsprechenden Zitate dann zurück – die Frage nach den Finanziers sei nicht das Thema.

Dass die Schuldenbremse heute immer mehr Schützenhilfe von wirtschaftsnahen Akteuren bekommt, hat auch damit zu tun, dass ihre Akzeptanz bröckelt. Zum ersten Mal meint eine Mehrheit der Bevölkerung, die Schuldenbremse müsse „angepasst“ werden, wie gerade eine Forsa-Studie ergeben hat.

Das war nicht immer so. Lange Zeit waren viele Deutsche Fans der Schuldenbremse. Kritik gab es nur vereinzelt – bis zum 15. November 2023. Da erklärt das Bundesverfassungsgericht den zweiten Nachtragshaushalt der Ampel-Regierung für verfassungswidrig. 60 Milliarden Euro, die für Klimaschutz vorgesehen waren, fehlen damit plötzlich im Budget. Die Ampel hatte Geld, das sie während der Corona-Pandemie an der Schuldenbremse vorbei aufgenommen, aber nicht ausgegeben hatte, für Klimaschutz umgewidmet. Das lehnten die Verfassungs-Richter*innen ab. Es war der Anfang vom Ende der Koalition.

Seitdem steht die Schuldenbremse deutlich stärker als zuvor in der Kritik. Ökonomen verschiedenster Denkschulen fordern eine Reform. Bundesbank-Chef Joachim Nagel sagte jüngst auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos, das „Gesamtkonzept der Schuldenbremse“ müsse überarbeitet werden. Selbst Angela Merkel, in deren Amtszeit die Schuldenbremse ins Grundgesetz kam, plädierte zuletzt für eine Reform.

Streitbegriff: Generationengerechtigkeit

Gegner und Befürworter der Schuldenbremse begründen häufig mit demselben Begriff ihre Ab- beziehungsweise Zuneigung: Generationengerechtigkeit. Wer die Schuldenbremse befürwortet, meint, die Gesellschaft dürfe Kindern keine Schulden hinterlassen. Doch viele interpretieren Generationengerechtigkeit heute anders: Wir dürfen unseren Kindern keine kaputten Straßen hinterlassen – und erst recht keinen zerstörten Planeten.

Nach Berechnungen zweier Wirtschaftsinstitute braucht Deutschland bis 2035 rund 600 Milliarden Euro, um seine Infrastruktur zu sanieren: Um Brücken und Schuldächer zu reparieren, Gebäude energetisch zu sanieren, den ÖPNV zu modernisieren. Mit der Schuldenbremse wie sie heute ist, ist das nicht zu machen.

2009, als die Schuldenbremse ins Grundgesetz getackert wurde, sahen das nur wenige kommen. Man mache die Schuldengrenze für die Seniorin, die sich Sorgen um ihre Rente mache,und für die jungen Leute, die morgen Verantwortung für Deutschland übernehmen wollten, sagte etwa eine CDU-Abgeordnete im März 2009. „Denn allen ist klar: Die Schulden von heute sind die Steuererhöhungen von morgen.“

Gebracht hatte die Schuldenbremse die sogenannte Förderalismusreform. Die Große Koalition von Angela Merkel setzte im Dezember 2006 eine Kommission ein, um die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern neu zu regeln. Einige Länder und Kommunen waren damals hoch verschuldet. Die rot-grüne Vorgängerregierung unter Gerhard Schröder hatte zwar eine Steuer nach der anderen gesenkt und damit Milliarden zu Gunsten der Reichen verteilt, die europäischen Fiskalregeln hatte sie dabei aber vernachlässigt: Die Staatsverschuldung war seit der Wiedervereinigung explodiert. Allein für die Zinsen zahlte der Bund damals 40 Milliarden Euro pro Jahr. Eine Schuldenbremse schien die Lösung und die Föderalismuskommission II sollte sie entwickeln.

Knapp drei Jahre debattierte die Kommission. Dokumente aus dieser Zeit zeigen viel Begeisterung – aber auch harte Auseinandersetzungen über Details der Schuldenbremse. Soll ein gänzliches Schuldenverbot her? Welche Regeln gelten für den Bund, welche für die Länder? Wie sollen das finanzstarke Bayern, wie das hoch verschuldete Bremen, Saarland und Schleswig-Holstein behandelt werden?

Die Debatten wurden emotional geführt und immer wieder wurde auf das 2003 in Kraft getretene Schweizer Modell geschaut: „Einige von uns bekommen leuchtende Augen, wenn sie davon hören“, sagt eine SPD-Abgeordnete damals. Mitglieder der Kommission reisten nach Bern, um mehr über die Schweizer Schuldenbremse zu erfahren. Die Grünen beauftragten Zürcher Professoren mit einem Gutachten zur Frage, ob das Schweizer Modell auf Deutschland übertragbar sein könnte. In einer Sachverständigenanhörung im Juni 2007 traten dann 17 Experten auf. Zwölf davon sprachen sich für die Schuldenbremse aus – darunter waren neben Lars P. Feld auch zwei Wirtschaftsprofessoren aus der Schweiz, die beide mit Christoph Schaltegger und Feld publizierten. Sie priesen die Schweiz als Vorbild an.

Auch die Grünen beteiligten sich mit großem Eifer an den Diskussionen. Als erste Bundestagsfraktion legten sie im Sommer 2007 einen Gesetzentwurf vor, plädierten für eine Schuldenbremse, die Investitionen zulässt. Sie wollten das Instrument unbedingt. Doch als die Finanzkrise 2008 die Diskussionen ins Wanken brachte, fürchtete Fritz Kuhn, damals Fraktionsvorsitzender der Grünen, die Schuldenbremse könne nicht mehr durchsetzbar sein. Die Grünen seien überzeugt, schrieb er, dass diese „jetzt noch dringender erforderlich“ sei. Auf taz-Anfrage will sich Kuhn heute nicht dazu äußern. Er habe keine Erinnerung an die Zeit, schreibt er.

„Sterbehilfe“ für die Bundesländer

Einer, der sich gut erinnert, ist Bodo Ramelow. Er saß als Vertreter der Linken in der Föderalismuskommission II. Die Schuldenbremse lehnte er von Anfang an ab, einmal nannte er sie „Sterbehilfe“ für die überschuldeten Bundesländer, ein anderes Mal ein Modell „profunder Schlichtheit“.

Fragt man ihn heute danach, redet er sich in Rage. „Allen war klar, dass eine Schuldenbremse nicht funktioniert, wenn die drei Bundesländer, die strukturell in der Finanzfalle saßen, nicht vorher entschuldet werden“, sagt er. „Aber zur Entschuldung von Bremen, dem Saarland und Schleswig-Holstein war der Bund nicht bereit.“ Vor allem die CDU-CSU-regierten Staaten Hessen, Baden-Württemberg und Bayern hätten das blockiert, aus Eigeninteresse. Ramelow fühlt sich in seiner Haltung durch die Diskussionen von heute bestätigt.

Den Tag, an dem wir die Schuldenbremse beschlossen haben, habe ich als einen der traurigsten Tage in meiner politischen Karriere in Erinnerung

Bodo Ramelow

Tatsächlich machte die Schuldenbremse später nicht nur dem Bund, sondern auch ärmeren Ländern wie Bremen das Leben schwer. Der junge Grüne Ökonom Jan Fries wurde 2007 Leiter des Referats Haushaltspolitik in der Bremer Senatskanzlei. „Die Linie war damals: Wir sind für eine Schuldenbremse – aber für eine, die wir auch einhalten können“, sagt Fries. Bremen wollte sich zunächst entschulden lassen, um sich künftig kein neues Geld leihen zu müssen.

Der Schuldenstand lag 2005 bei 13,4 Milliarden Euro – rund der Hälfte der bremischen Jahreswirtschaftsleistung. „Erdrosselnd“ nennt Fries das heute. „Die Verschuldung habe so eine „natürliche Grenze erreicht, das hatte so seine Richtigkeit, diese Mechanismen einzuziehen.“ Bremens oberstes Verhandlungsziel sei gewesen, dass eine „unverschuldete Haushaltsnotlage“ anerkannt wurde.

Doch den Pleite-Ländern die Schulden komplett abzunehmen, kam für die Kommission nicht infrage. Und Horst Seehofer setzte als frisch gewählter Ministerpräsident von Bayern letztendlich durch, was vorher nicht verabredet war. Der Bund darf von nun an pro Jahr 0,35 Prozent des BIP neu an Krediten aufnehmen, für die Länder gilt eine schwarze Null. Sie sollen sich ab 2020 überhaupt nicht mehr verschulden dürfen. „Erpressung“ nennt Bodo Ramelow das heute. „Den Tag, an dem wir die Schuldenbremse beschlossen haben, habe ich als einen der traurigsten Tage in meiner politischen Karriere in Erinnerung.“

Seit dem 1. August 2008 regelt ein neuer Artikel 115 im Grundgesetz fortan die engen Grenzen der erlaubten Schuldenaufnahme.

Dafür, wie weitreichend diese Entscheidung ist, gab es nur wenig öffentliche Kritik. Rund 60 Öko­no­m*in­nen unterschrieben einen offenen Brief, der mit „Die Schuldenbremse gefährdet die gesamtwirtschaftliche Stabilität und die Zukunft unserer Kinder“ überschrieben war. Auch aus den Gewerkschaften kam ein leises Murren. In den Medien hingegen blieb es auffallend still. Als der Bundestag am 29. Mai 2008 die Schuldenbremse beschloss, brachte die Tagesschau einen kurzen Beitrag als dritte Meldung. In den Zeitungen erschien kaum ein kritischer Kommentar, auch nicht in der taz. Kaum jemand, so schien es, erkannte die Tragweite der Entscheidung. Sparen war der Zeitgeist, Krisen und Kriege schienen weit weg.

Das Land Bremen hatte sein Ziel zwar erreicht – seine „unverschuldete Notlage“ wurde anerkannt. Doch die von den übrigen Ländern zugesicherten Sanierungshilfen fielen mit zunächst 300 Millionen Euro pro Jahr deutlich zu niedrig aus, als dass Bremen sich tatsächlich hätte entschulden können. Gerettet hatte Bremen in den Folgejahren die günstige Konjunktur: Niedrige Zinsen, hohe Steuereinnahmen. Heute hat das Bundesland satte 23,4 Milliarden Euro Schulden – rund 10 Milliarden Euro mehr als zu Beginn der Verhandlungen in der Föderalismuskommission. Unter anderem für Corona-Folgen und für den Klimaschutz hatte sich das Land erneut Geld geliehen.

Das Beispiel zeigt, dass die Schuldenbremse allein keineswegs dazu führen muss, dass sich ein Haushalt stabilisiert. Die Gefahr von Zinserhöhungen bedroht die Zahlungsfähigkeit. „Bei 2 Prozent mehr strecken wir alle viere von uns“, sagt Jan Fries heute. Steigende Zinsen würden schnell jeglichen politischen Handlungsspielraum einengen und hätten wahrscheinlich auch Leistungseinschränkungen zur Folge. Trotzdem sei es richtig gewesen, dem Deal damals zuzustimmen.

Im Bund aber lägen die Dinge anders, sagt Fries, der heute als Staatsrat in der Umweltbehörde unter anderem für die Klima-Investitionen zuständig ist. Um „das Staatsmodell tragfähig zu machen“, brauche es Investitionen in Wirtschaft und Gesellschaft. „Beim Bund ist die Kreditwürdigkeit da. Es gäbe Spielräume, Kredite aufzunehmen.“ Fries plädiert für neue Schuldenregeln, die „vermögensneutrale“ Investitionen ermöglichen. „Die sollten nicht auf die Schuldenbremse angerechnet werden.“

Ungefähr das will auch Grünen-Kanzlerkandidat Robert Habeck. Noch-Kanzler Olaf Scholz will die Schuldenbremse für die Ukraine-Hilfen aussetzen, im SPD-Wahlprogramm ist ebenfalls von einer „Reform“ zugunsten von Investitionen die Rede. Die Linke will das Instrument ohnehin in die Tonne treten. Die Union gelobt in ihrem Wahlprogramm zwar, an der Schuldenbremse festzuhalten, im November allerdings sagte Kanzlerkandidat Friedrich Merz, man könne diese „selbstverständlich“ reformieren, wenn es „wichtig für Investitionen, wichtig für Fortschritt, wichtig für die Lebensgrundlage unserer Kinder“ sei.

Nur Christian Lindner lässt nicht los. Im November verkündete er, er habe sich „nicht für die Schuldenbremse auf die Straße setzen und öffentlich herabwürdigen lassen, um mich danach an ihrer Aufweichung zu beteiligen.“ Auf Wahlplakaten der FDP steht nun der Slogan: „Schulden: Kinder haften für ihre Eltern“.

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13 Kommentare

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  • Das für mich zentrale Argument kommt hier gar nicht vor: Zinszahlungen (derzeit inkl. aller Schulden in DE, Bund, Land, Gemeinden, Sondervermögen) betragen derzeit ca. 40 Mrd Euro pro Jahr. Das ist eine gigantische Umschichtung von Arm nach Reich, ja das weiß ich deswegen so genau, da ich einen Staatskredit via KfW für 0,8% habe und das gesparte Geld anstatt für Rückzahlung zu nehmen wieder für 3% per Bundesanleihe zurück verleihe. Somit 2,2 %/a leicht verdientes Geld. Will irgendwie auch keiner hören.



    Mir hat noch niemand irgendwie erklären können, wie angeblich alles kaputt gespart wurde. Steht halt als Begriff oft genug im Raum. Ich befürchte eher, dass alles kaputt konsumiert wurde. Vom Staatshaushalt bis zur Umwelt. Und die Oberkonsumierer, ja wer das wohl ist? Kommt man selbst drauf.

  • Ich kann mich dunkel erinnern, das taz und Co früher immer vor mehr Schulden gewarnt haben. Sogar die Lindenstraße hatte eine Schuldenuhr. Jetzt ist die Schuldenbremse plötzlich eine reine Neocon Idee und die taz verkündet, der beste Weg aus den Schulden sind noch mehr Schulden.

  • … "So wurde im März 2011 eine Aufnahme der Schuldenbremse in die Verfassung des Landes Hessen per Volksabstimmung beschlossen."...



    Wie war das mit der dummen Kuh … läuft immer auf den eignen Metzger zu …?! Dummheit wird irgendwann immer bestraft. Und trotzdem wurden unendlich Schulden angehäuft in Form von …. maroder Infrastruktur, Schlusslicht in der Digitalisierung, nicht verteidigungsfähige Bundeswehr, Klima, … etc. D.h. für zukünftigen Generationen sind diese Schulden ein Mühlstein um den Hals. Sie dürfen sie endlos abstottern und gleichzeitig werden sie genau wegen dieser Schulden weiter abgehängt … Wettbewerbsfähigkeit und so ….



    Allein schon das Wort: Schuldenbremse - gruselig!

  • Die Dinge sind zunächst ganz einfach.



    Und sei auch den applaudierenden Wirtschaftsstudierenden gesagt, deren von Gemeinwesen finanzierte Studiengänge eben diesem Gemeinwesen etwas zurückzugeben haben. Statt sich in öffentlich finanzierten Seminaren über Casinospielsysteme und Wirtschaftsmodellannahmen zu freuen, in denen Menschen genauso Produkt sind wie eine Kartoffel oder ein Klappstuhl.

    Herr Lindner ist ansonsten halt Wirtschaftsdilletant. In der üblichen Verwechslung von Betriebswirtschaft mit Volkswirtschaft. Zwischen Unfähigkeit und Absicht.



    Unterliegt der brutal-gewalttätig-wirkmächtigen Behauptung, eine Staat könne wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden



    - siehe, Trump, Musk, etc. -

    Zur "Schuldenbremse" - süsser Begriff! - ist zu sagen: Dem Wesen, der Struktur, der Wirkung nach halt das aktuelle Geschäftsmodell, die aktuellen Kreditregeln einer Kapital privatisierenden Finanzwirtschaft. Kein komplizierter Vorgang. Noch muss man Sherlock Holmes sein, die Mechanismen und Strukturen zu durchschauen.

  • Spricht die Tatsache, dass Bundesländer wie Bremen und Berlin derart verschuldet sind, dass sie aus den „unverschuldeten“ Notlage nicht mehr herauskommen nicht gerade für eine Schuldenbremse und dagegen möglichst Deutschland auch derart zu verschulden, dass es da auch nicht mehr rauskommt?

  • Lindner hat trotz stattlicher Staatshilfe seine eigene Firma in die Pleite geführt. Alle Fachleute weisen nach, dass die Schuldenbremse -so wie sie besteht- Schwachsinn ist, selbst Merz geht in diese Richtung. Nur dieser Pleitier hält aus ideologischem und kindergartenähnlichem Trotz daran fest. Wir sollten diesem Schwadroneur nicht die Ehre antun immer wieder darüber zu diskutieren. Hoffentlich versinkt er unter der 5% Linie bald von selbst....

  • "die Lebensgrundlage unserer Kinder". Die Kinder schauen aktuell auf viele Billionen(!) Euro Schulden, die sie abstottern dürfen.

  • Sitzen jetzt auf 2,5 Billionen Euro Schulden. Inklusiver versteckter sind es 14,4 Billionen. Wann wollen wir das jemals zurückzahlen? Allein die Zinsen verschlingen 30-40 Milliarden Euro jährlich.

    • @Wonneproppen:

      Ja "Wonneproppen"



      - vielleicht sollten wir gar nichts zurück zahlen müssen.



      Ist schliesslich bloss das ungewählte und durch gar keinen demokratischen Prozess noch Entscheidungsstruktur bestimmte Geschäftsmodell der privaten Finanzwirtschaft, ihrer Kreditregeln.

      Für die hernach nicht einmal bleibender Wert - also zum Beispiel lang gültige und weithin wirkmächtige Infrastruktur des Gemeinwesen herauskommt.

      Früher war das ja der König, Kaiser, Fürst, der von den Kreditregeln der Fuggers und Medicis abhängig war.



      Selbst der hatte - entgegen der allgemeinen Annahme - in Wirklichkeit gar nicht so viel zu sagen in Fragen der "Schuldenfreiheit" des seit Menschen hengedenken verschuldeten Staates.

  • Wie sate Scholz soschön im letzten Bundestagwahlkampf? Wer Führung bestellt bekommt sie von mir geliefert. Als Bundeskanzler hätte er ja auch das Gespräch mit den anderen Parteien suchen können - immerhin ist eine 2/3 Mehrheit zum Aussetzen der Schuldenbremse nötig. Selbst wenn Lindner gewollt hätte wäre das Aussetzen mit den Stimmen der Ampel nicht gegangen.

  • Schuldenbremse heißt in einer Gesellschaft, in welcher alles zu bezahlen ist, kein öffentliches Geld. An dessen Stelle kann sodann privates treten. Eine einfache Rechnung.

  • Die (neokeynesianistischen) Medien, die ich zur Zeit der Verabschiedung der Schuldenbremse konsumiert habe, haben alle davor gewarnt.



    Es ist ja auch klar: weniger Steuern für Vermögende, Netto-Guthaben bei Unternehmen und Privathaushalten, und dann weniger Staatsschulden?



    Wie soll das gehen, woher soll dann Geldmengenwachstum, unerlässlich für Wirtschaftswachstum, kommen? Ein Sektor muss Netto-Schulden machen. Lange waren das in der BRD die Unternehmen (bis in die 90er), in geringerem Umfang der Staat.



    In den USA sind es die Privathaushalte und der Staat (bis jetzt zumindest)



    Bisher wurde das in der BRD z.T. durch den Exportüberschuss ausgeglichen, aber dessen Tage sind aufgrund machtpolitischer Verschiebungen sowie ökonomischer Versäumnisse gezählt.



    Unser Wirtschaftssystem basiert auf Schulden, interessant dass das immer noch nicht durchgedrungen ist.

  • Danke für die historische Einordnung, wie es zur Schuldenbremse kam.



    Die Schuldenbremse sehe ich ambivalent. Am Ende müssen für mehr Kredite auch mehr Zinsen gezahlt werden, die erwirtschaftet werden müssen.



    Dabei träumen viele Politiker und Ökonomen von weiterem Wachstum, was eher unwahrscheinlich ist.

    In Deutschland haben fast alle Alles was sie brauchen, da wird nur noch ersetzt, was kaputt geht. International hat Deutschland viel exportiert, nun haben andere Länder wie China technologisch aufgeholt.



    Zudem fehlen Deutschland künftig Arbeitskräfte, während Renten und Pflegeausgaben steigen. Eine alternde Gesellschaft konsumiert anders als eine junge.

    Meine These: Wir werden eine Phase der Stagnation erleben, in der es darum geht, die Wirtschaftsproduktion vor der weiteren Schrumpfung zu bewahren und den Lebensstandard zu halten.

    Möglicherweise werden wir uns einige Dinge als Privatperson, als Land und als Bund in Zukunft nicht mehr leisten können.

    Wichtig wäre es einen sozialen Ausgleich zu organisieren, erster Punkt: die Besteuerung der Superreichen, keiner sollte nach Steuern mehr als 500.000 Euro zur Verfügung haben, der Rest geht in die nächste baufällige Brücke.