Leben in Anarchie: Lützi blieb
Am Rande des Tagebaus leben drei Menschen selbstbestimmt in einer Gemeinschaft. Entsteht hier ein Gesellschaftsmodell für die Zukunft?
E s brummt in Wanlo. In dem 1.000-Seelen-Dorf mitten im Rheinland klingt es wie in einer Großstadt. Richtig still ist es in dem kleinen Ort nie, nicht einmal nachts. Aber das Brummen kommt hier nicht von Zügen oder Autos, sondern von einem gigantischen Kohlebagger, der im Osten von Wanlo den Boden wegfrisst.
Elli hört das Dröhnen gar nicht mehr, sie muss sich darauf konzentrieren, um es wahrzunehmen. „Etwa 500 Meter ist das Loch von hier entfernt“, sagt die 32-Jährige. Elli spricht rheinischen Dialekt. Sie hat weißblonde Haare, trägt einen grünen Hoodie und kuschelt mit einem goldbraunen Huhn, das sie im Arm hält. Sie ist in Wanlo aufgewachsen. „Das Loch“ nennt Elli den 3.000 Hektar großen Braunkohletagebau Garzweiler, einen der größten Tagebaue in Deutschland. In seiner Mitte heben sechs Schaufelbagger täglich bis zu 880.000 Kubikmeter Kohle aus – das ist mehr, als das größte Containerschiff der Welt auf einmal transportieren kann.
🐾 Von der Kneipe an der Ecke bis zum solidarischen Garten in Bogotá: Junge Autor*innen haben sich auf die Suche nach utopischen Ideen begeben. Die dabei entstandenen Artikel haben sie in einer Sonderausgabe der taz veröffentlicht.
„Auch Wanlo sollte einmal abgebaggert werden. Das wurde aber ganz früh verhindert, weil die Menschen sich zur Wehr gesetzt haben“, sagt Elli. Sie ist Anarchistin. Mit zwei Freund*innen, Ramu und Samu, lebt sie in einer Gemeinschaft. Sie alle wollen anonym bleiben und in der Zeitung bei ihren Spitz- und Vornamen genannt werden. Die drei haben sich im ehemals von Aktivisti besetzten Dorf Lützerath kennengelernt. Nach der Räumung im Frühjahr 2023 sind sie auf Ellis Grundstück nach Wanlo gezogen und haben dort ihre eigene anarchistische Gemeinschaft gegründet.
Der Bewegungsgarten – so nennen die Bewohner*innen das Grundstück – liegt direkt an einem der Eingänge des Dorfes. Es ist ein ungewöhnlich warmer Herbsttag Ende September. Beim Gang durch das kniehohe Gras werden die Hosenbeine nass. In der Feuerstelle in der Mitte des Gartens steht das Metallgestell eines Stuhls. In einem Baum hängen ausgelatschte Schuhe. „Spende für anarchistisches Wohnprojekt“ steht auf einem Schild am Balken eines selbstgebauten Holzgerüstes.
Anarchistisch bedeutet herrscher*innenlos. Viele Anarchist*innen wie Elli, Ramu und Samu lehnen jegliche Autorität durch Vorgesetzte, die Polizei und den Staat ab. Wie Studienergebnisse zeigen, sind sie nicht die einzigen jungen Menschen, die grundsätzlich mit dem System hadern: In einer Befragung der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung von 16- bis 30-Jährigen aus diesem Jahr sagte über die Hälfte der Befragten, dass es keine Partei gibt, dessen Angebot sie überzeugt. Sie sorgen sich um ihre Zukunft, wünschen sich soziale Kontakte, finanzielle Absicherung, Klimaschutz, mehr Steuern für Reiche und Gleichberechtigung. Könnte die Lösung der Anarchismus sein?
Politische Teilhabe zurückholen
Olaf Briese prägte innerhalb der Forschung den Begriff der anarchistischen Doppelhelix. Demnach ist Anarchie laut dem einen Strang ablehnend und laut dem anderen Strang bejahend. Abgelehnt werden Herrschaft, Kapitalismus und zum Beispiel die Dominanz RWEs über eine komplette Region. Bejaht werden die Werte, für die Anarchist*innen einstehen: soziale Gerechtigkeit, Umverteilung, der Aufbau einer Gemeinschaft.
Schließlich geht es Anarchist*innen im Kern um Problemlösungen. Bürger*inneninitiativen und Genossenschaften sind die praktischen Beispiele für den Versuch, sich Selbstbestimmtheit und politische Teilhabe zurückzuholen. Briese glaubt: „Praktisch gelebte Anarchie, zum Beispiel in einer anarchistischen Gemeinschaft, ist immer ein positiver, also bejahender Anarchismus.“
Ein Leben nach Lützerath
Bevor die anarchistische Gemeinschaft hier einzog, lebte auf dem Grundstück eine Gruppe von Klimaaktivist*innen. „Das waren die Menschen, die dann die Besetzung Lützeraths gestartet haben“, erzählt Elli. Sie seien es auch gewesen, die den Ort „Bewegungsgarten“ nannten.
Das Grundstück gehörte damals schon ihrer Mutter, mittlerweile gehört es ihnen beiden. Erst interessierte sich Elli gar nicht so recht für den Kohlekonflikt. Aber dann wurde ihr die Dominanz von RWE im Rheinland zu viel. Sie gab ihren Job in der Pflege auf und schloss sich der Protestgemeinschaft im Bewegungsgarten an. „Es hatte einfach Sinn, hier zu sein“, sagt sie.
Bewegungsgarten als Auffangort
Heute gehören zu der Gemeinschaft im Bewegungsgarten außer den Menschen und einem Hund noch ein halbes Dutzend Hühner, die sich im Garten frei bewegen. Sie haben einen kleinen Verschlag für die Nacht, aber kein Gehege. Auch sie sollen hier nicht beherrscht werden. „Cracky frisst zum Beispiel total gerne Styroporkügelchen, die hier manchmal so rumliegen. Was soll ich machen?“, sagt Elli schmunzelnd und verscheucht zwei Hühner aus dem Wagen, in dem sich die gemeinsame Küche befindet. „Irgendwann bieten wir auch Eier aus anarchistischer Haltung an.“
Die ersten, die sich selbst als Anarchist*innen bezeichneten, waren Arbeiter im 19. Jahrhundert. Sie organisierten sich global und unabhängig von Parteien. Im 20. Jahrhundert machten Jugend- und Studierendenbewegungen die anarchistische Bewegung aus. „Den einen Anarchismus gibt es nicht“, sagt der Anarchismusforscher Olaf Briese. Er sagt, der Anarchismus ist gleichermaßen eine Theorie, eine soziale Bewegung und eine praktische Lebensform.
„Wir wollen nicht nur selber so leben. Wir wollen auch anderen zeigen, dass man selbstbestimmter leben kann“, erklärt Ramu. Der Bewegungsgarten soll auch solchen Menschen ein Zuhause bieten, die es woanders nicht so leicht haben, eine Gemeinschaft zu finden. Die Strukturen und Regeln sollen sich immer an denjenigen orientieren, die am verletzlichsten sind. In der Praxis kann es aber je nach Situation unklar sein, wo gerade wessen Bedürfnisse wichtiger sind.
Auch im Bewegungsgarten gab es deswegen Konflikte. „Da hinten stand mal eine Holzhütte,“ Samu deutet hinter sich. „Die hat jemand mal wie im Wahn gebaut.“ Alle ließen ihn machen. Am Ende war die Hütte undicht und Ratten hatten sich in dem kleinen Häuschen breitgemacht. Die Person hat den Garten verlassen und andere Bewohner*innen mussten es wieder abbauen.
Am Ende braucht es Geld
Menschen haben oft Dinge – teilweise achtlos – im Bewegungsgarten zurückgelassen. Sogar Laptops waren dabei. Groll auf sie hegen Elli, Samu und Ramu aber nicht. Sie sehen es eher pragmatisch. So sei das eben, wenn man jedem eine Chance gibt und keiner den Ton angibt. „Wir haben gesagt, wenn wir sie nicht verkaufen können, dann bauen wir uns aus den Laptops ein Dach“, sagt Elli achselzuckend.
Auch Menschen und Strukturen außerhalb der Gemeinschaft sollen so wenig Herrschaft über sie haben wie möglich. Wo und wie sie leben, womit sie ihre Zeit verbringen und wo ihr Geld hinfließt, das wollen sie selbst entscheiden. Ihre Lebensmittel bekommen sie daher von einem Bauern und einer Bäckerei aus der Gegend – jeweils das, was übrig ist.
Bei der Frage, ob sie deswegen unabhängig sind, schütteln alle den Kopf. „Du kannst in diesem Land gar nicht leben, ohne dich in Abhängigkeitsverhältnisse zu begeben“, sagt Samu. Er hat eines der Hühner auf dem Schoß. „Außer du wirst nie krank, kannst du all dein Essen selbst produzieren und kannst auf einem Fleckchen Land leben, was groß genug für einen selbst ist“, zählt er auf. „Und auch das nur, wenn du keine Gesellschaft brauchst“, fügt Elli hinzu. Denn sobald man in Gesellschaft leben möchte, braucht man Platz, Strukturen, Essen, Häuser und am Ende eben oft Geld.
RWE gibt den Ton an
Leichter krank wird man auch, wenn man mit mehreren Menschen auf relativ kleinem Raum lebt, sich Küche und Bad teilt und alle noch dazu häufig unterwegs sind. „Ich hoffe, dass Ramu uns nicht wie letzten Winter wieder irgendeine Krankheit anschleppt.“ Elli setzt sich mit einer Tasse auf einen Hocker neben dem Herd. „Da saßen wir hier in feuchten Hütten bei Regen mit dieser Seuche und ohne Krankenversicherung“, erinnert sich auch Samu. „Seitdem ist an Ketchupflaschen nuckeln verboten“, sagt Elli lachend und nimmt einen Schluck Tee.
Ramu und Samu seien mittlerweile wieder krankenversichert. Sie selbst aktuell nicht, sagt Elli.
Man könne über vieles im Leben selbst entscheiden, wie etwa darüber, wie man miteinander umgehen will, wie man sich anzieht, wer man ist. Eine komplette Unabhängigkeit gebe es aber innerhalb des bestehenden politischen und gesellschaftlichen Systems in Deutschland nicht, sagt Elli.
Im Rheinland bekommt man die Abhängigkeit besonders zu spüren, denn dort gibt RWE den Ton seit Jahrzehnten an. Im frühen 19. Jahrhundert wurde hier das erste Mal Braunkohle abgebaut. Zwei Jahrhunderte später ist das Rheinische Braunkohlerevier das größte Europas und das Rheinland eine durchlöcherte Mondlandschaft.
Die Frage, ob der Rohstoff Kohle auch dann aus dem Boden gegraben werden darf, wenn auf diesem Boden ein Dorf steht, regelt das Bergrecht. Es übertrumpfte in den letzten Jahrzehnten Denkmalschutz und menschliche Interessen: Die Würde des Bergrechts war unantastbar. Das Grundstück vor dem Bewegungsgarten, das dahinter, alle Wiesen links und rechts, sogar der kleine Grünstreifen neben der Landstraße gehören RWE. Der Bewegungsgarten wirkt darin wie das gallische Dorf von Asterix und Obelix, welches umgeben ist von einem Imperium.
Aber RWE darf nur noch bis 2030 Kohle fördern. Viele Menschen wollen deshalb in den alten Dörfern etwas Neues aufbauen. Platz ist da, sogar leerstehende Immobilien gibt es. Und es gibt genug Menschen, die soziale Kontakte suchen. Der Bedarf, dies in einem anarchistischen Umfeld zu tun, wächst – davon sind Elli, Samu und Ramu überzeugt.
„Jetzt ist der Zeitpunkt, um die Werte, die wir in Lützerath geteilt haben, in die Tat umsetzen“, sagt Elli. Viele einstige Besetzer:innen von Lützerath leben noch immer in der Gegend. „Alle reden heute davon, wie schön Lützerath war, und haben gar keine Ahnung, wie viele junge Menschen hiergeblieben sind. Viele von ihnen konnten nach der Räumung nirgendwo anders hin“, sagt Elli. Deswegen wollen die drei sich dafür einsetzen, dass hier in der Gegend bald ein queeres Jugendzentrum entsteht. Und damit fangen die drei auch direkt an. Am nächsten Tag findet im Nachbardorf Kuckum eine Konferenz zur Zukunft der rheinischen Dörfer statt.
Ramu, Anarchist*in aus dem Rheinland
Elli, Samu und Ramu stellen hier ihr Projekt vor und wollen bereits Hinweise sammeln, wo sie das Jugendzentrum aufbauen können. „Wenn Leute erst einmal merken, was sie von unten tun können, in ihrer Familie, ihrer Schule, ihrer Dorfgemeinschaft, dann können sie richtig was verändern“, meint Ramu.
RWE hat allerdings selbst Pläne für das Rheinland. Rund um Wanlo ragen umzäunte Rohre aus dem Boden: Pumpen, die das Wasser aus dem Tagebau fernhalten. In nicht einmal zehn Jahren soll das Wasser den genau umgekehrten Weg gehen: Die Tagebaufläche soll renaturiert und das riesige Loch mitten im Rheinland zu einem See werden. Fünf der Dörfer, die ursprünglich weggebaggert werden sollten, konnten gerettet werden.
RWE soll den ursprünglichen Eigentümer*innen der Häuser in diesen Dörfern ihr früheres Eigentum zum Rückkauf anbieten, bevor es wieder auf den Markt kommt. Die 2022 geretteten Dörfer Keyenberg, Kuckum, Ober- und Unterwestrich sowie Berverath sollen laut Politik zu „Orten mit Zukunftsperspektive“ werden – das zumindest steht in der Leitentscheidung der Landesregierung von Mitte September.
Anarchismus als einzige Alternative
Die meisten Häuser, die in diesen Orten noch stehen, müssten allerdings inzwischen kernsaniert werden. Einige Häuser in Keyenberg sind seit 2016, dem offiziellen Beginn der Umsiedlung des Dorfes, verlassen. Die wenigsten einstigen Bewohner:innen werden zurückkommen.
Für die Gegend sei Anarchismus die einzige richtige Alternative, findet Ramu. Wenn RWE sich nicht um die Dörfer, das verschmutzte Wasser und die zerstörten Felder kümmere, dann bestehe die Lösung eben darin, all dies selbst zu verwalten und wieder aufzubauen.
Zwei Tage nach der Konferenz steht Elli in einer der verlassenen Straßen von Keyenberg. Von hier aus hat man direkten Blick auf das, was einmal Lützerath war. Sie zeigt auf ein Haus. „Das hier wollen wir für das Jugendzentrum!“, sagt sie. Einige der Glasfragmente, die die Eingangstür des weißen Hauses umrahmen, sind zerbrochen, andere fehlen ganz. An der Hauswand über den Fenstern im ersten Stock steht die Hausnummer zwanzig ausgeschrieben – als Wort und nicht als Zahl. Kein anderes Haus hier hat das. Das gefällt Elli.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind