piwik no script img

Kriminalitätsschwerpunkt StraßenverkehrMit aller Brutalität

Gereon Asmuth
Kommentar von Gereon Asmuth

Au­to­fah­re­r:in­nen stellen ein Viertel aller Verurteilten in Deutschland. Doch vielen fehlt Bewusstsein für ihre Taten.

Mehr als 1.200 Menschen starben im ersten Halbjahr 2024 im Straßenverkehr Foto: Christian Mang

W ie viele Menschen, glauben Sie, wurden in den ersten sechs Monaten die­ses Jahres durch Verkehrsunfälle in Deutschland verletzt?

a) 1.000

b) 10.000

c) 100.000

Tatsächlich gab es laut Statistischem Bundesamt 174.000 Unfallopfer, mehr als 950 pro Tag, rund 80 Prozent davon durch motorisierten Verkehr.

Wäre man der Friedrich Merz unter den Verkehrspolitikern, müsste man den nationalen Notstand ausrufen. Tatsächlich ist das aber der akzeptierte Normalzustand in all seiner Brutalität: der Preis, den die Gesellschaft stillschweigend zu zahlen bereit ist, damit wir alle Auto fahren können.

Zu den 174.000 Verletzten kommen übrigens noch 1.292 Tote. Und nein, es ist kein Trost, dass diese Zahl minimal niedriger ist als im Vorjahr. Oder würde jemand bei den Angehörigen und Freun­d:in­nen der Getöteten um Verständnis bitten? Weil es doch insgesamt etwas besser geworden ist?

Aktivist mit Schwimmnudel

Damit wären wir bei ­Natenom. Unter diesem Pseu­donym hatte sich der 43-jährige Andreas Mandalka auf Onlinekanälen einen Namen gemacht als der Fahrradaktivist, der eine Schwimmnudel auf seinen Gepäckträger klemmte, damit überholende Au­to­fah­rer:in­nen wenigstens auf die Idee kommen könnten, den eigentlich vorgeschriebenen Abstand von 1,5 Metern einzuhalten.

Am 30. Januar hatte er sich nach einer Einkaufstour über die Landstraße von Schellbronn nach Neuhausen in Baden-Württemberg auf Mastodon über die Fahrerin eines „Riesen­arschlochpanzers SUV Geländewagens“ aufgeregt, die ihn erst abgedrängt und beim anschließenden Wiedertreffen auf dem Supermarktparkplatz auf ihrem Recht zum Vorbeidrängeln bestanden habe.

Eine Stunde später war Natenom tot. Auf dem Rückweg überfahren von einem damals 77-Jährigen. Der Fall löste deutschlandweit Entsetzen unter Ver­kehrs­ak­ti­vist:in­nen aus – und ein Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft.

Wie angemessen sind zwei Monate Führersch­ein­entzug nach der Tötung eines Menschen? Die Debatte, ob es nicht dringend eines anderen Umgangs mit einem der größten Kriminalitäts­schwerpunkte bedarf, muss geführt werden

Acht Monate später ist die zu einem klaren Ergebnis gekommen: Der Autofahrer habe den Radler „trotz guter Sichtverhältnisse aus Unachtsamkeit gänzlich übersehen“ und sei „ungebremst mit einer Geschwindigkeit zwischen 80 und 90 km/h auf den Fahrradfahrer aufgefahren“. Die Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, dass sich ­Natenom „vorschriftsmäßig verhalten hat und insbesondere durch seine Warnweste sowie die eingeschaltete Fahrradbeleuchtung ausreichend für andere Verkehrsteilnehmer sichtbar war“.

Hartes Durchgreifen?

Sie erwirkte daher einen Strafbefehl wegen fahrlässiger Tötung. Der Pkw-Fahrer soll eine Geldstrafe in Höhe von 150 Tagessätzen zahlen und zwei Monaten auf den Führerschein verzichten. Das klingt nicht gerade nach hartem Durchgreifen. Eher wie ein Appell: Fahr lässig weiter; nicht so schlimm.

Doch was macht der Fahrer? Er legt Widerspruch ein – wie so viele in ähnlich gelagerten Fällen. Bleibt es dabei, kommt es zum Prozess. Aber man darf dem Sturkopf dankbar sein. Denn ein öffentliches Gerichtsverfahren bietet die Möglichkeit, über Verkehrsunfälle wie diesen zu reden.

Das ist unbedingt nötig. Weil nur so die Debatte geführt werden kann, wie angemessen zwei Monate Führerscheinentzug nach der Tötung eines Menschen sind. Und ob es nicht dringend eines anderen Umgangs mit einem der größten Kriminalitätsschwerpunkte der Republik bedarf: Jede vierte Verurteilung in Deutschland erfolgt wegen einer Straftat im Straßenverkehr.

Und dabei geht es nicht mal um die nur als Ordnungswidrigkeiten eingestuften Taten wie zu hohe Geschwindigkeit oder zu geringer Abstand. Es geht um weitaus schwerwiegendere Vergehen und Verbrechen. In einer utopischen Welt ohne motorisierten Individualverkehr würden nicht nur die Umwelt und die Kliniken, sondern auch die Justiz radikal entlastet.

Au­to­fah­re­r:in­nen schaden nicht nur sich selbst

Dabei sind Au­tofahrer:innen keinesfalls schlechtere Menschen als etwa Fahr­rad­fah­rer:in­nen. Im Gegenteil, man darf die These in den Raum stellen, dass sie sich sogar häufiger als Rad­ler:in­nen an die – meist eigens für ihr flottes Fortkommen aufgestellten – Regeln halten. Aber sie nutzen nun mal das weitaus gefährlichere Instrument.

Wer sich – mal als Beispiel – vier Wochen nach eine Gehirn-OP auf ein Rad setzt und in einer Stresssituation einen epileptischen Anfall bekommt, nimmt meist selbst den größten Schaden. Wer in der gleichen Situation aber am Steuer eines hoch motorisierten Pkw sitzt, rast vier Menschen tot. So geschehen vor fünf Jahren in Berlin.

In der aktuell erregt geführten Debatte über die gesellschaftliche Bedrohung durch Besteck redet niemand über Löffel. Es geht nur um die Messer. Da aber ist man quer durch die Parteien mit Verboten schnell bei der Hand. Kann sich jemand eine ähnliche Diskussion über die weitaus größere Gefahr auf Deutschlands Straßen vorstellen, über die Straftäter am Steuer? Sie scheint undenkbar. Und genau das ist das Problem.

Anm. der Redaktion: In einer früheren Version hieß es, dass die 174.000 Verletzten der ersten sechs Monate dieses Jahres mehr als 230 pro Tag entsprächen. Tatsächlich ist es viel schlimmer: Es sind es mehr als 950 pro Tag. Wir haben den Fehler korrigiert. Merke: Nicht mit erkältetem Kopf rechnen, da kommt Mist bei raus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Gereon Asmuth
Ressortleiter taz-Regie
Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Bluesky:@gereonas.bsky.social Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de ex-Twitter: @gereonas Foto: Anke Phoebe Peters
Mehr zum Thema

20 Kommentare

 / 
  • Gute Artikel. Gute Argumente. Danke!

  • taz: *Der Pkw-Fahrer soll eine Geldstrafe in Höhe von 150 Tagessätzen zahlen und zwei Monaten auf den Führerschein verzichten. Das klingt nicht gerade nach hartem Durchgreifen.*

    Hart "Durchgreifen" sollte man auch eher mal bei den Leuten die diesen Wahnsinn zu verantworten haben – also die Automobilindustrie. Aber das wird nichts werden, denn Politiker aus CDU/CSU, SPD, Grüne - und ganz oben natürlich die Porsche-Fans aus der FDP - sitzen auf dem Schoß der Autoindustrie und wollen ja nicht einmal eine Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen einführen. Und die Autoindustrie interessiert sich nicht für Verletzte und Verkehrstote (Kinder, Rentner etc.), sondern nur dafür, dass ihre Autoverkäufe nicht stagnieren. Und über den autofahrenden Bürger muss man schon gar nichts mehr sagen, denn der kann ja keine 500 Meter mehr ohne sein geliebtes Auto zurücklegen.

    Wenn man sich unsere Städte auch einmal genau anschaut, dann sind das nur noch Städte für Autos, aber keine Städte mehr für Menschen. Natürlich braucht man Straßen für Busse, Liefer-, Rettungs- und Polizeifahrzeuge; aber was in unseren Städten an Raum für Autos verbraucht wird, das ist schon seit Jahrzehnten nicht mehr normal.

  • Die fehlende Auswahlmöglichkeit kommt zum Problem hinzu bzw. ist entscheidend:

    Wer als Autofahrer in der Stadt an der geringen Anzahl der Parkplätze (im Verhältnis zur Zahl der Autos) verzweifelt, kann ins Umland ziehen oder im Supermarkt mit Gratis-Parkplätzen einkaufen (mitbezahlt von der Mehrheit der in in Innenstadt-Wohnegebieten ohne Auto einkaufenden).

    Wer an den zahlreichen Autos im Wohnumfeld verzweifelt kann - genau - nirgendwohin in einen autofreien Stadtteil oder gar ein autofreies Dorf oder Städtchen auf dem Land ziehen. Ausser auf eine Handvoll Nordseeinseln, dort aber mit sehr hohen Lebenshaltungskosten und etwas einsam im Winterhalbjahr.

  • Grundsätzliche Zustimmung, auch wenn die Vergleiche ein wenig hinken. Der Straßenverkehr ist der Blinde Fleck in D, ähnlich wie die Waffen in den USA. Es wäre schön wenn da ein wenig Vernunft reinkommen würde.

  • 1. Autofahrer nutzen nicht nur das 'weitaus gefährlichere Instrument'.



    Beim Auftreffen auf Radfahrer und Fussgänger kommt hinzu, dass der ungeschützte menschliche Körper um ein zigfaches weniger resilient gegenüber Gewalteinwirkung ist als bspw ein Kfz.

    2. Die gängigen Urteile auch bei Unfallfolgen mit Schwerverletzten oder sogar Toten sind oft ein Hohn und greifen damit die Menschenwürde der Geschädigten bzw der Hinterbliebenen an.



    Das muss sich ändern.

    3. Angemessenere, d h. menschenwürdigere Urteile werden jedoch nicht zu einer Verringerung dieser Stradtaten führen. Das ist allgemein und seit langem bekannter Stand der Kriminalitätsforschung.

    Der Tod Natenoms hätte verhindert werden können.



    Nicht durch härtere Urteile. Aber durch einen nach dem Stand der Technik ausgebauten, vom Kfz-Verkehr baulich getrennten und strassenbegleitenden Radweg.

    “Humans make errors and willingly or unwillingly break rules. This is a given that cannot be changed.

    Roads and streets should be designed in such a way that this natural human behavior does not lead to crashes and injuries.”



    (Dutch Cycling Embassy)

  • "In einer utopischen Welt ohne motorisierten Individualverkehr würden nicht nur die Umwelt und die Kliniken, sondern auch die Justiz radikal entlastet."

    und wer kontrolliert da den Verkehr und was kann da alles schief gehen, angefangen von einem gehackten System durch HAcker, die dann Geldsummen erpressen wollen, bishin zu den bösen Agenten fremder Maechte etc etc

    natuerlich darf die moralische Keule nie fehlen, natuerlich immer auf die anderen



    ""Dennoch fehlt vielen von ihnen Bewusstsein für ihre Taten.""

    Weniger Moral hätte diesem Artikel gutgetan

  • Der letzte Absatz geht komplett am Thema vorbei. Das eine sind vorsätzliche Straftaten und das andere fahrlässige. Da ist ein Vergleich recht sinnbefreit.

    • @Strolch:

      Viele Straftaten in STrassenverkehr sind nicht fahrlässig sondern vorsätzlich: wer einen Radfahrer wissentlich schneidet (kommt bei mir fast täglich vor) tut dies vorsätzlich, wer zu dicht auffährt und drängelt tut dies vorsätzlich, wer rechts überholt tut dies vorsätzlich, wer einen anderen Verkehrsteilnehmer abdrängt tut dies vorsätzlich und in allen diesen Fällen (es gibt noch eine Menge mehr) tut er aus auch noch aus niederen Beweggründen, nämlich schneller an sein Ziel zu kommen ohne Rücksicht auf Verluste!

    • @Strolch:

      Für die Opfer und ihre Angehörigen ist der Unterschied, ob sie fahrlässig oder vorsätzlich verletzt oder getötet wurden, diskutabel. Es geht hier aber um die Zahl der Betroffenen und da übersteigt die Zahl der im Straßenverkehr Verletzten die Zahl der Opfer von Messerangriffen deutlich. Auch ist ja nicht alles einfach nur "fahrlässig", was da so im Straßenverkehr passiert.

    • @Strolch:

      Nein, es geht darum wie sehr sich die Politik und die Gesellschaft bemüht, das Problem zu bekämpfen und nicht um das Strafmaß für die Täter.

  • Wie wenig es die Autofahrer interessiert andere oder auch nur sich selbst zu schützen sieht man auch daran dass etwa 20~25% der tödliche verunglückten PKW Insassen nicht angeschnallt waren. Ein Handgriff der das eigene Leben schützen könnte aber nur ein Busgeld von 30 Euro (selbst wenn es das Kind ist das man nicht angeschnallt hat) kostet.



    Eigentlich solltem lange Fahrverbote, bei so einem Unfall wie Andreas Mandalka lebenslang, die Regel werden.

  • Wer sich in Deutschland an die Verkehrsregeln hält, braucht gute Nerven.

  • Es braucht dringend Fahrtuechtigkeitstests fuer Menschen zB ab 70/75. Wenn man sich als Angehoeriger fuer einen freiwilligen Test einsetzt, weil man merkt wie unsicher der Vater bzw die Mutter geworden ist, ist man der Buhmann, der einem die Freiheit nehmen moechte.



    Statt das Problem auf die Angehoerigen abzuwaelzen waere das eine Aufgabe fuer die Politik, aber in unserer Rentnerdemokratie koennte das Stimmen kosten. Also passiert nichts.

  • Wie viele sterben durch Messer, wie viele durch Autos?



    Eine neue Verkehrspolitik ist auch daher nötig: angstfrei gehen, radeln, Bus und Bahn nehmen. Und viel Geld für Umweltschäden, Petro-Dollars, Zuschüsse an die Autoindustrie einsparen - und Krankenhauskosten.

  • Sehr guter Artikel. Danke!

  • Genau so isses.

    Ich bin ja dagegen, Menschen in den Knast zu stecken. Aber wer bei 80/90 km/h ein*e Fahrradfahrer*in umnietet, mit Beleuchtung und allem Drum und Dran sollte einfach keine Fahrerlaubnis mehr erhalten. Nicht zur Strafe, sondern zum Schutz der Mitmenschen.

    Eigentlich... würde ich von jedem Menschen, der so etwas tut erwarten, dass er oder sie selbst und freiwillig in Zukunft aufs Autofahren verzichtet.

  • Danke. Das regt mich schon seit Jahren auf. Diese Urteile ermutigen geradezu, einfach weiterzumachen. Das ist mittlerweile auch so im Bewusstsein verankert: Der Autofahrer hatte es eben eilig oder Jugendliche sind mal eben über die Stränge geschlagen - darf man ihnen deshalb harte Strafen zumuten? Die anderen sind doch ohnehin tot, fürs Leben geschädigt oder müssen die traumatische Situation irgendwie verarbeiten. Verkehrsunfälle gelten als Kavaliersdelikte. Unsere Welt ist eben so ... Man muss ja nicht zu Fuß gehen. Und wer das robusteste Auto hat, überlebt. So einfach ist das.

  • Das Auto ist akzeptierte, von vielen sogar geliebte Gewalt. Monstertrecker als politische Ausdrucksform finden Beachtung und Verständnis, das Blockieren von Autoverkehr lässt die Wutseelen schäumen.

  • Man stelle sich vor, die CDU wäre mt ihrem Vorschlag, Fahrerflucht nur noch als Ordnungswidrigkeit zu behandeln, durchgekommen. Ein Freibrief für alle Raser. Oder die FDP, die Innenstädte "autogerechter" gestalten lassen will. Weniger Radwege, weniger Fußgängerzonen. Weg mit den lästigen Kindern, Radfahrern und Fußgängern! Freie - ungebremste - Fahrt für deutsche Autofahrer! Wenn man sich die Gerichtsurteile zu Todesfällen durch Raser so ansieht, möchte man weinen, schreien, oder auf etwas einschlagen.



    www1.wdr.de/nachri...r-gericht-100.html

  • Danke für diesen Artikel.