Konflikt zwischen Israel und Hamas: Humanismus und Alltagsterror
In Nahost eskaliert die Gewalt. Die Hamas schickt Brandballons, Israel verschärft die ohnehin katastrophale Lage in Gaza mit Kollektivstrafen.
Unerträglich seien die letzten Tage gewesen, erzählt sie am Telefon. Raketen seien eingeschlagen, das Dorf habe gebrannt, die Menschen stünden unter Druck. Die zweite Woche in Folge fliegen Ballons mit Brandflaschen oder Sprengsätzen über die Grenze nach Israel und lösen Feuer aus, die Ackerland beschädigen. Israel beschoss in der Nacht zu Donnerstag Ziele der Hamas, der militanten Regierungskraft in Gaza. Am Dienstag hatte die Hamas zum zweiten Mal in dieser Woche eine Rakete abgefeuert. Zwei Mädchen in Aschkelon wurden leicht verletzt, als sie zum Luftschutzbunker rannten.
„Ich sehe die Ballons und die verbrannte Erde hier und schreibe meinen Freunden in Gaza auf Whatsapp: ‚Ich weiß, was euch morgen erwartet.‘“ Damit meint Keidar die Vergeltungsanschläge der israelischen Armee, die nach den anhaltenden Angriffen Ziele in Gaza beschießt. Israels Präsident Reuven Rivlin warnte die Hamas am Dienstag vor einem Krieg, sollte sich die Lage nicht beruhigen.
Der erneute Gewaltausbruch kommt zu einer symbolträchtigen Zeit: 15 Jahre ist es her, dass im August 2005 auf Initiative von Israels damaligem Regierungschef Ariel Scharon die Häuser von knapp 9.000 jüdischen Siedler*innen in Gaza geräumt wurden. Zwar regiert seit 2007 intern die Hamas das Gebiet, doch kontrolliert Israel alle äußeren Angelegenheiten: den Grenzübergang für Warenlieferungen, den Luftraum, die Fischereizone sowie die Ein- und Ausreise nach Israel und in das palästinensische Westjordanland.
Auch der Grenzübergang zwischen Gaza und Ägypten ist für Warenlieferungen geschlossen und nur sporadisch für Personen geöffnet, weshalb Kairo beschuldigt wird, für die Blockade mitverantwortlich zu sein. Hinter der israelisch-ägyptischen Allianz stehen gemeinsame Sicherheitsinteressen.
Israelischer Rückzug aus Gaza
Bis 2005 hatte Israel durch Militärstützpunkte und 21 jüdische Siedlungen rund ein Viertel des dicht besiedelten Gazastreifens kontrolliert. Die palästinensische Frauenrechtlerin Andlib Adwan erinnert sich an den Sommer 2005. „Die Menschen tanzten auf den Straßen und Tausende stürzten an den Strand, denn so viele hatten noch nie das Meer gesehen.“ Teile der Küste des Gazastreifens waren damals unter israelischer Kontrolle. „Auch ich konnte plötzlich meine Familie im Flüchtlingslager Rafah besuchen, ohne stundenlang am Checkpoint zu warten“, erzählt sie.
Die 55-Jährige wurde als eines von 13 Kindern in dem palästinensischen Flüchtlingslager im Süden Gazas geboren. Heute leitet sie das Community Media Center in Gaza-Stadt. Wie Adwan stammt ein Großteil von Gazas Bevölkerung aus Familien, die 1948 im Krieg mit Israel zu Flüchtlingen wurden und im Gazastreifen Zuflucht fanden.
Schon 2005 stand für Adwan fest, dass der unilaterale Abzug ein Manöver der israelischen Regierung war, der mit strategischen Überlegungen zusammenhing. Die Kontrolle über Gaza und die dortigen Siedlungen war eine wirtschaftliche, militärische und diplomatische Belastung für Israel gewesen. Wenige Monate später, im Winter 2006, ging die Hamas als stärkste Kraft in Gaza und im Westjordanland aus einer Wahl hervor und übernahm 2007 gewaltsam die Kontrolle in Gaza.
„Sie behaupteten, sie hätten den Israelis Angst eingejagt, und dass sie deshalb abgezogen seien“, erinnert sich Adwan. Im selben Jahr, als die Siedlungen geräumt wurden, schuf die israelische Regierung aber auch Raum für Tausende neue Siedler*innen im Westjordanland – ein Gebiet, die man langfristig einfacher an Israel anschließen konnte als den überbevölkerten Gazastreifen.
Taktik der Kollektivstrafe
„Bereits seit der Besatzung von Gaza 1967 war der Streifen wirtschaftlich und infrastrukturell von Israel und dem Westjordanland abhängig und durfte kaum wirtschaftliche Strukturen entwickeln“, erklärt Sari Bashi. Die Anwältin für Menschenrechte gründete 2005 die israelische Organisation Gisha, die sich für Bewegungsfreiheit von Palästinenser*innen einsetzt.
Während vor der zweiten Intifada im Jahr 2000 Hunderttausende aus Gaza täglich im Niedriglohnsektor in Israel arbeiteten, darf heute nur ein Bruchteil der fast zwei Millionen Einwohner*innen mit Gewerbegenehmigung oder auf humanitärer Grundlage nach Israel und ins Westjordanland einreisen.
Die andauernde Blockade wird von der israelischen Regierung mit Sicherheit vor terroristischen Anschlägen begründet. Wenn die Hamas wie in der jüngsten Eskalationsrunde Raketen abfeuert oder Brandballons schickt, wendet Israel die Taktik der Kollektivstrafe an: Vergangene Woche wurde als Reaktion auf Angriffe der einzige Grenzübergang für Warenlieferungen nach Gaza geschlossen, die Fischereizone vor der Küste wurde komplett gesperrt, Treibstofflieferungen wurden untersagt. Letzteres bedeutet für die Menschen in Gaza, statt mit acht bis zwölf Stunden Elektrizität am Tag mit nur vier zurechtkommen zu müssen.
Bashi kann in dieser Strategie der Abschreckung keine Logik erkennen: „Die Hamas verletzt mit ihren Handlungen gegen israelische Zivilisten eindeutig internationales Recht“, sagt sie, „aber wie ist den israelischen Bürgern, die beschossen werden, geholfen, wenn die Menschen in Gaza nicht mehr fischen und nichts mehr exportieren dürfen? Wenn sie keine Elektrizität haben?“
Terror finde nicht in einem sozialen Vakuum statt, sondern sei das Resultat eines politischen Würgegriffs. Solange die Blockade nicht gelockert würde, könne sich die katastrophale Situation nicht ändern, sagt Bashi. „Warum erlaubt Israel Gaza, Tomaten und Auberginen zu exportieren, Erdbeeren und Blumen aber nicht? Was hat das mit Sicherheit zu tun?“
Politik der Trennung
Stattdessen verfolgt Israel eine Politik der Trennung zwischen Gaza und dem Westjordanland. Menschen aus Gaza dürfen im Westjordanland weder studieren noch ansässig werden. Bashi ist überzeugt, Israel wolle im Westjordanland so viel Territorium wie möglich mit so wenig Palästinenser*innen wie möglich kontrollieren. Dabei gehe es nicht um Sicherheit, sondern um eine schleichende Annexion.
Die Politik der Trennung musste Andlib Adwan am eigenen Leibe erfahren. Um sich für die Rechte palästinensischer Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft einzusetzen, hatte sie 1999 begonnen, im Westjordanland Gender Studies zu studieren. Ein Jahr später schloss Israel mit Beginn der zweiten Intifada die Grenzen. Student*innen aus Gaza durften nicht mehr an Universitäten in Ramallah oder Bethlehem studieren.
Andlib Adwan, Frauenrechtlerin
Seit 2007 konzentriert sich Adwan stattdessen darauf, Frauen und Jugendlichen beizubringen, ihre Geschichten mithilfe visueller Medien zu dokumentieren. „Frauen sind die doppelten Leidtragenden der Situation hier. Sie müssen mit einem Minimum an Geld, Privatsphäre und persönlicher Sicherheit auskommen“, sagt sie. Im Krieg gegen Israel 2014 hätten Tausende Familien ihre Häuser verloren, viele Frauen auch ihre Männer.
„Die Würde oder Intimsphäre hat keinen gekümmert, oft wurden sie wie Tiere behandelt. Einige mussten Angehörige aus der Familie ihrer Männer heiraten, nur damit sie schnell wieder verheiratet waren.“ Finanzielle Unterstützung der Hamas gab es kaum. Dennoch machen die Menschen in Gaza in erster Linie nicht die Hamas, sondern die israelischen Blockade für ihre Situation verantwortlich.
Für Roni Keidar auf der israelischen Seite der Sperranlage ist die Dualität der Situation Alltag. „Einerseits will ich den Terrorismus nicht rechtfertigen. Andererseits: Was bewegt Menschen dazu, so etwas zu tun?“ In Israel werden humanistische Einstellungen wie Keidars oft als naiv abgetan. Auch ihre eigene Familie stehe den Palästinenser*innen in Gaza kritisch gegenüber, sagt Keidar.
Doch als es vor einigen Monaten wieder einmal Raketenalarm gab und sich Keidars elfjähriger Enkel in der Ecke versteckte, bis seine Mutter ihn beruhigte, habe der Junge gesagt: „Vielleicht sollten sie alle endlich auf Oma hören“, erzählt Keidar stolz.
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