Kommentar Spenden für Seenotrettung: Rackete hat es uns leichtgemacht
EU-Staatschefs sehen dem Sterben im Mittelmeer zu, Bürger fühlen sich handlungsunfähig. In diesem Vakuum wurde Carola Rackete zur Heldin.
E s war der Moment, als die Kapitänin die Gangway ihres Bootes herunterschritt. Carola Rackete verlässt die „Sea-Watch 3“ und wird in ein bereits wartendes Polizeiauto geleitet. Gerade hatte sie 40 Flüchtlinge in einen lampedusischen Hafen gefahren und damit ein politisches Statement abgegeben. Und egal, ob es ihr vorrangig um die Rettung ging oder vorrangig um das Statement oder um beides: Das war der Moment, in dem sie zur Heldin wurde. Stumm ging sie diesen Gang, ernsthaft, würdevoll. Pathetisch klingt das, aber so muss es sein, wenn Bilder erzeugt werden, die bleiben werden, weil sie so vieles bedienen.
Die Kapitänin, die man schon vorher in einem Video erleben konnte, wie sie ruhig, sachlich, vielleicht etwas erschöpft den Ernst der Lage an Bord ihres Schiffs geschildert hatte. Dunkel war’s, tief in der Nacht, schemenhaft zeichnete sich hinter ihr die Brücke ab, von wo aus sie die „Sea-Watch 3“ einsam steuert in politisch heikler Mission. Das Bild einer verantwortungsvollen Frau.
Für die Ikonisierung war noch etwas wichtig: Racketes männlich-derber Gegenspieler, Innenminister Matteo Salvini, war immer dann, wenn man Rackete sah, zwar nicht anwesend, aber doch sichtbar. Sie im schwarzen Top, er – dieses Bild von ihm hat sich eingeprägt – im weißen Hemd, das er trägt wie die Uniform des Polit-Rabauken. Als Gegenmodell, als der, gegen den sich der Auftritt der Kapitänin vor allem richtet – aber nicht nur.
Wer wollte, konnte Rackete in diesem Moment auch hassen. Angeschrien wurde sie, als sie abgeführt wurde, in Handschellen wollte eine schrill brüllende Frau sie sehen. Aber auch das gehört zur Stilisierung dazu. Ohne Gegenposition geht’s nicht. Zumal diese Stimme sozusagen die Stimme Salvinis war, die da brutal dröhnte. Wieder war er anwesend, ohne sichtbar zu sein. Seine Anhänger nennen ihn „capitano“.
Die Bilder also stimmten, aber was ist mit der Tat?
Carola Rackete hat Flüchtlinge in einen Hafen gebracht. Allein das wieder so eine starke Symbolik. Das Meer, die bedrohliche Macht; doch nicht abschreckend genug, um dem Schrecken – der Fluchtursache, wie es so technisch heißt – zu entkommen. Menschen, verzweifelt genug, um die gefährlichste Route von allen einzuschlagen, auf der Suche nach Sicherheit.
Auf dem Meer gilt die Menschenwürde nicht
Wie es sein kann, dass Carola Rackete mit ihrer Tat eine derartige Welle schlug, lässt sich nur erklären, wenn man die Lücke, die sie damit gefüllt hat, genauer betrachtet. Sie hat gehandelt, wo die EU über Jahre durch Unterlassung ein Vakuum hat erzeugt hat. Tat gegen Tatenlosigkeit.
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Rackete hat sich gegen die fahrlässig massenhaft den Tod durch Unterlassen in Kauf nehmende Flüchtlingspolitik der EU gestellt. Und damit sehr drastisch offengelegt, was Europa im Umgang mit Flüchtlingen ausmacht: Verantwortungslosigkeit, Handeln durch Nichtstun, das Menschen erst in die Lage bringt, mit persönlich hohem Risiko etwas zu tun und sich selbst in Gefahr zu bringen. Zehn Jahre Haft, hohe Geldstrafe? Rackete, als Kapitänin kundig auch in Seerecht, nahm das in Kauf. Und dabei ist es egal, dass sie die Symbolik ihres Tuns vielleicht kalkulierend im Kopf hatte. Sie hat gerettet, das zählt. Alles andere tritt dahinter zurück.
Ja, das ist Europa in diesen Zeiten: Es lässt nicht nur massenhaft und immer wieder Menschen auf jenem Meer ertrinken, das einst Sehnsuchtsort war und heute mehr denn je ein Todesort geworden ist; es bringt auch diejenigen in Gefahr, die den Humanismus, auf dem die EU gründet, verinnerlicht haben und leben. Als sei irgendwo auf dem Meer eine Grenze gezogen worden, hinter der die Werte, auf denen die Staatengemeinschaft fußt, nicht gelten: die Wahrung der Menschenwürde, Hilfe in Not.
Dieses Europa macht Menschen wie Carola Rackete zu Figuren, die brutal in die Öffentlichkeit gezerrt werden, in dem einer wie Salvini sie öffentlich als „kriminell“ bezeichnet oder Medien wie die Neue Zürcher Zeitung, die in der migrationspolitischen Debatte längst Maß und Mitte verloren haben, ihr einen „unerhörten Rechtsverstoß und eine Missachtung, ja Verhöhnung der italienischen Staatsautorität“ vorwerfen. Europa lässt zu, dass ein Mensch, weil er die Menschenwürde verteidigt, instrumentalisiert wird, indem Salvini, nachdem eine Richterin Racketes Tat als rechtmäßig bezeichnet hat, nun Anstalten macht, die unabhängige italienische Justiz anzugreifen und umzubauen.
So nachahmenswert, so kühn
Helden sind zum Bewundern da, und mit ihrer Tat machte Rackete es ihren Bewunderern leicht. Weil es so entlastend war, was sie tat. So nachahmenswert, so kühn. Viele müssen doch gedacht haben: Ich hätte genauso gehandelt – nur habe ich ja leider, leider kein Kapitänspatent.
Noch etwas war einfach: die Scham über das eigene Nichtstun zu mindern durch Freikaufen. Natürlich verdiente sie Solidarität, aber die Klick-Solidarität ist eben auch sehr einfach: Handy raus, SMS geschickt mit seawatch5, zack, schon waren wieder 5 Euro eingegangen, zum Beispiel auf einem von den beiden TV-Stars Jan Böhmermann und Klaas Heufer-Umlauf eingerichteten Spendenkonto. So einfach, so gut. 1,5 Millionen Euro kamen bislang zusammen. Ohne zu wissen, ob „Sea-Watch“ das Geld überhaupt braucht, ob es nötig sein wird. Na ja, irgendetwas Sinnvolles werden sie damit schon machen.
Einfach war es auch für Politiker, die wie Zuschauer wirkten, weil sie ihre Rolle nicht annahmen. So wie Außenminister Heiko Maas, der nach Racketes Festnahme fordern konnte, sie müsse freigelassen werden, denn wer Menschenleben rette, sei kein Verbrecher. Das klingt gut und stimmt ja auch, überpinselt aber, wo die eigentliche Ursache liegt für Racketes Tat und die Folgen.
Je größer die Untätigkeit, je machtlustloser die Mächtigen, desto leichter ist es, zur Heldin zu werden. So ist es Carola Rackete geschehen.
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