Kommentar Merkels Flüchtlingspolitik: Ganz schön gerissen
Für Flüchtlinge soll dank des Militäreinsatzes der Nato künftig schon in der Ägäis Schluss sein. Das Image der barmherzigen Kanzlerin bleibt intakt.
N ein, Angela Merkel macht die Bundesgrenze nicht dicht. Weder folgt sie Forderungen aus den eigenen Reihen und lässt hinter Passau Stacheldraht aufbauen, noch läuft sie der AfD nach und unterschreibt einen Schießbefehl. Muss sie auch gar nicht. Gemeinsam mit Türkei und Nato hat die Kanzlerin schließlich eine elegantere Lösung gefunden: Die Grenze verlagert sie einfach vor, für Flüchtlinge soll schon in der Ägäis Schluss sein.
Am Montag hatte Merkel einen entsprechenden Marine-Einsatz vorgeschlagen, schon am Donnerstag gab die Nato grünes Licht. Die Militärs betonen zwar, dass ihre Schiffe zwischen der Türkei und Griechenland keine Flüchtlingsboote stoppen sollen. Das ist aber heuchlerisch.
Tatsächlich werden sie aktiv daran mitarbeiten, die EU-Außengrenze abzuschotten. Denn wie alle Seeleute haben auch Marinesoldaten die Pflicht zur Seenotrettung. Treffen sie auf Flüchtlinge in Seelenverkäufern – also Booten, die nicht so aussehen, als würden sie die Überfahrt schaffen –, müssen sie diese geradezu an Bord nehmen. Da der gemeine Schleuser selten frisch gewartete Hochseefähren einsetzt, können die Nato-Schiffe praktisch jedes Flüchtlingsschiff aufbringen.
Dabei retten die Soldaten Menschenleben – und dafür gebührt ihnen zunächst einmal Dank. Anders als bei der vergleichbaren EU-Marinemission zwischen Libyen und Italien sollen die Soldaten die Geretteten aber nicht in Europa absetzen, sondern zurück in die Türkei bringen. Die Flüchtlinge erhalten also gar nicht erst die Chance, in der EU einen Asylantrag zu stellen.
Für Merkel ist das geschickt. Die Zahl der Hilfesuchenden, die sich über Griechenland und den Balkan bis nach Deutschland durchschlagen, wird sinken. Das Schengen-System der offenen Grenzen in Europa muss sie dafür aber nicht opfern. Gleichzeitig vermeidet sie hässliche Bilder von Bundespolizisten, die Flüchtlinge an der bayerisch-österreichischen Grenze zurückdrängen.
Die hässlichen Szenen könnten sich stattdessen andernorts abspielen: an Bord der Nato-Schiffe, auf denen Soldaten die geretteten Menschen gegen deren Willen zurück in die Türkei verfrachten. Der Unterschied: Das Deck des Einsatzgruppenversorgers „Bonn“ ist für Fernsehteams schwieriger zu erreichen als der Grenzübergang Achleiten. Das Image der barmherzigen Flüchtlingskanzlerin bleibt also intakt. Und so ist Merkels Plan vor allem: ganz schön gerissen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen