Kommentar Katalonien-Konflikt: Jetzt wirklich die Bevölkerung fragen
Unabhängigkeit ja, aber nicht sofort – die Formel lässt Handlungsspielraum. Am besten für eine faire, ehrliche Volksabstimmung.
D er katalanische Präsident Carles Puigdemont erklärte am Dienstagabend vor dem Autonomieparlament in Barcelona die Unabhängigkeit Kataloniens, um sie im gleichen Augenblick auszusetzen. Damit geht der Streit wohl weiter. Seine Erklärung bietet für jeden etwas. Es ist eine Unabhängigkeitserklärung und damit ein Akt, der geltendes spanisches Verfassungsrecht bricht – und es ist ein Dialogangebot, je nachdem, wer die Worte wie liest.
Es steht zu befürchten, dass sich die Zentralregierung die erste Interpretation zu eigen macht. Ministerpräsident Mariano Rajoy könnte bereits in den nächsten Stunden weitere, noch härtere Maßnahmen einleiten. Die spanische Verfassung würde das zulassen. Von der Ausetzung der Autonomie und der Übernahme der katalanischen Regierungsgeschäfte direkt von Madrid aus, die Entsendung weiterer Polizeieinheiten und selbst der Armee, bis hin zum Ausnahmezustand stellt die Verfassung aus dem Jahr 1978 alles zur Verfügung. Doch klug wäre das nicht. Politische Probleme verlangen eine politische Lösung. Justiz, Polizei und Armee sorgen für eine Verschärfung des Konfliktes, eine Lösung bieten sie nicht.
Es ist an der Zeit, dass Madrid von Machtdemonstrationen absieht und den Dialog sucht, wenn nötig mittels nationaler oder internationaler Vermittler. Wer glaubt, dass durch noch mehr Repression der Wunsch nach Unabhängigkeit eines breiten Teils der katalanischen Bevölkerung bezwungen wird, täuscht sich. Er nimmt eher noch zu. Alle bisherigen Beispiele von Unabhängigkeitsbewegungen zeigen dies. Die einzige Lösung ist es, die Stimmen der Bevölkerung zu hören. Und dazu gibt es nur einen Weg: eine Volksabstimmung in beidseitigem Einverständnis, wie einst in Schottland oder Quebec. Je früher, desto besser.
Die spanische Verfasung von 1978 lässt dies nicht zu? Das stimmt. Aber eine Verfassung kann geändert werden, wenn es sein muss über Nacht. Das bewiesen die konservative Partido Popular und die sozailistische PSOE, als sie 2011 auf Wunsch aus Berlin und Brüssel mitten in der Sommerpause eine Schuldenbremse in die Verfassung aufnahmen.
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