Katalonien-Krise: Rajoy droht mit Entmachtung
Hat Barcelona die Unabhängigkeit Kataloniens erklärt oder nicht? Rajoy verlangt Klarheit – und aktiviert den Artikel 155 der spanischen Verfassung.
In der Antwort, die der Regionalchef auf diese Anfrage gibt, werde sich abzeichnen, was in den nächsten Tagen passiert, so Rajoy nach einer Kabinettssitzung am Mittwoch. Damit drohte er mit der Aussetzung der Autonomiebefugnisse in Katalonien, wie dies der Artikel 155 der Verfassung für rebellische Regionen vorsieht.
Fragen der anwesenden Journalisten wurden nicht zugelassen. Je nach Antwort könnte Madrid alle Institutionen in der nord-ost-spanischen Region selbst übernehmen und die derzeitige katalanische Regierung gar verhaften lassen. Puigdemont hat für die Antwort – so die gängige Interpretation des Artikel 155 – fünf Tage Zeit.
Rajoy, der heute Nachmittag vor das spanische Parlament treten wird, wirbt seit Ende der Ansprache Puigdemonts bei der sozialistischen PSOE und bei den rechtsliberalen Ciudadanos um Unterstützung für mögliche harte Maßnahmen.
Der sozialistische Generalsekretär Pedro Sánchez, der am Dienstag bis um ein Uhr nachts im Regierungspalast Moncloa weilte, untestützte Rajoys Vorgehen, damit „Puigdemont schwarz auf weiß aufschreibt, was er erklärt hat“.
Ciudadanos, mit deren Chef Albert Rivera der Ministerpräsident zwei mal lange telefonierte, besteht seit Tagen auf der Aussetzung der Autonomie Kataloniens mittels Artikel 155, um dann Neuwahlen in Katalonien auszurufen.
Iglesias will die Katalanen „verführen“
Nur Unidos Podemos fordert einen Dialog ohne Vorbedingungen statt erneute Machtdemonstrationen. Der Chef der Linksalternativen, Pablo Iglesias, lobte Puigdemont für seine Besonnenheit. Es gehe jetzt darum, im Dialog „die Katalanen zu verführen“. Für ihn ist Spanien „plurinational“, ein „Land der Länder“. Die Verfassung von 1978 müsse dahingehend reformiert werden.
Die Debatte vor dem spanischen Parlament am Nachmittag verspricht hitzig zu werden. Nach der Ansprache von Puigdemont hat nicht nur Rajoy Zweifel, was Puigdemont denn nun erklärt hat, als er auf der einen Seite „das Mandat des Volkes“ annahm, „dass Katalonien in Form einer Republik ein unabhängiger Staat wird“, um dann zu beantragen, „dass das Parlament die Auswirkungen der Unabhängigkeitserklärung aussetzt“, um dem Dialog eine Chance zu geben. Politiker aller Parteien und die Teilnehmer an den politischen Talkshows streiten sich darüber, ob es denn nun eine Unabhängigkeitserklärung war oder nicht.
Unabhängigkeitserklärung nicht beim Parlament eingereicht
Das Verwirrspiel ist noch komplizierter. Denn nach der Ansprache Puigdemonts unterzeichneten 72 Abgeordnete des Autonomieparlaments eine Erklärung, in der sie keinen Zweifel an ihrem Willen ließen, eine Katalanische Republik aufzubauen. „Wir konstituieren die katalanische Republik als unabhängigen und souveränen, sozialen, demokratischen Rechtsstaat. Wir ordnen das Inkrafttreten des Gesetzes zum juristischen und funktionalen Übergang der Republik an“, heißt es in dem Dokument unter Berufung auf das vom spanischen Verfassungsgericht suspendierte Gesetzeswerk sowie das Gesetz zur Volksabstimmung am 1. Oktober.
Diese Erklärung bleibt unwirksam, da Puigdemont selbst in seiner Rede die Aussetzung beantragte, um dem Dialog eine Chance zu geben. Außerdem wurde die unterzeichnete Erklärung nicht offiziell beim Parlament eingereicht.
„Farce und Erpressung“ titelt die spanische Tageszeitung El Mundo. „Eine weitere Falle“, lautet die Überschrift des Leitartikels der El País. Die größte Tageszeitung des Landes spricht von „einem Ultimatum, das die Regierung auf keinen Fall akzeptieren kann.“ Ganz anders das wichtigste Blatt in Katalonien, La Vanguardia. „Das einzige, was sicher ist: Es gab keine einseitige Unabhängigkeitserklärung. Die Abenteurer, die dem Präsident (Puigdemont) ins Ohr flüsterten, haben nicht triumphiert“, schreibt der Kolumnist Enric Juliana.
Auch wenn das Dokument, solange es nicht offiziell beim katalanischen Parlament eingereicht wurde, keine juristische Gültigkeit hat, dient es durchaus als Drohkulisse. So kündigte der Sprecher der katalanischen Regierung Jordi Turull vor Rajoys Auftritt an: „Wenn Sie den Artikel 155 anwenden, werden wir konsequent sein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?