Kolumne Schlagloch: Wir müssen die Eliten erobern
Die Unteilbar-Demo hat gezeigt: Es gibt viele Ideen für eine Übergangsgesellschaft, aber niemand ist bereit, sie in Politik umzusetzen.
A m Samstag gingen in Berlin so viele auf die Straße, dass die Welt am Sonntag unverzüglich Entwarnung geben müsste. Zum Glück, seufzte der Kommentar, war es nur „die nivellierte Mittelschicht mit ihren Kindern“ und sie war „nicht zornig, sondern heiter, nicht für die Veränderung des Status quo, sondern für dessen Verteidigung gegen Rechtspopulisten“. Nur einige Radikale – Hausbesetzer, Islamisten und Theologen – hätten „abschreckend“ gewirkt.
Die „Multitude“, jubelte der Kommentar der taz, habe „in historischer Größe“ und „ohne strategisches Ungefähr“ gegen die autoritäre Wende demonstriert und für die Grundrechte. Nur die linksnationalistische Sahra habe sich in „jämmerlicher Gesellschaft“ mit Reaktionären selbst ausgeschlossen von diesem „Prozess kollektiver Vergewisserung“, in dem „gesellschaftliche Debatten zu Übereinkünften gerinnen“.
Aber ist die „kollektive Vergewisserung“ nicht eigentlich schon viel weiter? Besteht nicht ein breiter Konsens darüber, dass das Asylrecht unantastbar bleiben soll, aber es kein unqualifiziertes „Recht, zu kommen und zu bleiben,“ geben kann (weswegen die Häme gegen Wagenknecht ebenso fehlgeht wie deren Weigerung, sich der Volksfront gegen Autoritarismus, Rassismus und Xenophobie anzuschließen).
Und weiter: Dass Pflegeheime, Schulen, Bahnverkehr und Löhne unter dem Niveau eines Exportweltmeisters sind – da gibt es durchaus solide „Übereinkünfte“ im Wahlvolk, ebenso wie für eine Mietpreisbremse, öffentlichen Wohnungsbau, Energiewende und scharfe Maßnahmen gegen die Migration von Vermögen in Steueroasen. Forderungen, die allesamt an die materiellen Ursachen von Migrantenfurcht und Ausgrenzung rühren.
Die Kluft zwischen Notwendigkeit und staatlichem Handeln
Ich finde, man kann davon ausgehen, dass eine Mehrheit der Bürger zumindest eine Ahnung von Missständen und Lösungsmöglichkeiten hat und zumindest ein Bauchgefühl davon, dass viele Probleme nur durch Systemwechsel mitsamt einer stark veränderten Einstellung zum Eigentum gelöst werden können. Und das heißt: die hemmendste, mentale wie politische Spaltung in unserer Gesellschaft ist nicht die zwischen Globalisten und Lokalisten, Volk und Elite, Armen und Reichen, nicht einmal zwischen Reaktionären und Progressiven. Die Kluft, an der unsere Zukunft gerade zu scheitern droht, ist die zwischen erkannten Notwendigkeiten und staatlichem Handeln, zwischen Bürgern und ihren Delegierten.
Die Membran zwischen Bürgerwillen und Parlament ist undurchlässig geworden. In der Demonstration vom Samstag zeigte sich in volksfestartiger Heiterkeit der ganze Reichtum an Energien für eine Übergangsgesellschaft. Aber all diesen Initiativen fehlt (noch) eine politische Speerspitze, die Aufbruchsenergien politisch konzentriert, Vorstöße durch Gesetze absichert und ein Fundament für eine postkapitalistische Gesellschaft legt.
Demonstrationen müssen sein, wenn politische Argumente oder Forderungen auf anderem Wege nicht geäußert werden können, Kommunikationskanäle blockiert sind, Tabus die Thematisierung verhindern. Aber wenn die Erkenntnis, dass Klimawandel, Migration, Ungleichheit und Unrecht Konsequenzen der kapitalistischen Ordnung sind, selbst Leitartikel der Financial Times trägt – aber alle Einsichten folgenlos bleiben, wie wir es seit 2008 verschärft erleben? Dann befreien uns Demonstrationen für ein paar solidarische Stunden (und der Samstag war sehr erhebend) von Resignation – aber sie sind zugleich ihr Ausdruck. Denn Resignation entsteht (so Wikipedia) „aus der Einsicht, dass ein angestrebtes Ziel mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht erreichbar ist, oder durch die Einsicht, dass man sich nicht auf den erforderlich erscheinenden Einsatz oder die potenziellen Folgen einlassen will“.
Die bittere Einsicht ist die, dass 100 Jahre nach der Erkämpfung der repräsentativen Demokratie nicht ausreichend viele Bürger bereit sind, für ein Durchbrechen der Mauer zwischen Bürgerwillen und seinen Repräsentanten ein Opfer auf sich zu nehmen: das Opfer an Lebenszeit. Unsere Erkenntnis, unser Gewissen nötigen uns zu politischer Aktivität über „Kundgebungen“ hinaus, aber wir wissen auch: nichts frisst so umbarmherzig Menschenleben wie die Institutionen der Politik, in den großen Parteien und erst recht in der großen Berliner Maschine mit ihrem Treibstoff aus Lobbyismus und Ehrgeiz.
Langer Marsch durch die Institutionen
Und die „potenziellen Folgen“, auf die man sich nicht einlassen will? An dieser Stelle lähmt uns die bezifferbare Ahnung, dass es mit einer Reichensteuer oder überhaupt mit Geld nicht getan sein wird, wenn wir uns für globale Gerechtigkeit, die Rettung der Atmosphäre, die Würde der Alten und die Chancen der Kinder einsetzen, sondern dass es bis weit in die aufgeklärte Mittelschicht hinein um eine Wende zum Weniger geht und um eine Umstellung unserer Lebensweise, so radikal, dass kaum ein Politiker glaubt, Bürger dafür gewinnen zu können, und so ungewiss, dass es bislang keine überzeugenden Erzählungen darüber gibt, dass wir durch sie nicht ärmer, sondern reicher würden.
Am Abend nach der Demo musste ich an das Albtraumbild denken, das Günther Anders – der Philosoph, dem die Bewegungen gegen Atomwaffen und AKW so viele Gedanken und Parolen verdankte – gegen Ende seines Lebens, in bitterer Resignation, beschwor: eine „Prozession von Milliarden Bewohner unserer Erde, die begleitet von allen lebendigen Wesen“ für den Erhalt der Erde demonstrieren, um die Burgen der Herrschaft marschieren und rufen und singen und brüllen – und doch die Eliten in ihren Türmen nicht erreichen. Und wenn es (noch) einen Mangel bei „Aufstehen“ wie bei „Unteilbar“ gibt, dann den, dass beide nicht deutlich genug zur Eroberung dieser Türme aufrufen – zum langen Marsch durch die Parteien und Institutionen. Wieder einmal.
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