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Kinder in einer Betriebswochenkrippe im VEB Stahlgießerei Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) Foto: privat

Kinderbetreuung in der DDR„Alle haben funktioniert“

Mit sieben Monaten kommt unser Autor in eine Wochenkrippe: totale staatliche Betreuung rund um die Uhr. Seine Suche nach Erinnerung ist schmerzhaft.

W as ist deine erste Erinnerung? Wie alt warst du da? Woran erinnerst du dich? Ich würde mich gern an meine frühe Kindheit erinnern. Diese Zeit ist wie bei allen in meinem Körper abgespeichert. Doch den wenigsten Menschen gelingt es, sich diese Erinnerungen bewusst zu machen. Meine frühesten Bilder setzen mit sechs Jahren ein.

Ich wurde 1971 in Leipzig geboren und war in einer Wochenkrippe. Am Montagmorgen wurde ich von meinen Eltern abgegeben und am Freitagnachmittag von dort wieder abgeholt. Der bezahlte Mutterschutz endete in der DDR damals bereits nach sechs Wochen. Alle Wochenkinder wollen sich gern an ihre Zeit in der Wochenkrippe erinnern und können es meist nicht. Mit Hypnose versuchen es manche. Andere begeben sich auf die Suche, sie befragen ehemalige Erzieher und ihre Eltern.

Ich frage meine Mutter: „Wenn du da wieder arbeiten gehen musstest, dann musste ich ja schon abgestillt sein?“ – „Ich konnte dich sowieso nur zwei Wochen lang stillen. Ich war zu aufgeregt, wegen des Streits mit deinem Vater.“

Ich mache meinen Eltern keine Vorwürfe. Trotzdem bin ich erschrocken. Ein Jahr lang zu stillen wird heute empfohlen. Die Ersatzmilch kann mit Muttermilch nicht mithalten. Das galt vor fünfzig Jahren sicher genauso. Ich lese, dass in den Wochenkrippen auch Kuhmilch gegeben wurde, dass Kinder daran starben.

Das ist mir sehr schwergefallen, aber ich hatte keine Wahl

Die Mutter heute über ihre damalige Lage

Seit ich selbst die Geburten meiner zwei Kinder miterlebt habe, kann ich mir auch schwer vorstellen, wie man sechs Wochen danach schon wieder arbeiten gehen kann. Aber für den „Aufbau des Sozialismus“ brauchte die SED jede Hand. Deswegen galt die Arbeitspflicht auch für Frauen. Nachdem ich monatelang von meiner Tante und meiner Oma betreut wurde, komme ich mit sieben Monaten in die Wochenkrippe.

„Das ist mir sehr schwergefallen“, sagt meine Mutter heute. „Aber ich hatte keine Wahl, ich habe einfach keinen Platz in einer Tageskrippe gefunden. Damals hat man anders über Erziehung gedacht und das als nicht so schlimm erachtet.“

Sie wird immer ganz aufgeregt, wenn ich danach frage. Manchmal kämpft sie gegen die Tränen an oder bekommt hohen Blutdruck. Einmal war für ein Jahr Funkstille zwischen uns. „Du musst dich nicht rechtfertigen. Ich will nur verstehen“, schreibe ich einmal. „Ich rechtfertige mich gar nicht“, kommt es zurück.

Schade. Lange hoffte ich heimlich auf eine Entschuldigung. Meine Mutter ist liebevoll. Wir haben ein gutes Verhältnis. Trotzdem kann ich ihre Zuneigung schwer annehmen. Sie hat verpasst, wie ich laufen lernte, meine ersten Worte gesprochen und meine ersten Zähne bekommen habe.

Und dann rechtfertigt sich meine Mutter doch. Zumindest verstehe ich es so. Sie schenkt mir zwei selbstgemachte Bücher mit Fotos, Briefen, Zeichnungen, Tagebucheinträgen und Dokumenten. Ich soll nachfühlen, wie es ihr damals ging. Das gelingt.

Ein Hausmeister allein mit neunzig Kindern

Bis ich entdecke: Sie ist in der Zeit zweimal mit einer Freundin eine Woche in den Urlaub gefahren. Verbringt auch Wochenenden ohne mich. Ich kann ihren Lebenshunger verstehen. „Ich war doch noch jung“, hat sie oft gesagt. „Ich habe einen neuen Partner gesucht.“ Trotzdem bin ich enttäuscht. Nicht einmal alle Wochenenden gehörten uns.

Vor einigen Tagen habe ich meiner Mutter erzählt, dass ich mich im Verein Wochenkinder e. V. engagiere. Danach schicke ich ihr Links mit Artikeln und zu einem TV-Beitrag. Sie sieht sie sich an und schreibt: „Es tut mir leid für uns beide. Ich war hilflos und konnte nur all meine Liebe über dich ausschütten, wenn du bei mir warst. Ich verstehe jetzt besser, dass das Thema für dich wichtig ist. Besonders erschüttert hat mich die Nennung von Fixierungen. Fühl dich umarmt.“

Die Kinder wurden nachts mit Lederriemen in den Betten festgebunden. Dabei gab es in den sechziger Jahren einen Todesfall. Danach wurden Windeln oder Decken verwendet, die Kinder fest eingewickelt. Haben die Erzieherinnen uns abends noch eine Geschichte vorgelesen? Ein Lied vorgesungen? Ein Lied für zwanzig Kinder, die nebeneinander in ihren Betten lagen? Oder war dafür keine Zeit?

Wochenkrippenkind Alexander Teske 1973 als Zweijähriger bei einem Zooausflug Foto: privat

„Abends haben wir die Kinder in die Betten gelegt, dann kam die Nachtwache und wir haben die Türen offen gelassen. Aber die Kinder haben auch gar nicht geweint. Erst heute weiß ich, wie sonderbar das ist. Es wäre ja auch niemand gekommen. Alle haben funktioniert“, erinnert sich Bärbel Benkert, eine Erzieherin in einer Wochenkrippe in Gotha.

Kleine Kinder wachen nachts bis zu achtmal auf. Dann wollen sie getröstet werden. In meiner Kindheit dachte man anders. Das Kind soll lernen durchzuschlafen. Auf keinen Fall dürfe man hingehen. Also hat man die Kinder schreien lassen.

In der Wochenkrippe wäre es ohnehin nicht möglich gewesen, sich um alle zu kümmern. Eine Nachtwache war für bis zu vierzig Kinder zuständig. Im Fall einer Dresdner Wochenkrippe war nachts nur der Hausmeister da – allein mit neunzig Kindern.

Einige Kinderpsychologen sagen heute: Säuglinge haben in den Momenten, in denen keiner kommt, Todesangst. Mir fällt es schwer, das auf mich zu projizieren. Ich möchte kein Opfer sein. Und dann zucke ich zusammen, wenn eine Therapeutin in einem Vortrag sagt: „Ich halte das für eine Menschenrechtsverletzung, sein Kind in eine Wochenkrippe zu geben.“

Und doch gibt es sie schon wieder: die 24-Stunden-Kita. In Hamburg, Berlin oder Schwerin. Der Ausbau von 300 Einrichtungen wurde unter Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig mit 100 Millionen Euro gefördert. Natürlich sind die Einrichtungen von heute keinesfalls mit denen von damals vergleichbar. Für bedenklich halte ich sie trotzdem. Spreche ich das aus, heißt es oft: Du bist wohl gegen Gleichberechtigung?

Mindestens 200.000 Kinder gingen in der DDR in eine Wochenkrippe. Die erste eröffnete 1950, die letzte schloss 1992. Da die Wochenkrippen planmäßig überbelegt und viele Kinder nur für einige Monate dort waren, könnte ihre Zahl auch bei bis zu 600.000 liegen. Die Betroffenen sind heute zwischen 32 und 74 Jahren alt.

„Fremde“ durften nicht hinein, auch nicht die Eltern

Ich kann mich an meine Zeit in der Wochenkrippe nicht erinnern. Andere auch nicht. „Fremde“ durften die Einrichtung nicht betreten, auch die Eltern nicht. Deswegen haben meine Eltern nie gesehen, wo und wie ich dort geschlafen habe, gegessen oder gespielt. Wieder andere wollen sich ungern erinnern oder nur sehr selektiv. Da ich meine Erzieherinnen nicht kenne, kann ich sie nicht fragen. Wenn sie überhaupt noch leben. Ich bin jetzt 52 Jahre alt.

Abends haben wir die Kinder ins Bett gelegt, dann kam die Nachtwache. Sie haben gar nicht geweint. Erst heute weiß ich, wie sonderbar das war. Es wäre auch niemand gekommen.

Die ehemalige Betreuerin Bärbel Benkert

Ich stoße auf Bärbel Benkert. Sie hat in Gotha zwischen 1978 und 1983 Wochenkinder betreut. Dann hat sie gekündigt. „Alle Erzieherinnen haben sich bemüht, viele auch liebevoll. Aber es blieb eine Abfertigung, weil jede bis zu zehn Kinder hatte. Wir hatten einen starren Tagesplan: 6 Uhr Flasche, 6.45 Uhr Wickeln, 8.15 Uhr Schlafen, 9.15 Uhr Spielen, 10 Uhr Brei, 10.45 Uhr Spielen, 11.15 Schlaf, 13 Uhr Wickeln usw. Mal ein Kind auf den Schoß nehmen und Hoppe-hoppe-Reiter machen, dafür blieb keine Zeit. Individuelle Geborgenheit war auch gar nicht Teil der Ausbildung. Für mich war die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sehr schmerzhaft.“

Benkert ist eine Ausnahme. Die meisten Erzieherinnen blicken ganz anders zurück: Den Kindern habe es nicht geschadet, heißt es, aus ihnen sei doch was geworden. Und wie war meine Erzieherin? War ich ein Lieblingskind, das bevorzugt behandelt wurde und auch mal auf ihrem Schoß sitzen durfte? Oder wurde ich in all den fünfzehn Monaten nie gestreichelt?

Manche Erzieherinnen sollen sehr liebevoll gewesen sein und sich rührend gekümmert haben. Sie haben auch mal ein Baby abends mit nach Hause genommen. Andere waren genervt, haben Kinder geschlagen. Manche haben den Kindern die Nase zugehalten und ihnen dann den Löffel mit dem Brei in den Mund geschoben. Das ging schneller. Manchmal kamen Kinder am Freitag auch mit einem wunden Po nach Hause.

Ich lese das alles in den Sachbüchern, die frisch erschienen sind. „Wochenkinder in der DDR“ von Heike Liebsch und den Sammelband „Wochenkrippen und Säuglingsheime“ aus dem Psychosozial-Verlag. Ich verschlinge alles zu dem Thema, was ich in die Finger bekommen kann.

Mehrere Studien aus DDR-Zeit wiesen nach, dass Wochenkrippenkinder dreimal so häufig krank waren wie zu Hause betreute Kinder. Auch motorisch und sprachlich entwickelten sie sich deutlich langsamer als Tageskrippenkinder. Nur Heimkindern erging es schlechter. Doch diese Studien blieben unter Verschluss. Sie passten nicht ins offizielle Bild der optimalen staatlichen Betreuung.

Alexander Teske heute Foto: Stensbjerg

In meinem Entwicklungsbogen vermerkte eine Frau Habicht: „Das Trinken aus der Flasche muss noch geübt werden.“ Im Entwicklungsbogen benoteten die Erzieher nach festen Kriterien das Kind. Er war für die Eltern gedacht. Als Datum steht da der 19. 12. 1972. Einen Tag später werde ich ein Jahr alt. Der 20. war ein Mittwoch. War ich da in der Wochenkrippe?

Am 19. 12. 1973 notiert eine Frau Hain: „Alexander muss es noch lernen, auch beim Mittagsschlaf sauber zu bleiben. Er ist auch auf dem Gebiet der Spieltätigkeit mit didaktischem Material ungeschickt. Auch beim Singen muss Alexander noch mehr Interesse zeigen.“

Einen Tag später feiere ich meinen zweiten Geburtstag. Nur wie? Der 20. war ein Donnerstag. Ich frage bei meiner Mutter nach: „War ich zum Geburtstag zu Hause, mitten in der Woche?“ Sie weiß es nicht mehr.

Dass ich in eine Wochenkrippe ging, war kein Geheimnis in der Familie. Mir war es lange Zeit auch nicht wichtig. Bis ich mit 24 Jahren das erste Mal Vater wurde. Erst da begriff ich, was es bedeutet, seine Eltern nur am Wochenende zu sehen. Seitdem hat das Thema in mir gearbeitet. Aber erst vor zwei Jahren ist mir klar geworden, dass es noch immer eine Bedeutung hat.

Damit bin ich nicht allein. Viele Wochenkinder holt die Vergangenheit erst Jahrzehnte später ein. Ich suche mir eine Selbsthilfegruppe. In meinem Wohnort gibt es keine. Also fahre ich dafür ab und zu nach Leipzig. Oder Potsdam.

Noch nie habe ich mich in einer Selbsthilfegruppe angemeldet. Nun sitze ich zwischen lauter fremden Menschen. Und fühle mich zu meiner Überraschung verstanden. Und geborgen.

Aus den Treffen weiß ich: Viele haben nur durch Zufall erfahren, dass sie in der Wochenkrippe waren, ihre Eltern haben es ihnen verschwiegen. Andere kommen mit ihren Eltern darüber nur schwer ins Gespräch. Die Eltern reagieren ablehnend, manchmal wird geschrien. Eine dritte, kleine Gruppe berichtet von Entschuldigungen und Versöhnungen. Das fühle sich kurz gut an, sei aber keine endgültige Heilung.

„Das war damals ganz normal“

Ein Treffen der Selbsthilfegruppe, dreizehn Betroffene wollen mit Regina sprechen. Sie hat fünfzehn Jahre lang als Ärztin einer Wochenkrippe Kleinkinder betreut. Ihre Botschaft: „In die Wochenkrippe zu gehen war damals normal. Die Erzieherinnen haben sich alle ganz liebevoll um euch gekümmert.“ Die ehemaligen Wochenkinder kneten ihre Hände, sie rutschen auf ihren Stühlen hin und her, sie blicken irritiert. Und dann stellen sie Fragen.

„Hatten die Kinder auch einmal blaue Flecken?“

„Nein.“

„Haben Sie Isolierzimmer für kranke Kinder gesehen?“

„Nein.“

„Haben die Erzieher Beruhigungsmittel für die Nacht beantragt?“

„Also vielleicht im Ausnahmefall, wenn ein Kind mal sehr unruhig war.“

Regina ist heute 83 Jahre alt. Über die Fragen ist sie überrascht. Sie sagt: „Ich wehre mich dagegen, wenn die Wochenkrippen heute als Gefängnis bezeichnet werden.“

„Aber woher kommt diese Verteidigung? Niemand hat hier von einem Gefängnis gesprochen?“

„Für eure Mütter war das bestimmt auch nicht leicht, die haben bestimmt viel geweint.“ Regina nimmt einen Schluck Tee.

Ich frage: „Sie selbst haben erzählt, dass Sie Ihren Sohn ‚zum Glück‘ nicht in die Wochenkrippe geben mussten, sondern bei den Schwiegereltern unterbringen konnten. Warum, wenn es da so gut war?“

„Na, weil es immer besser ist, wenn das Kind bei der Oma bleibt. Das weiß doch jeder. Die Erzieher können sich noch so viel Mühe geben, die Mutter können sie nicht ersetzen.“

Seit fünfzig Jahren ist die Bindungstheorie Konsens in der Psychologie. Sie besagt, dass eine sichere Bindung in der Kindheit zu einer gesunden emotionalen Entwicklung und stabilen Beziehungen im Erwachsenenalter führt. Entscheidend sind die ersten zwölf Monate. Wird in dieser Zeit das Urvertrauen gestört, kann es später zu emotionalen und sozialen Problemen kommen. Erst mit zwei Jahren beginnen Kinder, sich zaghaft von ihren Eltern zu lösen.

Seitdem gilt in der Bundesrepublik der Grundsatz, selbst eine schlechte Familie ist besser als ein gutes Heim. Ende der sechziger Jahre wurden alle Säuglingsheime geschlossen. Wem es zu Hause zu schlecht erging, kam in eine Pflegefamilie oder wurde adoptiert.

Sozialismus und Kollektiv

Da sie eher eine individuelle statt eine kollektive Perspektive propagierte, galt die Bindungstheorie in der DDR als reaktionär, gerichtet gegen die Emanzipation der Frau. Sie war das Gegenteil des sozialistischen Konzepts.

Doch auch in der DDR wussten Fachleute um die Folgen der Trennung der Kinder von ihren Eltern. Die Aufnahme in die Wochenkrippe wurde damals von Forschern als „physischer und psychischer Schock“ beschrieben. Der Fachbegriff lautete „Anpassungsstörung“, schreibt Florian von Rosenberg in seinem Buch „Die beschädigte Kindheit“.

Die Kinderpsychiaterin Agathe Israel beschäftigt sich seit Langem mit dem Thema. Sie meint: „Für das kindliche Empfinden sind Trennungen, die sie zeitlich nicht überblicken können bzw. deren Ende für sie nicht absehbar ist, faktisch ein Abschied für immer.“

In Grünheide bei Berlin treffen sich auf einem Freizeitgelände am Störitzsee fünfzig Wochenkinder. Es ist das erste Mal, dass sie drei Tage lang zusammenkommen. Am zweiten Abend sitzen sie alle um ein Lagerfeuer herum. Das Brennholz haben sie selbst mitgebracht – aus Karlsruhe, Halle, Greifswald. Der Mann, dem die Stimme versagte, als er sich an der Diskussion beteiligen wollte, spielt Gitarre. Drei Frauen singen dazu den melancholischen Song der Leipziger Band „Karussell“ von 1987: „Als ich fortging, war die Straße steil – kehr wieder um. Nimm an ihrem Kummer teil, mach sie heil.“

Am nächsten Tag stellt Stefanie Knorr die Ergebnisse einer Studie der Universität Rostock vor. Es ist die erste Studie dieser Art. Ihre Ergebnisse: Nur 27 Prozent der Wochenkinder haben in ihrem Leben sicher-autonome Bindungen aufbauen können. In der gesunden Kontrollgruppe sind es 58 Prozent. 92 Prozent der Wochenkinder entwickeln psychische Störungen, vor allem soziale Phobien, Schlafstörungen und posttraumatische Belastungsstörungen. 59 Prozent sind es in der Kontrollgruppe.

295 Wochenkinder wurden für die Studie befragt. Sie haben sich freiwillig gemeldet. „Was uns überrascht hat, war wie oft Traumata weitergegeben werden. Uns wurde berichtet, dass viele Eltern von Kriegserlebnissen schwer gezeichnet waren. Dies könnte später ein Grund für eine gestörte Eltern-Kind-Beziehung sein“, sagt Stefanie Knorr.

Das könnte bei mir passen: Meine Mutter ist Anfang 1945 noch kein Jahr alt, da muss meine Oma mit ihr aus Schneidemühl in Westpreußen, dem heutigen Piła in Großpolen, fliehen. Der Zug wird von Tieffliegern beschossen, es ist kalt, die Trinkflasche geht kaputt. Für 275 Kilometer brauchen sie Tage, sie stranden im zerschossenen Leipzig, wo sie niemanden kennen.

Meine Oma hat oft über die Wochenkrippe gesprochen. Sie war eine liebevolle Bilderbuch-Oma. Sie ist seit zehn Jahren tot. Bleiben meine Eltern. „Ach, gehst du jetzt wieder zu dieser Selbsthilfe?“ sagt eines Tages mein Vater.

„Ja, und warum rollst du da mit den Augen?“

„Na ja, da helft ihr euch dann alle selbst, wie schwer ihr es hattet.“

Mein Vater ist 82 Jahre alt. Seine Kindheit hat er zwischen Trümmern mit Hunger und Schlägen verbracht.

„Genau. Es tut mir gut. Und wenn ich deine Meinung dazu wissen will, frage ich“, gebe ich zurück.

Es gibt bei ihm aber auch Momente von Verständnis: „Ich habe dich immer mit dem Auto hingefahren. Deine Mutter hatte ja keins und es war ein weiter Weg. Wenn wir dann um eine bestimmte Ecke gebogen sind, hast du schon angefangen zu weinen. Da waren wir aber noch ein ganzes Stück von der Wochenkrippe entfernt. Dein Schreien hat dann nicht mehr aufgehört. Das war so eine Villa in Leipzig-Leutzsch.“

Ich sehe sofort nach. Auf wochenkinder.de, der Webseite des Vereins, sind viele Wochenkrippen in einer interaktiven Karte eingetragen. Da ist sie: Leipzig, Otto-Schmiedt-Straße 32. Auf Google Maps sehe ich: Das Haus steht noch.

Und was ist mit den Vätern?

Tage später fahre ich hin. Die Villa steht in einem noblen Viertel, ist renoviert. Ich mache Fotos, erkenne aber nichts wieder. Ein Mann schließt sein Fahrrad an.„Wohnen Sie hier?“, frage ich.

„Ja, schon.“ – „Darf ich mir mal den Flur an­sehen?“

Er lässt mich ein. Und sofort erkenne ich alles wieder. Die dunkelbraunen Holzvertäfelungen, die Treppe, das große Fenster mit Buntglas und den riesigen Kronleuchter. Oder bilde ich mir das etwa nur ein? Ich kann mich doch gar nicht erinnern. Aber es kribbelt plötzlich wie wild in meiner Hand.

„Das Haus gehört jetzt Kai Pflaume“, sagt der Mann, als ob das irgendwas zur Sache täte.

„So, ich muss dann mal wieder, ich habe wenig Zeit“, sagt er und schiebt mich zum Ausgang.

Zurück bei meinem Vater: „Und wenn wir dich dann am Freitag abgeholt haben, hast du den ganzen Abend nicht mehr gesprochen. Zu Hause bist du die Zimmer abgelaufen, von Ecke zu Ecke, als ob du alles vermessen wolltest, um es wiederzuerkennen. Gesprochen hast du dann erst ab Sonnabend früh.“

Ich traue mich nicht, die naheliegende Frage zu stellen: Warum hast du dich nicht gekümmert? Du hast gut verdient. Du hättest meine Mutter heiraten können und sie hätte zu Hause bleiben können. Ich will ihn nicht in Bedrängnis bringen. Er hat Krebs. Wer weiß, wie lange wir noch eine schöne Zeit verbringen können. Von meiner Mutter weiß ich: Als sie schwanger war, ging eines Tages eine andere junge Frau bei meinem Vater zu Hause ans Telefon.

In einer Diskussion mit anderen Wochenkindern sage ich später: „Mich stört die Verengung auf die Mütter. Immer müssen sie sich den unangenehmen Fragen ihrer Kinder stellen. Und die Väter machen sich einen schlanken Fuß. Wenn mehr Väter damals Verantwortung übernommen hätten, hätte es weniger Wochenkinder gegeben.“

Wir hatten den Film „Wenn Mutti früh zur Arbeit geht“ gesehen. Ein Mutter-Kind-Drama. Eine knappe Stunde in Schwarz-Weiß. Der Vater taucht nur für Sekunden auf einem alten Foto auf. Und von hinten aufgenommen, wie er mit dem Kind an der Hand einen Flur entlangläuft.

Wenn Mutti früh zur Arbeit geht. Ein Kinderlied. Jeder in der DDR kannte es:

Wenn Mutti früh zur Arbeit geht, dann bleibe ich zu Haus. Ich binde eine Schürze um und feg ’ die Stube aus.

Die Regisseurin Amina Gusner ist selbst ein Wochenkind. Sie sagt in ihrem Grußwort zum Treffen: „Ich wusste immer, dass ich in einem Wochenheim war, hatte das aber nie zum Thema gemacht. In der Pandemie wurde mir bewusst: Es ist eines. Ich habe recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen. Sogar mein damaliger Freund und meine Schwester waren in Wochenheimen, was ich aber gar nicht wusste. Ich wollte wissen: Was hat das mit uns gemacht, das ist ja eine Form der Entwurzelung.“

Dann nennt jeder seine Lieblingsszene aus dem Film. Manche mit stockender Stimme und feuchten Augen. Ich sage: „Die zwei Sequenzen, in der sich die Tochter kurz in Nahaufnahme stumm selbst streichelt. Denn darum ging es: fehlender Körperkontakt.“

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52 Kommentare

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  • Ich bin im Westen aufgewachsen und nicht in einer Krippe, meine Mutter war Hausfrau.



    Trotzdem ging es mir nicht unbedingt besser: Ich musste auch nachts "durchschlafen lernen" und habe die ganze nacht geschrien, tagsüber genauso. Körperkontakt gab es so gut wie nicht, generell war das Interesse meiner Eltern an mir sehr eingeschränkt.



    Meinen Vater habe ich so häufig gesehen, wie den Postboten: Ein mal am Tag für 2 Minuten wenn er von der Arbeit kam. Das Wesen meiner Mutter: Kalt und angepasst an die Norm.



    Was ich damit sagen will: Die Krippen im Osten und die Situation im Westen sind geprägt gewesen von kriegsgestörten Eltern, die nie Kinder hätten bekommen dürfen und einer weitestgehend inhumanen Nachkriegsgesellschaft der alles wichtiger war, als die Psyche ihrer Kinder. Nicht überall, aber meistens.

  • Danke für den Artikel, die kritischen Kommentare zu Rollenbildern in der Erziehung sehe ich auch als Aufforderung, (angehende) Eltern weiterhin für des Thema zu sensibilisieren und Elternzeit und Elterngeld so zu gestalten, dass sie wirklich allen erziehenden Personen die Möglichkeit geben, in dieser wichtigen Zeit bei ihren Kindern zu sein.

    Ich hatte „Glück“, ab Woche sieben in einer Tageskrippe zu landen, während Mutti Vollzeit gearbeitet hat und mich und meinen Bruder quasi alleinerziehend nebenberuflich großzukriegen (geb. 1971). Der Vater ist zur See gefahren und generell wenig Beteiligung gezeigt. Nach 3 1/2 Jahren war ich so oft krank, dass meine Mutter aufgehört hat zu arbeiten und ganz zu Hause geblieben ist mit mir – verkehrte Welt.

    Ich zahle mit Angststörung und Depressionen seit der Kindheit und gestörtem Beziehungsverhalten, Arbeit funktioniert einigermaßen gut. 2008 dann endlich ein Einsehen, dass das nicht normal ist und seit dem bin ich on/off in Therapien. Jetzt, mit 53 Jahren komme ich langsam besser klar –nicht zuletzt auch auf Grund der vielen Veröffentlichungen zum Thema als auch der neueren Publikationen zu frühkindlicher Traumatisierung/Entwicklungstrauma.

  • „Entscheidend sind die ersten 12 Monate.“

    Eben. Und heutzutage werden die Mütter auch nach Möglichkeit nach 6 Wochen wieder zur Arbeit gehetzt.



    Dabei sollte keine Mutter auch noch zusätzlich arbeiten müssen. Mindestens für 15 Jahre.

    • @Karl Heinz:

      Ich wünschte mir, dass die von Ihnen nicht erwähnten Väter ihren Teil der Verantwortung übernehmen würden, und zwar nicht nur in der Form, dass sie das Geld heranschaffen.

  • Die Zeitzeugen werden weniger, da kann man seiner Phantasie öfter freien Lauf lassen. Ich hab den "Roman" nicht bis zum Ende gelesen, irgendwann hat es gereicht. Meine Frau war übrigens "Krippentante" (damals Umgangssprachlich), in einer Tageskrippe. Das setzte damals ein Fachschulstudium voraus. Die Kinder wurden liebevoll betreut, da wurde auch zum schlafen (Mittagsschlaf) keins angebunden. Die Windeln wurden regelmäßig gewechselt und hygienisch bei 90 Grad gewaschen, nicht wie heute alles nur noch "Wegwerf". Es gab genügend Spielzeug und einen großen Sandkasten. Der Unterschied zu heute, weniger Bürokratie. Der Autor weiß zwar nicht was er erlebt hat, er hat sich aber erkundigt wie schlecht es ihm ging. Und das alles offensichtlich ohne Schaden zu nehmen, er hat es sogar zu einem "seriösen?" Journalisten geschafft. Eigentlich müsstet er doch völlig psychisch gestört sein nach dieser brutalen Kindheit. Seltsam...



    Ansonsten gab es im Gegensatz zu jetzt keinen Mangel an Kinderbetreuung und Frauen konnten Kinder bekommen, ohne auf Karriere oder sonst was Rücksicht nehmen zu müssen. Damit war auch die Geburtenrate gesichert und es gab keine Probleme mit Überalterung der Bevölkerung.

    • @Uwe Beyer:

      Merken Sie, dass Sie überwiegend auf einer anderen Ebene argumentieren?

      Emotionale Vernachlässigung im Kleinkindalter oder auch nur Bindungsunsicherheit hat mit der Größe des Sandkastens, dem Material der Windeln und der Anzahl des Spielszeugs nichts zu tun.

      Woher nehmen Sie die Information, er habe keinen Schaden erlitten?

      Ich lese heraus, dass er deutliche Probleme hat.

      Deshalb geht er ja in Selbsthilfegruppen.

      Er stellt sein persönliches Problem nur nicht in den Mittelpunkt des Artikels.

      Die 92 % ehemalige Wochenkrippenkinder mit psychischen Störungen wird sich der Autor nicht ausgedacht haben.

      Es ist übrigens nicht untypisch für Menschen, die emotionale Vernachlässigung als Kleinkind erlebt haben, dass sie als Erwachsene anscheinend gut funktionieren - gerade beruflich.

      Zu funktionieren und sich zusammenzureißen, haben sie ja gelernt.

      Ihre Partnerin hat in der Tageskrippe gearbeitet.

      Wenn es gut läuft, hat das Kind dort ein, meist zwei Bezugspersonen.

      Das ist fast, als würde man es jeden Tag zur Oma geben.

      Wochenkrippe bedeutet laufend wechselnde Erzieherinnen.

      Das macht etwas mit Kindern, die nur wenige Monate alt sind.



      Das ist ein ganz anderes Kaliber.

    • @Uwe Beyer:

      Klar doch, Friede, Freude, Eierkuchen und die zahlreichen Betroffenen bilden sich ihre Traumata und Störungen nur ein.

      So patzig und ignorant auf die Wahrheit und die Betroffenen herabwürdigend zu reagieren, spricht übrigens Bände.

    • @Uwe Beyer:

      Danke für Ihren Beitrag. Ich denke, beide Sichtweisen haben ihre Berechtigung. Die Krippenerzieherinnen haben damals meist ihr Bestes gegeben, und die frühe Sozialisation hat die soziale Kompetenz geschult. Wobei die Wochenkrippe eine krass besondere Situation war!



      Aus Kinderperspektive sieht es eben etwas anders aus, wie Herr Teske eindrucksvoll entfaltet, denn die Auseinandersetzung mit sich selbst wurde durch die frühe Kollektivierung behindert. Das gibt Probleme in unserer individualisierten Gesellschaft.

  • Geht man in der DDR von bisherigen Produktions- und Absatzbedingungen aus,so wird die verdeckte Arbeitslosigkeit auf 15% der Gesamtbeschäftigung, das sind 1,4 Mill. Beschäftigte, geschätzt.

    Da herrschte dann kein Fachkräftemangel bei Erzieherinnen .

  • Ich bin froh hier etwas zu dem Thema lesen zu können, die Zustände die dort (teilweise?!) vorherrschten sind erschreckend.

    Wir haben vor einem knappen Jahr unser erstes Kind bekommen und fragen uns nun ob oder ab wann wir es in die Krippe geben sollen. Versucht man sich mit dieser Frage zu befassen findet man sich schnell zwischen Esoterikern, rechten Verlagen und konservativen Influencern aus den USA wieder.



    In der Mitte der Gesellschaft findet diese Auseinandersetzung quasi nicht statt. Stattdessen wird auf Normen verwiesen. In unserem Umfeld gehen die meisten Kinder mit einem Jahr in die Kita, teilweise auch deutlich früher.



    Wir werden teilweise schräg angeschaut, weil wir sie bisher nicht zur Kita angemeldet haben. Die Bedenken werden dann teilweise auch als reaktionär oder gar als persönlicher Angriff wahrgenommen.

    Ich finde das fehlende Bewusstsein für das Thema angesichts der DDR-Vergangenheit nochmal deutlich verstörender als zuvor.

  • Auch da kommt die empirische Psychologie und Biologie zu "unpassenden" Erkenntnissen.



    Ich bleibe dabei: wer nicht bereit ist, sich um seine Kinder zu kümmern, soll keine haben. Das gilt für Männlein wie Weiblein.

  • Ein berührender und bedrückender Artikel und die Aufforderung daraus für pädagogische Praxis zu lernen, ist überaus richtig. Der Satz zu 24h-Kitas ist aber eine faktenfreie Polemik und höchst ärgerlich:

    „'Ich halte das für eine Menschenrechtsverletzung, sein Kind in eine Wochenkrippe zu geben.' Und doch gibt es sie schon wieder: die 24-Stunden-Kita. In Hamburg, Berlin oder Schwerin. [...] Natürlich sind die Einrichtungen von heute keinesfalls mit denen von damals vergleichbar. Für bedenklich halte ich sie trotzdem. Spreche ich das aus, heißt es oft: Du bist wohl gegen Gleichberechtigung?“

    Anders als der Autor suggeriert sind in 24-Stunden-Kitas Kinder eben nicht 24 h untergebracht, die Kita betreut lediglich auch zu Zeiten, die von normalen Kitas nicht abgedeckt werden. Das ist für Schichtarbeiter*innen wie Krankenpfleger, Ärztinnen, Polizei und im produzierenden Gewerbe insbesondere für Alleinerziehende eine wichtige Unterstützung. Dagegen zu polemisieren und dies mit Wochenkitas in Verbindung zu bringen ist auch mit der Einschränkung des Autos tatsächliche eine fragwürdige Angelegenheit. Die Lehre aus Wochenkitas kann nicht keine Kitas sein.

    • @Philip J. Fry:

      Ich danke Ihnen herzlich für den Kommentar. Das hat mir erspart diesen quasi 1-zu-1 selber zu schreiben!

      +1

    • @Philip J. Fry:

      Danke.

  • Absurd grausam und grausam absurd!

    Es erklärt mir aber auch, warum viele Menschen aus der ehemaligen DDR im Bindungsverhalten so anders sind und sie nicht dafür verantwortlich sind.



    Es macht unendlich traurig, was im Namen einer Ideologie Menschen Menschen antun.

    • @Heideblüte:

      Haben Sie sich schon einmal mit dem Schicksal der westdeutschen „Verschickungskinder“ beschäftigt? Schwarze Pädagogik gab es auch in der BRD. Viele Erziehungsvorstellungen wurden 1:1 aus nationalsozialistischen Lehrbüchern übernommen, und wenn‘s ganz schlecht lief, die Erziehenden gleich mit.

    • @Heideblüte:

      Gucken Sie sich unsere Kindergärten an oder unsere Schulen. Da bekommt man schon das Grausen, wenn man nur die verlotterten Gebäude sieht.



      Und das Bildungssystem ist seit Jahrzehnten im Eimer.



      Welcher Ideologie das wohl zu verdanken ist? Sicher keiner, der Kinder wichtig sind.

      • @Karl Heinz:

        Es ist doch Quatsch zu behaupten, heruntergekommene Schulgebäude seien Teil einer Ideologie.

        Sie sind ein Ausdruck leerer Kassen.

        Zu hehaupten, denjenigen, die aktuell für Bildung verantwortlich sind, seien Kinder nicht wichtig, ebenso.

        Nur weil man etwas nicht hinkriegt, heißt das ja nicht, dass es einem unwichtig ist.

        Dass die Qualität des Unterrichts sich proportional zum Sanierungsgrad des Gebäudes verhält, müssten Sie noch nachweisen.

        Ich bin gespannt.

  • Das ist harte Kost und mein Dank an Herrn Teske, dafür, dass er dieses sehr tiefgreifende Thema und seine sehr persönlichen Erfahrungen mit uns teilt.

    An einigen Stellen konnte ich Parallelen zu meiner Familie und Teilen meiner Kindheit erkennen, da wurden tief vergrabene Emotionen befreit, von denen ich nicht einmal ahnte, dass diese in mir schlummern.

    Danke.

  • "Du hättest meine Mutter heiraten können und sie hätte zu Hause bleiben können."



    Echt jetzt? Das soll die Lösung sein? Wie 50er ist das denn...

    • @NoMeansNo:

      Was schlagen Sie rückblickend dem Vater vor, der das Leid seines Kindes deutlich wahr- aber nichts unternahm?

    • @NoMeansNo:

      Hinzu kommt: in der DDR waren die Löhne nicht ausreichend, um allein eine Familie zu ernähren. Sehr viele Netzwerke und Unterstützung waren an die Arbeit gekoppelt (z.B. Urlaubsplätze) Ein komplett anderes System....

      • @4usall:

        Der konkrete Lösungsansatz mag ja unbefriedigend sein. Ich finde es trotzdem berechtigt aus Sicht eines Sohnes, dem Vater die Frage zu stellen, aus welchen Gründen er sich nicht gekümmert hat und welche Möglichkeiten es gegeben hätte, statt das Kind damit allein zu lassen. Das einfach mit der Bewertung "50er" und "geht nicht"-Argumenten wegzuwischen, erscheint mir etwas unempathisch. Zumal hier ja mal der Vater in die Pflicht genommen wird, was eher nicht 50er ist.

  • Diese armen Kinder. Ich wünsche den Betroffenen alles Gute.

  • Wenn man dazu noch bedenkt, dass die Pflege von Kindern damals keine ernsthafte Qualifikation erforderte, weil man - ganz unabhängig von Ost oder West - der Überzeugung war, Frauen läge das in denen Genen, kann man sich ausmalen wie oft Gewalt im Spiel gewesen sein muss.

    • @Frl. Rottenmeier:

      Die Wochenkrippen waren wirklich eine für alle Seiten ungünstige Lösung, alle Arbeitskräfte stets zur Verfügung zu haben...



      Erzieherin in der DDR jedoch ein gut geachteter und gut ausgebildeter Beruf, schon in den 60ern mussten junge Frauen an Fachhochschulen studieren, um Erzieherin zu werden...

      Ausbildung zur Kindergärtnerin in der DDR



      research.uni-leipz...platz%20zugewiesen.

    • @Frl. Rottenmeier:

      Hatte schon viele komische Geschichten der staatssozialistischen Kinderversorgung mitbekommen. Aber dass es „drüben“ so krass war, war mir neu. Ein sehr interessanter Einblick in die Geschichte.

  • Ich bin im Westen in einer Pastorenfamilie aufgewachsen. Unsere Kirche hat immer Kontakte in die DDR gepflegt. So hatte jede*r Pastor*in eine*n persönluche*n Partnerpastor*in in der DDR und jede Gemeinde eine Partnergemeinde. Mein Vater hat diese Kontakte sehr ernst genommen und so war ich als Kind und Jugendliche oft in der DDR und habe dort Freunde gefunden und bei ihnen Zuhause in der Zeit gewohnt. Viele Christ*innen haben ihre Kinder ganz bewusst nicht in diese Wochen- oder auch Tageskrippen gegeben, weil sie die Sozialistische Indoktrination nicht wollten. Das hieß, dass idR die Frauen Zuhause blieben und die Kinder erzogen haben ohne Krippe und Kindergarten und die Väter alleine für die finanzielle Versorgung gesorgt haben. Sie haben es oft nicht leicht gehabt und die Kinder haben in der Schule viele Nachteile erleben müssen und durften zb später nicht studieren. Sie haben es aber aus voller Überzeugung gemacht, auch, weil sie wollten, dass ihre Kinder mit viel Liebe aufwachsen. Im Nachhinein weiß man, dass sie "Recht" hatten und eine gute Entscheidung besonders für die psychische Entwicklung getroffen haben. Auch das kann christlicher Glaube bewirken.

    • @Anke Stein:

      Die Kinder hatten die Benachteiligung, wie nicht zum Abitur zugelassen zu werden, aber nicht, weil sie nicht im Kindergarten waren oder ihre Mutter zu Hause blieb.

      Sie hatten sie wegen der kirchlichen Bindung ihrer Eltern.

      Da hätte ihnen auch der Kindergarten nichts genützt.

  • Säuglinge schreien lassen, eine Brutalität sondergleichen.



    Heute ist die Wissenschaft und Gesellschaft hoffentlich weiter.

    • @aujau:

      "Säuglinge schreien lassen, eine Brutalität sondergleichen."

      Stand damals in jedem Erziehungsratgeber...

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Auch wir nach dem Krieg geborenen jüngeren Geschwister wurden in Westdeutschland nach den Regeln der Johanna Haarer (Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind) erzogen. Schreien lassen!! Fütterung pünktlich nach der Uhr. In diesen Zeiten auch das Kinderzimmer (falls man eines hatte) nicht betreten. Als meine erste Tochter 3 Wochen alt war, kam meine Mutter und sagte: "Du stillst ja schon wieder, du hast doch erst vor 2 Stunden gestillt, als wir telefoniert haben." Meine kleine Schwester hat sich selbst jeden Abend lang in den Schlaf schaukeln müssen, das Geräusch kenn ich bis heute, und bis heute nagt sie an ihren Fingern.



        Wir Schwestern hatten uns zum Glück gegenseitig.



        Und zum Glück fanden meine Eltern Kindergarten das allerletzte. Aber wegen einer Urlaubsreise uns bei mehr oder weniger gut bekannten anderen Leuten für viele Tage abzuliefern, war ihnen selbstverständlich.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Eine fürchterliche Ideologie. Ist wohl auch heute noch stellenweise zu finden.

        • @aujau:

          Nur eine Einordnung, dass es kompliziert ist, heutige Maßstäbe an vergangene Zeiten anzulegen.

      • @warum_denkt_keiner_nach?:

        Meines Wissens nicht mehr, aber die damaligen Entscheider waren vorher aufgewachsen. Solche Regeln stehen in Ratgebern der Nazizeit, die Ursache ist aber genau anders herum. Es waren diese Ideen des Materialismus, der Funktionierens, der "Moderne" in den Zwanzigern, aus denen die totalitären Ideologien hervorgingen.

        • @Axel Berger:

          "Es waren diese Ideen des Materialismus...aus denen die totalitären Ideologien hervorgingen."

          Aha. Blöd nur das aus idealistischen Ideen (Religionen) auch totalitäre Regime hervorgegangen sind und hervorgehen. Man denke nur an die mittelalterliche Kirche oder heute die Taliban.

          Es muss also andere Ursachen geben.

          • @warum_denkt_keiner_nach?:

            Man kann mit unterschiedlichen Ideen zum gleichen Ergebnis kommen.

            Die mittelalterliche Kirche - ob katholisch oder orthodox - installierte übrigens kein totalitäres politisches System.

            Die heutigen Taliban auch nicht.

            Trotz des umfassenden Anspruchs der Religionsvertreter.

            Der Totalitarismus gilt als Phänomen des 20. Jahrhunderts.

  • Ein sehr berührender Beitrag.



    Vielen Dank für die authentischen Einblicke!

  • Super interessanter Bericht, vielen Dank dafür.



    Wir haben in unserer Familie beide Extreme kennengelernt - meine Frau als Thüringer Gewächs kam mit wenigen Monaten bereits in die Krippe. Ganztagskita, Ganztagsschule, das volle Programm bis zum Studium.



    Ich hingegen wuchs in Bayern auf. Bis zur Schule ländlich, Kindergarten nie kennengelernt. Wieso auch, Oma Opa Tanten Onkels, die ganze Sippe im Ort, einen Kindergarten gab es, Träger die katholische Kirche, geöffnet von 8 bis 12 Uhr, aber den benutzte kaum jemand.



    Das Schulleben dann im Münchner Vorort aufgewachsen. Unterricht von 8 bis 13 Uhr, Nachmittagsbetreuung gab es nicht - warum auch, Mama war ja da...



    Heute gilt das Modell Kinder zuhause aufwachsen zu lassen als überholt und rückwärtsgewandt, schade.



    Es gibt auch gute Gründe die dieses System bevorzugen - ob ein Elternteil oder beide im Wechsel sich kümmern ist ja frei möglich.



    Schade ist, dass immer noch das Narrativ gelebt wird - Karriere oder Kind.



    Beides geht. Zumindest nacheinander.



    Es wäre Aufgabe der Politik das auch nebeneinander zu ermöglichen

    • @Farang:

      Das Rückwärstgewandte an diesem Modell, wie Sie es nennen, basiert aber eher darauf, dass sich das "betreuende Elternteil" (was in Ihrer heilen Kindheit sicher Ihre Mutter war) in eine Abhängigkeit des anderen arbeitenden Elternteil begab... mit entsprechend einhergehenden Effekten



      Es war und ist ein sehr westdeutsches Modell, in das einige (oft westdeutsche) Paare heute noch gern zurückfallen. Mir sind Fälle bekannt, bei denen es äußerst schwierig wurde, als die heile Welt in wanken riet...

      • @Köppen Robert:

        Als ich aufwuchs musste die Frau ihren Mann noch um Erlaubnis fragen ob sie arbeiten gehen darf...



        Frauen waren damals ihren Männern so oder so ausgeliefert, ob mit oder ohne Kind.



        Heute ist es zum Glück anders und ich wünschte mir es hätte zu meiner Zeit schon die Möglichkeit gegeben, dass man sich die bezahlte Elternzeit teilen kann.



        Elternzeit überhaupt...😅



        Trotz allen unkens sind wir als Gesellschaft extrem weit gekommen in einem halben Jahrhundert, darauf sollten wir auch stolz sein.



        Ich habe zur Betreuung unserer Kinder mir ein Sabbatical genommen, hieß damals freilich anders: "der is zu faul zum arbeiten".



        Das einzige das ich bereue ist, das nur bei zwei unserer drei Kinder gemacht zu haben.



        Ich plädiere dennoch für das System das, wenn man sich einig ist, einer oder beide abwechselnd zur Betreuung der Kleinen zuhause bleibt für die ersten Jahre - denn das was sie als "heile Welt" umschreiben ist eine Sicherheit, Geborgenheit und innige Liebe wie sie nur Eltern geben können.



        Kinder sind keine Gegenstände, dieses 'Abschieben' für 9 oder mehr Stunden täglich von teils 1jährigen in Kitas finde ich gruslig.



        Eltern sollte deutlich mehr finanzielle Sicherheit geboten werden.

    • @Farang:

      Drei meiner Großnichten wohnen nach teils weit entfernten Interims in direkter Nachbarschaft zu den Eltern und zueinander. Die Kinder haben immer jemand, zu dem sie hingehen könnten. Die ersten beiden der drei könnten in naher Zukunft Großelten werden. Leider ist das so in vielen Berufen möglich.

      • @Axel Berger:

        Im letzten Satz fehlt natürlich ein "nicht".

  • Da sind viele wichtige Punkte zu den Wochenkrippen drin.



    Aber warum ausgerechnet die Kritik mit dem Stillen beginnen?



    Auch heute gibt es keine Stillpflicht.



    Ziemlich erstaunlich, wenn Männer Frauen diese Entscheidung nicht überlassen können.

    • @Frauke Z:

      Stillen ist das Beste für das Kind. Es dient der Bindung, beugt Allergien und Süchten vor und es müssen keine Fläschchen gespült werden. Ich habe mir die Zeit genommen, mein Kind anderthalb Jahre zu stillen, ab einem Jahr mit Beikost. Allerdings funktioniert das nur, wenn die Mutter auch stillen und die erste Zeit beim Kind sein möchte. Die Möglichkeit dazu mit sozialer Absicherung und Rückkehrgarantie in den Beruf sollte die Politik bereitstellen.

    • @Frauke Z:

      In den 60er und 70er Jahren wurde nicht nur im Osten, sondern auch im Westen, vielen Frauen das Stillen ihrer Säuglinge systematisch unmöglich gemacht.



      Viele Frauen tun das heute als "Stillen war halt nicht modern" ab. Oder rechtfertigen sich mit "Ich hatte nicht genug Milch", obwohl das eher Folge als Ursache des Flaschenfütterns war.



      Mich wundert eher, dass dies für den Sohn überraschend kam.



      Aber es ist ein guter Einstieg um darauf hinzuweisen, dass Kuhmilch für Säuglinge lebensgefährlich sein kann. Auch aus Geldnot haben Mütter schon Kuhmilch gefüttert und dies bitter bereut. In einer professionell geleiteteten Krippe sollte das eigentlich auch in den 50ern schon bekannt gewesen sein. Es zeigt, wie schlecht durchdacht das System vom ersten Tag an war.

    • @Frauke Z:

      Wenn den Artikel also eine Frau (Tochter) statt einem Mann (Sohn) geschrieben hätte, wäre alles ok?

      Das Stillen steht chronologisch halt am Anfang.

      Erstaunlich, was Frauen aus einem Artikel über mehrere Seiten, die ein unmenschliches System beschreiben, mitnehmen.

      • @Strolch:

        Haben Sie das "unmenschliche" System erlebt oder sich nur Storys hassender ehemaliger DDR Bürger reingezogen? Mit meinen 30 Jahren DDR kann ich Ihnen guten Gewissens sagen, unmenschlich geht anders. Vielleicht schauen Sie mal in ein jetziges "freiheitliches" Obdachlosenheim ... Oder lesen kürzlich veröffentlichte Berichte über aktuelle Misshandlungen in Strafvollzugseinrichtungen. Ganz zu schweigen vom Missbrauch in der katholischen Kirche. Also bitte, es ist so lächerlich...

        • @Uwe Beyer:

          Ja, was soll das jetzt sagen? Der Strafvollzug in der DDR war menschlicher? Der Missbrauch in den Sportkadern nicht vorhanden? Die Ausbeutung bereits sehr junger Menschen für sozialistische Zwecke?



          Naja, man kann tatsächlich etwas kritisieren, ohne die Gegenseite als Ideal zu bezeichnen.

      • @Strolch:

        > Wenn den Artikel also eine Frau (Tochter) statt einem Mann (Sohn) geschrieben hätte, wäre alles ok?

        Natürlich nicht.



        Insofern war "Männer" tatsächlich falsch. Andere haben sich nicht einzumischen (wobei ein miterziehender Vater wohl noch am ehesten etwas dazu sagen könnte).

        Die erhitzte Diskussion hier zeigt wieder, welches Misstrauen und welche Besserwisserei Müttern (und bei anderen Themen auch Vätern) entgegenschlägt.

      • @Strolch:

        Die Antwort steht im Text. Ein dem Stillen feindliches Umfeld und System ist nicht hilfreich. Väter können nicht Stillen, aber sie können viel zur Unterstützung und Ermöglichung beitragen.